Ein Rest von Schuld

  • Little, Brown
  • Erschienen: Januar 2008
  • 8
  • London: Orion, 2007, Titel: 'Exit Music', Originalsprache
  • New York: Little, Brown, 2008, Originalsprache
  • München: Goldmann, 2010, Seiten: 540
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2008

Schottische Abschiedsvorstellung mit Klasse

Der gefürchtete Tag naht in Riesenschritten: Detective Inspector John Rebus von der Kriminalpolizei im schottischen Edinburgh geht in Rente! Was er im Ruhestand mit sich anfangen soll, ist dem leidenschaftlichen Polizisten ein Rätsel. Mit Leib und Seele klammert er sich deshalb an seinen letzten Fall: In einem Parkhaus wurde der Dichter Alexander Todorow brutal zu Tode geprügelt. Er galt als Dissident und Kritiker des ´neuen´ kapitalistischen Russland, das er vor vielen Jahren verlassen musste.

Der Mord an Todorow gilt als Raubüberfall. Als solchen würde ihn die Polizei gern zu den Akten legen, doch da ist Rebus vor! Mit seiner widerstrebenden Partnerin Siobhan Clarke ermittelt er eifrig in alle möglichen und auch unmöglichen Richtungen. Dabei stößt er auf Sergei Andropow, einen undurchsichtigen ´Geschäftsmann´, der als Mitglied einer russischen Geschäftsdelegation Edinburgh bereist. Als potenter Investor wird er von der Politik und vom Kapital fürstlich empfangen und gebauchpinselt, weshalb Rebus´ Interesse als störend empfunden wird.

Kein Wunder, denn der Inspector entdeckt, dass Todorow und Andropow sich kannten. Darüber hinaus gibt es Verbindungen zwischen Andropow und Morris Gerald "Big Ger" Cafferty, den Unterweltboss von Edinburgh und Rebus´ Erzfeind. Offenbar plant die schottische Mafia im Bund mit den russischen ´Kollegen´ ein gewaltiges Spekulationsgeschäft, an dem sich einige Politiker und Großbanker beteiligen und bereichern wollen.

Bekam Pechvogel Todorow Wind von der Sache und wurde deshalb ausgeschaltet? Erging es einem allzu neugierigen Tonstudiobetreiber ähnlich, der zur nächsten Leiche wird? Die wahre Dimension der Ereignisse stürzt Rebus in tiefe Verwirrung, denn manchmal steckt weniger dahinter, als es aussieht ...

"All good things ..."

Es ist soweit: Der 17. Fall von John Rebus wird sein letzter sein. In Schottland werden Kriminalbeamte mit dem Erreichen des 60. Lebensjahres in den Ruhestand geschickt. Da Ian Rankin Rebus in dessen 40ern erstmals ermitteln und ihn chronologisch korrekt altern ließ, ist diese Altersgrenze erreicht - ein Fehler, wie Rankin kokett zugibt, obschon er vermutlich ganz froh ist der Fron entronnen zu sein, sich auf hohem Niveau neue Kriminalgeschichten um seinen allmählich auserzählten Helden ausdenken zu müssen. Außerdem ist das letzte Wort nicht gesprochen: Das spektakuläre und offene Ende von "Ein Rest von Schuld" verlangt eigentlich eine Fortsetzung.

Doch erst einmal führt uns Rankin in "Ein Rest von Schuld" ein letztes Mal vor, was wir so an Rebus schätzen - sein Talent als Kriminalist ebenso wie seine Respektlosigkeit vor Autoritäten, die sich Anerkennung nicht verdient haben sondern sie wie ein fürstliches Privileg einfordern. Die intensive Fahndung nach dem Mörder eines russischen Dichters, der ebenso unbequem war wie der schottische Polizist, bekommt einen tragischen Unterton durch die Wehmut, die sogar der betont sachliche Rebus nicht unterdrücken kann: "Ein Rest von Schuld" kreist immer wieder um die Frage, was einen Mann ohne echtes Privatleben erwartet, der seinen Job verlieren wird.

"Brave, new, criminal world"

Die Weltuntergangsstimmung spiegelt sich im ´Fall´ und damit in der eigentlichen Handlung wider. Einmal mehr greift Rankin das moderne bzw. ´globalisierte´ Verbrechen auf. Schon vor dem Banken- und Börsencrash von 2008 zeichnete sich eine Verschiebung in den weltwirtschaftlichen Strukturen ab. Während Nordamerika und Europa an Bedeutung verlieren, gewinnen Asien und die ehemals zur Sowjetunion gehörenden Staaten mehr und mehr Einfluss. Sie sind deshalb als Investoren sehr beliebt geworden, wobei die Politiker, Konzerne und Banken des Westens geflissentlich übersehen, aus welchen oft trüben Quellen sich die Vermögen der neuen Herren oft speisen. Der Zweck heiligt angeblich die Mittel, und auch dieses Geld stinkt nicht mehr, wenn es seine in sicherer Entfernung angesiedelten Empfänger erreicht hat.

Gesetze oder gar moralische Grundsätze gelten der Wirtschaftselite als lästige Hindernisse, die im Rahmen der Gewinnmaximierung strategisch eingeplant aber möglichst nicht beachtet werden. Angesichts einer solchen Haltung ist es nur ein Schritt bis zur ´Zusammenarbeit´ zwischen Großkonzernen, Banken und dem organisierten Verbrechen. Rankin verankert diesen Plot an einem realen Vorfall, auf den er im Verlauf der Handlung mehrfach zurückkommt: Im November 2006 wurde Alexander Litwinenko, ein energischer Kritiker der aktuellen russischen Politik und als Ex-Agent intimer Kenner ihrer dubiosen Praktiken, vergiftet. Er starb nach einem dreiwöchigen Todeskampf; Indizien weisen darauf hin, dass sich das Kreml-Regime eines unangenehmen Kritikers entledigt hat. Ob dies zutrifft, bleibt vermutlich ewig ungeklärt, doch Rankin fand hier den Ansatz, den er für seinen Plot benötigte.

Elegant schlägt er den Bogen zum ´heimischen´ Verbrechen. Seit 1999 besitzt Schottland ein eigenes Parlament. Vielen Lokalpatrioten geht dies längst nicht weit genug; sie wollen Schottland von Großbritannien abkoppeln, einen selbstständigen Staat gründen und die Erdöl- und -gasvorkommen in Nordsee und Atlantik allein ausbeuten. In einem unabhängigen Schottland würden die politischen und wirtschaftlichen Karten neu gemischt: Rankin spekuliert, wie das aussehen könnte.

Freilich fährt Rankin seine schweren Geschütze dieses Mal vor allem zur Verwirrung seiner Leser auf. Der Plot ist eine große Täuschung und bietet viel Getöse, das sich im Finale in Nichts auflöst. Das wird entweder als Enttäuschung empfunden oder mit Bewunderung zur Kenntnis genommen, da Rankin ein Schlusstwist gelingt, der das zuvor Geschehene völlig auf den Kopf stellt. Zwar hört man die hoch aufgetürmte Geschichte über ihrem Fundament knirschen, wenn sie abrupt in eine gänzlich neue Richtung gerissen wird. Die Überraschung gelingt immerhin, auch wenn Rankin seinem Publikum gegenüber nicht gerade fair geblieben ist: Mit dieser Auflösung war nicht zu rechnen.

"Keep them doggies rolling ..."

17 Rebus-Romane schrieb Ian Rankin in zwei Jahrzehnten. Sie galten der Kritik bereits in den 1990er Jahren als vorbildliche, d. h. nicht nur eine explizite Sicht auf das Verbrechen in der modernen (urbanen) Gesellschaft vertretende, sondern auch spannend, tragisch und witzig geschriebene (Kriminal-) Romane. Das schürte die Erwartungshaltung, der Rankin spätestens im neuen Jahrtausend nicht mehr mit jedem neuen Band gerecht werden konnte. Die Romane wurden länger, die Plots komplexer und verschlungener, doch die alte Intensität ließen sie vermissen. Rebus wandelte weiter am Rande der Selbstzerstörung, aber wir Leser waren uns zunehmend sicherer, das Rankin ihn nicht fallen lassen würde. Das war in den frühen Bänden erschreckend anders.

Im Vergleich mit (furchtbar) vielen anderen Schriftstellern hielt Rankin als Autor der Rebus-Krimis ein überdurchschnittliches Niveau. Den Abenteuern seiner ebenso realistisch wie liebevoll gezeichneten Figuren folgte man weiterhin gern. So könnte es Rankin noch eine ganze Weile fortsetzen. Er mag nicht mehr und legt zumindest eine Pause ein. Dass er es ernst meint, zeigte er mit "Doors Open" (2008), dem ersten ´Non-Rebus´-Roman seit 1995. Weitere Pläne umfassen einen Kurzroman für die "Quick Read"-Serie sowie Comics oder besser: Graphic Novels.

Schon leiden die Rebus-Fans unter Entzugserscheinungen. In diversen Krimi-Foren wird eifrig über Fortsetzungsszenarien für die Serie diskutiert. Favorisiert wird offenbar eine Variante, die Siobhan Clarke die polizeiliche Hauptrolle übernehmen lässt, während Rebus als nun privater Ratgeber (und Unruhestifter) im Hintergrund wirkt. Dies sind indes reine Wunschvorstellungen, zu denen Rankin sich nur unverbindlich äußert.

Es gilt also tatsächlich Abschied zu nehmen. Nach der Lektüre von "Ein Rest von Schuld" geschieht dies mit der gebührenden Wehmut, in die sich ein wenig Erleichterung mischt: Rebus tritt in Würde ab, bevor er seinen Biss verliert. Das ist so manchem anderen Serienhelden leider nicht gelungen.

Epilog

"Does it really mean we've seen the last of Rebus? I'm still not convinced. There's no way he's going gentle into that dark retirement. And I still like to spend time with him. Maybe one day ..." (Ian Rankin in seinem Newsletter, Ausgabe August 2008)

Ein Rest von Schuld

Ian Rankin, Little, Brown

Ein Rest von Schuld

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