Der talentierte Mörder

  • Blanvalet
  • Erschienen: Januar 2017
  • 4

Originalausgabe erschienen unter dem Titel „The Steel Kiss“

- New York : Grand Central Publishing/Hachette Book Group 2016

- München: Random House Audio, 2017, Seiten: 6, Übersetzt: Dietmar Wunder

- München : Blanvalet Verlag 2017. Übersetzung: Thomas Haufschild. ISBN-13: 978-3-7645-0592-9. 639 S.

-  München : Blanvalet Verlag 2017 [eBook]. Übersetzung: von Thomas Haufschild. ISBN-13: 978-3-6411-8698-2. 1744 KB [ePUB]

- München : Blanvalet Verlag 2019. Übersetzung: Thomas Haufschild. ISBN-13: ISBN-13 : 978-3-7341-0679-8. 639 S.

 

Der talentierte Mörder
Der talentierte Mörder
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2021

 Gewusst wie bzw. mörderisch einfallsreich

Ein Mann wird mit einem Hammer erschlagen, der Mörder gesichtet und verfolgt. Fast hätten ihn Amelia Sachs und ihr Team vom Morddezernat des New York Police Departments ihn in einem Einkaufszentrum gestellt, doch plötzlich springt die Wartungsklappe einer Rolltreppe auf, ein Angestellter stürzt hinein und gerät in das laufende Treppenwerk, das ihn buchstäblich zermalmt. Während Sachs ihn vergeblich zu retten versucht, entkommt der Mörder.

ihr Lebensgefährte, der zwar fast vollständig gelähmte, aber geniale Kriminologe Dr. Lincoln Rhyme stellt fest, dass sich die verhängnisvolle Wartungsklappe keineswegs zufällig geöffnet hat: Sie wurde digital und quasi per Fernsteuerung aktiviert! Der Täter hat sich die schlechte Abschirmung dieser Apparatur zunutze gemacht.

Der Mörder hat sehr wohl bemerkt, wer ihm wie nahe im Nacken sitzt. Er ist kein Gelegenheitstäter, sondern ein lupenreiner Serienkiller, der es liebt, Frustrationen abzubauen, indem er Mitmenschen mit zweckentfremdeten Haushaltsgeräten und Werkzeugen zu Leibe rückt. Von Sachs und Rhyme und damit doppelt in die Zange genommen, setzt der Täter seine beachtlichen handwerklichen Fähigkeiten gegen sie ein …

Hightech ohne echte Absicherung

Nur wenige Jahre konnte sich die Menschheit (minus die üblichen Unken) über und auf eine Zukunft freuen, die technisch sämtliche Grenzen zu sprengen schien. Nicht nur Informationen, sondern auch Befehle sind beinahe global und drahtlos zu übermitteln. Längst gilt es als Selbstverständlichkeit, per Handy die Heizung aufzudrehen, obwohl man sich dem noch kalten Heim erst nähert. Auch Funkschlüssel sind eher die Regel als die Ausnahme; vor allem moderne Automobiltüren lassen sich kaum noch mechanisch öffnen oder schließen.

Freilich dauerte es nicht lange, bis kriminelle Elemente die Möglichkeiten erkannten, die ihnen die schöne, neue Welt bot: Signale lassen sich abfangen, verändern, missbrauchen! Wenn man weiß, wie man dies bewerkstelligt, springen beispielsweise besitzfremde Autotüren problemlos auf.

Ausgerechnet jene, die solche Mechanismen herstellen, ignorieren das Ausmaß der potenziellen Manipulationsgefahr. Autodiebstahl ist lästig, aber man kann nun auch Flugzeuge vom Himmel fallen lassen oder kontinentalweit entfernte Fabrikmaschinen (oder Atomkraftwerke) zur explosiven Fehlfunktion bringen. Entsprechende Abschirmungen hinken der Hightech hinterher, denn diese Lücken zu stopfen ist deutlich weniger lukrativ als den Markt mit neuen Wunderwerken zu bestücken. Das garantiert nicht nur Verbrechern, sondern auch Saboteuren ein erfolgreiches Arbeiten und führt dazu, dass bereits heute „Cyber-Kriege“ geführt werden.

Lebensnotwendig wird lebensgefährlich

Ein gewandter Unterhaltungsschriftsteller wie Jeffery Deaver sah die Möglichkeiten, die solche Szenarien bieten. Er hatte schon in der Frühzeit der globalen Digitalisierung entsprechende Verbrechen konstruiert, die angesichts der rasanten Fortschritte heutzutage rührend naiv wirken, den Kern des Problems jedoch bereits umschrieben: Auch und gerade im digitalen Nirwana ist altmodische Vorsicht geboten!

In der Science Fiction toben die erwähnten Cyber-Kriege galaxienweit, während Deaver etwas denkbar Banales in den Vordergrund rückt: eine scheinbar defekte Rolltreppe, die jedoch sehr gut als Mordinstrument funktioniert, da selbst diese vergleichsweise primitive Maschine heute über digitale Steuerungsmechanismen verfügt, damit angreifbar ist und durchaus eine Gefahrenquelle darstellt. Dies gilt erst recht, wenn man das eigene Verhalten beim Betreten dieser normalerweise zuverlässigen Maschine bedenkt: Man betritt sie gedankenfrei, um sich nach oben oder unten tragen zu lassen. Auf der Hut vor fatalen Fehlfunktionen ist man nicht.

Unter dieser Prämisse eröffnet sich Deaver ein weites Spielfeld. Der Täter beschränkt sich selbstverständlich nicht auf die Rolltreppe. Dass digitale Befehlsempfänger baugleich in zahlreichen Maschinen Verwendung finden, ist eine dramaturgische Vorgabe, die sich der Autor nicht entgehen lässt, weshalb Mikrowellen, Küchenherde oder Automobil-Elektroniken Amok laufen - mit entsprechenden, natürlich liebevoll ausgemalten Folgen.

Die Wende als Programm

Jeffery Deaver hat sich früh für ein erzählerisches Konzept entschieden, das ihn eigentlich in eine Sackgasse führen müsste: Die typische Deaver-Story ist glitschig wie ein Aal. Wenn der Leser meint, sie fest in den Händen zu halten, entwindet sie sich ihm, um einen gänzlich unerwarteten Kurs einzuschlagen. Dies geschieht sogar mehrfach, was die meisten Thriller-Autoren erst recht überfordern würde. Obwohl „Der talentierte Mörder“ bereits der zwölfte Band der Rhyme/Sachs-Serie ist, fällt dem Verfasser weiterhin genug ein, um den erwähnten Aal buchstäblich twisten zu lassen!

Klarheit gibt es bis zur Auflösung nicht. Jede Figur hütet Geheimnisse, die auf Seiten der ‚Guten‘ finsteren Verdacht erregen. Gleichzeitig sind die ‚Bösen‘ womöglich selbst Opfer, während Nebenfiguren plötzlich zu Erzschurken mutieren: Deaver spielt mit Erwartungen, die er selbst trickreich geweckt und gesteuert hat. Meist klappt es, was auch damit zusammenhängt, dass der Verfasser so viele Eisen im Feuer hat, dass sein Publikum manchmal den Überblick verliert: Sieht man einem Trickspieler nicht genau auf die Finger, wird er einen überlisten.

Natürlich kann Deaver nicht jederzeit punkten. Der talentierte Mörder zählt in der deutschen Fassung mehr als 600 Druckseiten. Selbst für einen Thriller auf mehreren Ebenen ist das eine Breite, die auf Kosten der Handlungsstringenz geht. Hier kann Deaver nicht der Versuchung widerstehen, gleich zwei Ereignisstränge anzuflanschen, die mit dem Zentralgeschehen nichts zu tun haben. Er versucht dies zu ‚tarnen‘, indem er prominente Figuren - hier Amelia Sachs sowie den Jung-Cop Pulaski - in private Schwierigkeiten bringt, die ‚nebenbei‘ gelöst werden ‚müssen‘.

Ansonsten alles wie gewohnt = gewünscht

Solche Als-ob-Verwicklungen verdeutlichen ein Problem, vor dem primär die Autoren erfolgreicher Serien stehen: Jede Folge soll Neues und Spannendes bringen, ohne jedoch von der Leserschaft liebgewonnene Fundamente ins Wanken zu bringen. Also darf Deaver zwar Differenzen in der Beziehung Rhyme/Sachs andeuten, ohne diese jedoch ausarten zu lassen: In einer Serie muss es Konstanten geben, was den Verfasser zwingt sich Krisen auszudenken, die sich im Rahmen der Story überwinden lassen. Taktisch geschickt lappen einige offenen Fragen in den nächsten Band über, zu der die Leser ebenfalls greifen sollen. Deshalb bekommt Rhyme eine ‚Praktikantin‘, die ebenfalls im Rollstuhl sitzt, selbstverständlich trotzdem klug sowie bildschön ist und womöglich ihrem Mentor näherkommen und für Konflikte sorgen wird.

Lincoln Rhyme, Amelia Sachs und ihre Mitstreiter verhalten sich rollenkonform. Nur der jeweilige Fall sorgt für Variationen im Bereich des Bekannten = Bewährten. Kein Wunder, dass Deaver sich große Mühe mit dem Plot gibt! Davon kündet auch die lange Liste von Personen, denen der Verfasser seinen Dank ausspricht: Es sind Mitarbeiter, die für ihn recherchieren, wie eine Rolltreppe funktioniert, sich Alltagsgeräte ‚hacken‘ lassen oder die US-amerikanische Justiz Schadensersatzklagen verhandelt. Entsprechende Details - seien sie nun real oder von Deaver auf der Basis seiner Informationen ausgedacht - unterfüttern das Geschehen und sorgen für Plausibilität.

Deaver-Thriller sind Handwerksprodukte. Es geht nicht um literarische Qualität, Tiefsinn oder Originalität, sondern um Lektürespannung, die ein versierter Autor ganz nüchtern erzeugen kann. Nur auf diese Weise ist es möglich, eine auf Wendungsreichtum basierende Serie so lange erfolgreich zu halten. Dass Jeffery Deaver seinen Job beherrscht, hat er mit Der talentierte Mörder abermals unter Beweis gestellt.

P. S.: Wer hätte gedacht, dass Jeffery Deaver über Humor verfügt? Einmal überprüft Ex-Polizist Nick Carelli eine Liste kriminalistisch befragter Personen, die den Namen „Jeffrey Dommer“ enthält: „… bei Mr. Dommer vermutete er, dass der eine schwere Kindheit gehabt haben dürfte. Wer fast genauso hieß wie der Serienmörder Jeffrey Dahmer, war von den anderen Kindern mit Sicherheit gnadenlos gequält worden.“ (S. 444)

Fazit

Der zwölfte Band der Rhyme/Sachs-Serie bietet autorentypisch einen verwickelten bzw. mehrzügigen Plot, der unrealistisch, aber spannend zu einem Fall zusammenfließt: Ungeachtet der eingeschliffenen Serienmechanik ist Deaver als Erzähler handwerklich ebenso erfolgreich wie sein Mörder.

Der talentierte Mörder

Jeffery Deaver, Blanvalet

Der talentierte Mörder

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