Wer dem Tode geweiht

  • Random House Audio
  • Erschienen: Januar 2010
  • 39
  • Köln: Random House Audio, 2010, Seiten: 8, Übersetzt: Sabine Postel
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Jürgen Priester
62°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2010

Inspector Lynley und die Neue – nichts Neues

Fast schon traditionell beschert "die große Meisterin der britischen Kriminalliteratur" (Verlagswerbung) in der Vorweihnachtszeit ihre Fangemeinde mit einer neuen Folge aus der allseits beliebten Inspector-Lynley-Reihe. Wer dem Tode geweiht, die nun 16. Folge in Serie, eroberte schon allein aufgrund der Vorbestellungen wieder Spitzenplätze in den Bestsellerlisten. Wohl dem, der so treue Fans hat, zumal gerade ihre letzten beiden Romane nicht unbedingt überzeugen konnten. Das Problem, über die Jahre immer mit dem selben Personal arbeiten zu müssen, teilt Elizabeth George mit namhaften Kolleginnen wie z.B. Patricia Cornwell oder Tess Gerritsen. Weder den beiden Genannten noch George gelingt es, zugleich konservativ und innovativ zu sein – eine scheinbar widersprüchliche Anforderung, die aber von der Leserschaft gefordert wird. Den Rahmen des reinen Kriminalromans hat Elizabeth George bei ständig steigender Seitenzahl (mittlerweile ist sie schon bei 827 Seiten) schon lange verlassen. Wenn man aber den Status einer Millionensellerin erreicht hat, kann man schließlich schreiben, was und wie viel man will. Sehr zum Missfallen der Krimiliebhaber, die es gerne etwas kürzer und prägnanter hätten. All die amüsanten Anekdötchen über den englischen Alltag, die kauzigen Personen, die malerischen Orte mit den gepflegten Gärtchen, Pubs und Inns, und hier und da ein Nebel umwallter Friedhof - das ist England, so wie wir es uns als Ausländer wünschen und wie es die Amerikanerin Elizabeth George bei ihren ein- bis zweiwöchigen Rechercheaufenthalten extrahiert. "Merry Old England" ist ein nostalgisches Bühnenbild, in das man wunderbar eintauchen kann, das aber mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hat und die Personen, die George beschreibt, bleiben dementsprechend unwirklich. Umso überraschter ist man dann von Georges Einstieg.

Anfänge

Elizabeth Georges Roman beginnt mit einem fiktiven Text, der bewusst in der Sprache eines sozialpsychologischen Gutachtens verfasst ist, über ein Verbrechen, das drei um die zehn Jahre alte männliche Kinder an einem zweieinhalb jährigen Jungen verüben. Dem hier geschilderten Verbrechen liegt wohl ein realer Fall aus den 1990er Jahren in England zugrunde. Die drei Jungen, aus zerrütteten Familienverhältnissen stammend, entführten, misshandelten und töteten ihr wehrloses Opfer. Die Tat an sich ist schon schockierend genug, wird aber durch den nüchternen, analytischen Charakter der Erzählweise potenziert. Immer wieder in die vergleichsweise seichte Lynley-Story eingewoben, wirkt dieser Bericht wie ein Fremdkörper, als wenn es in der Druckerei zu einer versehentlicher Vermischung zweier völlig fremdartiger Manuskripte gekommen wäre. Natürlich gibt es am Ende eine Verbindung. Man stellt sich aber schon die Frage, warum Elizabeth George einen derartigen Aufwand betrieben hat. Defizite in der englischen Jugendstrafprozessordnung aufzudecken, ist ein lobenswerter Akt, aber sollte man nicht als Amerikanerin, in deren Heimatstaat Washington auf Mord immer noch die Todesstrafe steht, nicht besser erstmal vor der eigenen Haustüre kehren? Die Relevanz der einen Geschichte für die andere ist marginal. Die Lynley-Story hätte auch so funktioniert, wahrscheinlich sogar besser, denn die Vermischung der beiden bringt George am Ende in Erklärungsnot.

Lynley ist zurück

Aber nicht sofort. Denn es gibt noch ein Vorspiel, das einen Monat vor der eigentlichen Handlung spielt, in dem die kurvenreiche Gina Dickens sich den schüchternen Dachdecker Gordon Jossie angelt. Eine kleine Episode, die natürlich im weiteren Verlauf von Bedeutung sein wird.

Aber jetzt! Großes Stühlerücken im Morddezernat der Metropolitan Police in London. Ein Nachfolger für Malcolm Webberly muss gefunden werden. Detective Inspector Thomas Lynley, der designierte Kronprinz, steht nicht zur Verfügung. So fällt die Wahl auf DI Isabelle Ardery, die den Posten des Super Intendent vorerst auf Probe übernehmen soll..Ihre Berufung ist bei den Kollegen nicht unumstritten, was diese sie auch deutlich spüren lassen. Schon bei ihrem ersten Fall gerät Ardery mächtig ins Schleudern, denn ihr mangelndes Fingerspitzengefühl bei der Personalführung und ihre Unerfahrenheit bei Morddelikten verstärken die Aversionen der Untergebenen. Die sensible Chefin, die die Rolle der Macherin mehr spielt als verkörpert, steht unter Druck, den sie mit ihrem bewährten Mittel, dem Alkohol, zu kompensieren erhofft. Klugerweise bittet sie auch Thomas Lynley um seine Unterstützung. Lynley, der sich seit dem Tod seiner Frau Helen vom Dezernat zurückgezogen hatte, ist geneigt, die ersten Schritte in Richtung seiner alten Profession zu wagen. Auf dem Abney Park Cemetery, einem alten offengelassenen Friedhof, im Londoner Stadtteil Newington wurde die Leiche einer jungen Frau aufgefunden, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Augenfarben als Jemima Hastings identifiziert werden konnte. Augenzeugenberichte, Indizien und eine akribische Recherche im privaten und beruflichen Umfeld der Ermordeten führen zu einer Reihe Tatverdächtiger. Unter ihnen auch der psychisch-kranke Bruder eines weltberühmten japanischen Cellisten, so dass das Interesse der Massenmedien geweckt. Während Isabelle Ardery von einer Täterschaft des Japaners überzeugt ist, gehen Lynley - recht zögerlich – und Barbara Havers – wie immer forsch voran – andere Wege. Eine Spur führt in den New Forest, dem südlichsten Teil der Grafschaft Hampshire, in dem die ermordete Jemima Hastings aufgewachsen ist und bis vor nicht allzu langer Zeit mit dem eingangs erwähnten Dachdecker Gordon Jossie liiert war. Hier in der ländlichen Idylle haben zwei Amateure, Jemimas Bruder Robert und ihre beste Freundin Meredith, auf eigene Faust Ermittlungen aufgenommen.und sind auf sehr fadenscheinige Identitäten gestoßen. Barbara Havers nimmt die Informationen der beiden Laien auf. Im Zusammenspiel mit Lynley, der in London die Fäden in der Hand hält, kann das bewährte Team die Identität des Mörders Stück für Stück aufdecken.

Die Neue

Während sich die Zusammenarbeit zwischen Havers und Lynley schnell wieder auf dem vertrauensvollen Level von damals einstellt, als wenn Lynley gar nicht weg gewesen, beäugen die beiden ihre neue Chefin eher distanziert. Lynley, der enger mit Isabelle Ardery zusammenarbeiten muss, entgehen natürlich nicht deren Fehleinschätzungen, Unsicherheit und heimlicher Alkoholkonsum im Dienst. Mit einer schwer nachvollziehbaren Toleranz begegnet er den Schwächen dieser Frau, die weder ihr Privatleben im Griff hat, noch in ihrer neuen Rolle als Dezernatschefin Führungsqualitäten beweisen kann. Isabelle Ardery ist geschieden, und das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder liegt bei ihrem Ex-Mann, was ihr ganz recht zu sein scheint, denn große Mutterliebe ist nicht an ihr zu entdecken. Aber mehr ist es wohl die Gleichgültigkeit einer fortgeschrittenen Alkoholikerin. Wer den Tag gerne mit einem Irish Coffee beginnt und für das Durchstehen des Tages oder gegen das Zittern der Finger diverse Fläschchen Wodka braucht, befindet sich in einem gefährlichen Stadium der Abhängigkeit. Alkoholkonsum im Kriminalroman gilt ja eher als ein Kavaliersdelikt. Gerade in den angelsächsischen Romanen wird gern und viel getrunken. Da es fast ausschließlich Männer sind, die das tun, wird es auch nicht weiter thematisiert, als fast normal akzeptiert. Hier nun bittet eine kranke Frau unterschwellig um Hilfe und Lynley, der doch anscheinend etwas für diese Frau empfindet, reagiert ziemlich ignorant, was ihn aber nicht davon abhält, zu ihr ins Bett zu steigen. Als Leser bekommt man schon Mitleid mit einer Person, die man eigentlich nicht besonders sympathisch findet. Elizabeth George hat sich immer schwer getan in der Zeichnung ihres weiblichen Personals.Ob nun bei Deborah St.James oder Helen Clyde - um nur die Hauptpersonen zu nennen – die Darstellung einer inneren Zerrissenheit, die schwankt zwischen Hysterie und Empathie, gelingt George meist nur oberflächlich. Am glaubwürdigsten erscheint noch Barbara Havers, die aber seit ihrem ersten Auftritt keinerlei Entwicklung durchgemacht hat. Man könnte bei ihr von Charakterfestigkeit sprechen, wenn sie nicht so unzufrieden mit ihrer Situation wäre. Die "Neue" ist ein Helen-Clyde-Ersatz, ob sie es auch für Thomas Lynley wird, sehen wir dann in der nächsten Folge.

Elizabeth George ist nicht zurück

Die Autorin beweist einmal mehr, dass sie eine großartige Erzählerin ist, die ganz charmant von "ihrem" England zu plaudern weiß. Man hat den Eindruck, dass sie während ihrer Recherche alles aufsammelt, was ihr so begegnet, in einen Sack packt und diesen dann über ihren Roman respektive über ihre Leser ausschüttet, ob es nun passt oder nicht. Der Inhalt ihres Füllhorns reicht von den Auftritten einer Wahrsagerin, eines Maskenkünstlers, eines Numismatikers, über einem Besuch im British Museum, der Kunst des Reetdachdeckens, bis hin zu einem seltsamen Blowjob und einem Goldschatz aus der Römerzeit. Ja, Elizabeth George bietet opulente Unterhaltung, nur die Krimistory bleibt frugal wie immer in den letzten Folgen. George hat schon viel versucht, ihre Plots zu variieren, indem sie die Gewichtung der Personen verschob, unterschiedliche Themen ansprach oder die Schauplätze wechselte, aber ihren Krimiplot hat sie mehr und mehr vernachlässigt. In Wer dem Tode geweiht ist er nur mäßig spannend und wenig ausgefeilt. Als Täter kam nun jeder infrage oder auch keiner, weil es am Ende gleichgültig war.

Den echten Lynley/Havers-Fan wird keine Kritik der Welt von einem Kauf des Buches abhalten, denn er oder sie muss ja lesen, wie es mit den Protagonisten weitergeht. Für den Krimifreund ist Elizabeth George schon länger nicht mehr von Relevanz, was sich wieder einmal bestätigt.

Wer dem Tode geweiht

Elizabeth George, Random House Audio

Wer dem Tode geweiht

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