Stille Wasser

  • Diogenes
  • Erschienen: Januar 2017
  • 7
  • Zürich: Diogenes, 2017, Seiten: 7, Übersetzt: Joachim Schönfeld
Stille Wasser
Stille Wasser
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Almut Oetjen
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2017

Commissario Guido Brunetti befragt einen arroganten Mann aus einer einflussreichen Juristenfamilie, der einem jungen Mädchen Pillen gegeben haben soll, nach deren Einnahme sie starb. Dabei reagiert er unüberlegt und gerät in eine heikle Lage, die ihn erkennen lässt, dass er seine bedrückende Arbeit nicht länger ertragen kann. Er wird zwei Wochen krankgeschrieben.

Seine Frau Paola schickt ihn in die Villa einer alten Tante auf SantErasmo, der größten Insel in der Lagune Venedigs, benannt nach dem Bischof und Märtyrer Erasmus von Antiochia. Dort will er die Tage mit Rudern und die Abende unter anderem mit der Naturgeschichte von Plinius verbringen.

Der alte Verwalter Davide Casati, ein Freund seines verstorbenen Vaters, nimmt ihn mit in seinem puparìn. Mit der kleinen Gondel rudern sie jeden Tag durch die Lagune, zu Davides Bienenstöcken, die er auf einigen der barene aufgestellt hat, oder zur Nachbarinsel Burano, wo Davide eine Stamm-Bar und Freunde hat. Davides Tochter Federica kümmert sich um das Essen. Jeden Abend telefoniert Brunetti mit Paola.

Eines Morgens wird Davide nach einem schweren Unwetter vermisst. Niemand weiß, wo er ist, weder Federica und ihr Mann Massimo, die mit Davide das Gärtnerhaus bewohnen, noch seine Freunde auf Burano.

Zusammen mit Capitano Dantone von der Capitaneria di Porto sucht Brunetti die Lagune ab. Der Hinweis eines Mannes führt sie zur Friedhofsinsel San Michele, wo sie das gekenterte puparìn finden und darunter Davides Leiche. Anscheinend wurde Davide von dem plötzlich aufkommenden Sturm überrascht, verlor das Gleichgewicht und stürzte über Bord. Es könnte auch Suizid gewesen sein. Davide quälten Schuldgefühle wegen des Todes seiner Frau und große Sorgen wegen des Sterbens seiner Bienen.

Brunetti in der Krise

"Stille Wasser" (im Original: "Earthly Remains") ist Donna Leons 26. Roman um Commissario Guido Brunetti aus Venedig. Zuverlässig veröffentlicht sie jedes Jahr einen Brunetti, immer mit unterschiedlichen Themen. Nun ist der Commissario selbst das Thema, jedenfalls zunächst. Seine Arbeit, seine alltägliche Konfrontation mit Mord, Vergewaltigung, Brandstiftung, Gewalt, haben ihn buchstäblich krankgemacht. Dazu muss er die schlimmste Juli-Hitze seit Beginn der Wetteraufzeichnungen und den insektenartigen Einfall der Touristen ertragen. Seine Erkenntnis, dass er die Arbeit nicht länger aushält, überrascht ihn selbst. Er möchte weglaufen, nicht vor Paola und den Kindern, aber vor dem ganzen Rest. Er hat zu viel Chaos beobachtet und die Folgen von Gewalt, die so nah unter der Oberfläche menschlichen Verhaltens liegen, zuviele Täter kennengelernt, die ihre Schuld abstreiten, sich im Recht wähnen oder ungeschoren davonkommen aufgrund von Geld, Macht oder eines bedeutenden Namens.

Der Roman beginnt mit einer kleinen Episode, die in einer nutshell Brunettis berufliche Krise umreißt. Sie konfrontiert ihn mit einem Verdächtigen, der sich elegant aus der Affäre zu reden versucht und zudem abfällig über das Opfer spricht.

Dieser hässliche Fall ist ironischerweise nur der Vorbote eines noch weitaus hässlicheren. Der beginnt ganz harmlos, doch als Brunetti im trüben Wasser der Lagune zu wühlen beginnt, entwickelt sie eine ungeahnte Dynamik und enthüllt ein Verbrechen mit furchtbaren Folgen.

Brunetti steckt in einer beruflichen Krise, derer er sich anfangs gar nicht bewusst ist. Zuerst macht sie sich als unbestimmtes Gefühl bemerkbar. Daraus resultiert eine spontane, ihm selbst unverständliche Reaktion. Im Gespräch mit der Krankenhausärztin und Paola führt die Verbalisierung zur Rationalisierung. Donna Leon ziseliert diesen Prozess der Selbsterkenntnis fein säuberlich bis ins kleinste Detail, so dass er für den Leser beinahe spürbar nachvollziehbar wird.

Auch im Weiteren zeigt sich Leon als präzise Beobachterin und Erzählerin. Deutlich wird, dass zwischen SantErasmo und Venedig nicht nur ein paar Kilometer, sondern Welten liegen. Ein größerer Kontrast zwischen den Orten und den Lebensweisen ihrer Bewohner ist kaum vorstellbar. Leon entfaltet ein eindrucksvolles Tableau des stillen Lebens auf der kleinen Insel und in der Lagune, mit Beschreibungen von Fauna und Flora, Ebbe und Flut, den Geräuschen, Gerüchen, Farben.

Davides Tod markiert die Mitte des Romans und bricht so plötzlich und gewaltig über Brunetti herein wie das Unwetter. Danach kehrt Brunetti in sein altes Fahrwasser zurück, zur Questura und zu alten polizeilichen Routinen. Davides Tod ist zwar selbst für ihn unverdächtig, und es gibt also keinen Grund für Aktivitäten. Doch der Humanist Brunetti will den Tod des Mannes verstehen, mit dem er fast zwei Wochen verbracht hat, den er als anständigen, ehrlichen Menschen kennengelernt hat und dessen Tod ihn schmerzt. Unfall oder Suizid? - so lautet seine Frage.

Mit dem üblichen rhetorischen Geschick und psychologischen Gespür appelliert er an Pattas Eitelkeit und erwirkt, dem Todesfall offiziell nachgehen zu dürfen. So kann er die Ressourcen der Questura einsetzen sowie Vianello, Signorina Elettra und Griffoni einspannen. Er will hören, was die Leute über Davide erzählen, die Frau auf Burano finden, die Davide heimlich besucht hat, und er will wissen, wohin Davide die Proben geschickt hat, die er von den toten Bienen und dem Boden genommen hat. Zugute kommen ihm nun seine Aufmerksamkeit und gute Beobachtungsgabe. Er erinnert sich an Bemerkungen und Aktivitäten von Davide, die er nicht verstanden hat und seltsam fand, an Beobachtungen in der Lagune, derer er sich erinnert und die nun den Hintergrund von Davides Tod zu beleuchten helfen.

Die Recherchen führen nach Burano und Mira, zu zwei mysteriösen alten Männern, schließlich zu der Erkenntnis, dass mehr hinter Davides Tod, dem seiner Frau und der Bienen steckt, als ursprünglich angenommen.

Die Darstellung des Familienlebens, der gemeinsamen Mahlzeiten und Unternehmungen in Venedig, nimmt weniger Raum ein als sonst und tritt stark in den Hintergrund. Über Raffi erfahren wir, dass er eine neue Leidenschaft entdeckt hat. Paola spielt allerdings eine wichtige Rolle als Weichenstellerin für Brunettis Reise im weiteren Sinne.

Fazit

Donna Leons 26. Brunetti ist ein vielschichtiger, tiefgründiger Roman mit düsterer Atmosphäre, in dem der Commissario eine berufliche Krise erlebt und ein furchtbares Geheimnis aufdeckt, das mehr als zwanzig Jahre zurückliegt und dessen tödliche Folgen lange nachwirken werden.

Stille Wasser

Donna Leon, Diogenes

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