Der Ermittler

  • Blanvalet
  • Erschienen: November 2019
  • 6

Originalausgabe erschienen unter dem Titel „Night School“
- London : Bantam Books 2016
- München : Blanvalet Verlag 2019. Übersetzung: Wulf Bergner. ISBN-13: 978-3-7645-0716-9. 413 Seiten
- München : Blanvalet Verlag 2019 [eBook]. Übersetzung: Wulf Bergner.ISBN-13: 978-3-6412-5245-8. 1,34 MB [ePUB]

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Michael Drewniok
65°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2019

Das heiße Erbe des Kalten Kriegs

1996 ist Major Jack Reacher ein Militärpolizist, den sein Dienst dorthin führt, wo die USA als selbsternannte Weltpolizei offen oder verdeckt, also mörderisch, lokale Geschicke nach ihren Vorstellungen lenkt. Nach einem diesbezüglich erfolgreichen Einsatz im europäischen Balkan soll Reacher an einer Fortbildung teilnehmen - ein Täuschungsmanöver, denn tatsächlich wird ihm zusammen mit Kollegen vom FBI und  von der CIA ein heikler Auftrag übertragen.

Seit einiger Zeit beobachten die US-Geheimdienste besorgt die Aktivitäten gut vernetzter Terroristen aus dem Nahen Osten. Ein Maulwurf berichtet von einer islamistischen Zelle, die sich in der deutschen Hafenstadt Hamburg eingenistet hat, um dort auf Anweisungen zu warten. Involviert ist ein amerikanischer Verräter, der den Terroristen eine Dienstleistung angeboten hat, für die er ein Honorar von 100 Millionen Dollar fordert - und erhalten soll.

Was könnte so viel Geld wert sein? Steht ein monströser Anschlag bevor? Soll das noch nicht voll entwickelte, aber zunehmend wichtiger werdende Medium „Internet“ sabotiert werden? Die Terroristen haben sich gut abgeschottet. Bis bekannt ist, was sie planen, dürfen sie auf keinen Fall Verdacht schöpfen, dass man ihnen bereits auf der Fährte ist. Die Ermittlungen gestalten sich erwartungsgemäß schwierig.

Während Spezialisten der US-Regierung von einer Cyberattacke ausgehen, denkt und handelt Reacher pragmatisch. Zusammen mit Kollegin Sergeant Frances Neagley fliegt er nach Hamburg und beginnt vor Ort zu fahnden. Umgehend sorgt er für Verwicklungen, indem er die deutsche Polizei instrumentalisiert, statt die für die USA möglicherweise peinliche Ermittlung geheim zu halten. Doch der Erfolg ist auf Reachers Seite - und das nur gut so: Als endlich feststeht, worum es eigentlich geht, ist Eile geboten, um eine katastrophale Kettenreaktion zu verhindern, die einen globalen Krieg auslösen könnte …

Der neue, unsichtbare, erbarmungslose Feind

Sein 21. Fall führt Jack Reacher einmal mehr zurück in seine turbulente Vergangenheit. Bevor ihn sein undankbarer Dienstherr in den Ruhestand schickte, galt er nicht nur als zielorientierter und unkonventioneller Ermittler, sondern war sich auch für Drecksarbeit nicht zu schade. Bevor unsere Geschichte startet, richtet Reacher undercover zwei Schurkenstaat-Unholde hin, die aus US-Sicht den Tod verdienten.

Der internationale Terrorismus hat sein böses Meisterstück - die Zerstörung des World Trade Centers - noch nicht abgeliefert, erhebt aber zunehmend sein hässliches Haupt. „Der Ermittler“ klammert Nine-Eleven aus, schildert jedoch den Weg dorthin, wobei Verfasser Child in der für zumindest für US-Leser weiterhin offenen Wunde nicht herumstochert, sondern eine versöhnliche Alternativ-Historie präsentiert: Dieses Mal können die Mächte des Guten, also  die USA, den bösen „Towelheads“ in die Suppe spucken und ihre finsteren Pläne nicht nur durchkreuzen, sondern sie zusätzlich demütigen, was aus US-Sicht unbedingt zur Strafe gehört, hier aber hauptsächlich eine wütende Hilflosigkeit angesichts des standfesten Global-Terrors belegt.

Man merkt angesichts des gewählten Themas deutlicher als sonst, dass Child für ein eher konservatives Publikum schreibt. Gewalt ist für Reacher ein legitimes Instrument, das er verführerisch überzeugend einsetzt, um Unrecht zwar aufzuklären, aber vor allem zu verhindern sowie ohne Umwege über eine Justiz, die bekanntlich viel zu lasch ist, zu bestrafen. Als Bonus vermöbelt er dieses Mal diverse deutsche Neo-Nazis, was ebenfalls nicht ausreicht, um deren Machenschaften ein Ende zu bereiten. Doch Child erfüllt die Träume jener, die sich die Welt unkomplizierter wünschen, und Reacher ist ihr Erfüllungsgehilfe.

Deutschland ist anders, also verdächtig

Obwohl die Drahtzieher in einer heißen Wüstenei hocken, wo sie ihre Mordpläne aushecken, spielt sich das Geschehen hauptsächlich (und ausgerechnet) in Deutschland ab. Das stellt zumindest diejenigen Leser, die sich in diesem Land auskennen, vor Probleme. Liegt Child falsch, wenn er fremde Länder und Leute schildert, bleiben Irrtümer, Fehler oder Verzerrungen in der Regel irrelevant: Wir Leser wissen es nicht besser, und für den Erzählfluss ist Akkuratesse von sekundärer Bedeutung, die Spannung steht im Vordergrund.

Doch hier müssen wir würgen, wenn Child uns Klöpse serviert, die wir so einfach nicht schlucken können. Aus trivialkultureller Sicht ist Deutschland vor allem im angelsächsischen Kulturraum weiterhin ein Hort neo-nationalsozialistischer Umtriebe. Child versimpelt das Aufflammen entsprechender Tendenzen in Ostdeutschland nach der Wende als ungebrochene Fortsetzung einer seit 1945 aktiven Bewegung, die in der Gründung eines Vierten Reiches gipfeln soll. Das ist so plump und fern der Realität, dass es zum Lachen reizt, während Child Schrecken erregen will.

Überhaupt nutzt der Verfasser gern einschlägige Vorurteile. In Deutschland sind die Straßen sauber, die Telefonzellen funktionieren, und Staatsdiener arbeiten korrekt und nach Vorschrift. Steht ein Engländer/Amerikaner vor ihnen, denkt jeder Deutsche umgehend an den Zweiten Weltkrieg und dessen Verlust, den Reacher mehrfach voller Vergnügen jenen Alt- und Neu-Nazis unter die Nasen reibt, die zahlenstark Politik, Justiz und Wirtschaft unterwandert haben und auf den Tag X einer neuen ‚Machtübernahme‘ warten. Hinzu kommen echte Ofenschüsse. So stellt uns Child das Hamburger St.-Pauli-Viertel vor, wie es sich der erregte Angelsachse vorstellen mag: als Ausgeburt der Hölle, in der jede sexuelle Perversion an der Tagesordnung ist.

Ein Amerikaner in Hamburg

Immerhin gelingen Child auch hübsche, gallige Kommentare, die sich enger an der Realität orientieren. Die deutsche Nachkriegsgeschichte fasst er griffig so zusammen: „Die Deutschen glaubten, sie hätten ein Land zurückbekommen; die Amerikaner glaubten, sie hätten einen riesigen Militärstützpunkt mit Servicepersonal gekauft.“ Das bedingt eine Ermittlung, die sich oft selbst sabotiert, weil die deutsche Polizei und erst recht der Bundesnachrichtendienst nicht merken sollen, dass in Hamburg eine US-amerikanische Terroristenjagd stattfindet.

Die stellt Child in klassischer Thriller-Manier dar. Er stützt sich offenkundig auf Fakten, die nach der Nine-Eleven-Katastrophe aufgedeckt wurden. Tatsächlich hielten sich einige Täter in Deutschland auf, wo sie auf ihre ‚Einsatzbefehle‘ warteten. Dies hat Child für sein Garn übernommen und lässt es schlüssig einfließen. Hollywood lieferte den zentralen Plot. Hier fällt dem Leser vor allem der Thriller „The Peacemaker“ ein, der die Handlung in groben, aber deutlichen Zügen vorgibt. Man sollte also keine Anforderungen an die Plausibilität des geplanten Verbrechens stellen. Child geht es darum, spannend Angst zu schüren. In diesem Umfeld ist die von ihm kreierte Lösung nicht originell, aber sie erfüllt ihren Zweck.

Fazit:

„Der Ermittler“ gehört nicht zu den Höhepunkten der inzwischen womöglich doch zu lang laufenden und mehr auf Routine als auf Überraschung setzenden Reacher-Serie. Als solider B-Thriller bietet „Der Ermittler“ trotzdem solide Unterhaltung, in die sich dieses Mal viel unfreiwilliger Humor mischt, der wie üblich durch die Child-typische, einmal pro Roman obligatorische und himmelschreiend komische Sex-Szene auf die Spitze getrieben wird.

Der Ermittler

Lee Child, Blanvalet

Der Ermittler

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