Neonregen

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 1991
  • 11
  • New York: Henry Holt, 1987, Titel: 'The Neon Rain', Seiten: 248, Originalsprache
  • Frankfurt am Main; Berlin: Ullstein, 1991, Seiten: 299, Übersetzt: Hans H. Harbort
  • Frankfurt am Main; Berlin: Ullstein, 1992, Seiten: 299
  • : Henry Holt, 0
Neonregen
Neonregen
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Jürgen Priester
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2003

Ein Gefühl für die Straße

Jetzt hat die Warterei ein Ende gefunden. Mitte Juli veröffentlichte der Pendragon-Verlag eine überarbeitete Neuausgabe von Neonregen, dem 1. Band der famosen Dave-Robicheaux-Reihe von James Lee Burke. Die deutsche Erstausgabe erschien schon 1991 bei Ullstein. Dieser Klassiker des Hardboiled-Genres war gut zwei Jahrzehnte vergriffen und für Fans der Reihe waren die Aussichten, eines der wenigen in Antiquariaten oder bei Versteigerungen auftauchenden Exemplare zu ergattern, eher gering und wenn doch, dann konnte es teuer werden. An eine Neuauflage war über die Jahre nicht zu denken, da Übersetzungen ins Deutsche mangels Nachfrage Anfang der 2000er Jahre mit Band 11 eingestellt wurden. Seit Anfang 2015 kümmert sich nun der kleine Verlag aus der Stadt, die es angeblich nicht gibt, um Dave Robicheaux und hat mit Sturm über New Orleans und Mississippi Jam zwei überzeugende Beispiele Burke'scher Fabulierkunst vorgelegt.

"The Neon Rain" von 1987 markierte eine Trendwende in der schriftstellerischen Laufbahn von James Lee Burke. Anfang der 1970er Jahre konnte der Autor seine ersten drei Romane bei Verlagen unterbringen, dann verließ ihn das Glück. Sein vierter Roman wurde sage und schreibe einhundertelfmal von Verlagen abgelehnt. Die ständigen Ablehnungen machten ihm schwer zu schaffen, er drohte in der Alkoholsucht zu versinken. Um seine Familie zu ernähren, arbeitete er in den verschiedensten Berufen. Der Traum einer Schriftsteller-Karriere schien in weiter Ferne gerückt. Burkes Durststrecke dauerte bis in das Jahr 1986, als es seinem neuen Literatur-Agenten gelang, besagten vierten Roman unterzubringen und er von einem Freund, dem Schriftsteller Rick DeMarinis (Kaputt in El Paso) den Tipp erhielt, es doch mal mit einem Krimi zu versuchen. Spontan setzte Burke sich hin und schrieb die ersten Kapitel von "The Neon Rain", die sofort das Interesse mehrerer Verlage weckten. Es war die Geburtsstunde einer der bedeutendsten Romanfiguren der amerikanischen Kriminalliteratur: Dave Robicheaux. Zu Beginn seiner Lebensgeschichte ist er Lieutenant in der Mordkommission des New Orleans Police Department. An sich ist das eine leitende Position, doch Robicheaux hat nie den Kontakt zur Straße verloren.

Während James Lee Burke gegen Ende der 1980er Jahre seine Dave-Robicheaux-Reihe begann, begleitete der amerikanische Journalist, Drehbuchautor und Produzent David Simon (The Wire) ein ganzes Jahr (1988) lang Detectives der Mordkommission Baltimore. Daraus entstand der Tatsachenroman Homicide - ein Jahr auf mörderischen Straßen. In diesem mittlerweile als True Crime-Klassiker zu bezeichnenden Werk beschreibt der Autor das, was einen guten Detective in einer Mordkommission auszeichnet. Neben allen fachlichen Qualifikationen sei es entscheidend, dass der Mordermittler "ein Gefühl für die Straße entwickelt habe". Dieses Gefühl oder Gespür entsteht meistens schon in der Zeit des Streifendienstes, den fast alle Detectives durchlaufen haben. Man lernt die Strukturen und Hierarchien seiner Stadt oder des Stadtteils, in dem man Dienst tut, kennen. Man weiß um die Brennpunkte, die speziellen Lokalitäten und die Personen, die die Geschicke des Reviers bestimmen. Aber es ist wesentlich die Empathie gegenüber den Bewohner der Stadt oder des Viertels, die einen guten Cop ausmacht, was Simon eben als "das Gefühl für die Straße" bezeichnet. Auch Romanfiguren können dieses Gefühl ausstrahlen, wenn es ihre Schöpfer selbst besitzen. James Lee Burke und sein Alter Ego Dave Robicheaux haben es.

Schon in der Eingangsszene von Neonregen wird dies besondere Gefühl deutlich. Dave besucht einen Delinquenten in der Todeszelle, dessen Hinrichtung kurz bevor steht. Er weiß, dass er hier keinen eiskalten Killer vor sich hat, sondern eher eine arme Socke, die einfach nur Pech gehabt hat. Dave möchte ihm ein bisschen Trost spenden und erfährt fast nebenher, dass er selbst auf die Todesliste von kolumbianischen Drogenhändlern gelangt sein soll. Er kann sich keinen Reim darauf machen, in keinem seiner aktuellen Fälle sind Drogenleute involviert. Doch der Delinquent hatte ihm einen Namen genannt. Zusammen mit seinem Kollegen Cletus Purcel sucht er Genannten auf. Sie üben massiven Druck auf den Kleinganoven aus und erfahren nähere Hintergrunde in dieser Causa. Zwei Wochen zuvor war Dave beim Angeln auf die Leiche einer jungen Schwarzen gestoßen. Der zuständige Sheriff wollte den Fall als Unfalltod durch Ertrinken abtun, doch Dave hatte eine Autopsie verlangt. Nun stellt sich heraus, dass die Jugendliche eine Gespielin eines Drogenmannes aus Nicaragua gewesen war und "entsorgt" werden sollte. Hat Dave einmal eine Spur aufgenommen, macht er unbeirrt weiter, auch wenn sich die Leichen am Wegrand häufen. Die Drogenleute aus Mittel- und Südamerika stehen in Verbindung mit US-amerikanischen Behörden. Daves Ermittlungen werden massiv behindert. Waffen mit Drogen bezahlt, eins der dunkelsten Kapitel der CIA (Iran-Contra-Affäre) wird hier in Grundzügen angedeutet. Eine lebensgefährliche Konstellation, der Dave letztendlich nur mit einem Rückzug begegnen kann.

Die Figur Dave Robicheaux ist ein tiefst widersprüchlicher Charakter. Auf der einen Seite quillt er über von Mitgefühl für die Ärmsten der Armen, steht ihnen bedenkenlos in jeder Lage zur Seite. Auf der anderen Seite ist erfüllt von Selbstgerechtigkeit und seine Gewaltbereitschaft ist erschreckend. Als Kriegsteilnehmer in Vietnam sollte er doch die Schrecken der Gewalt zur Genüge erfahren haben. Die Erlebnisse dort scheinen ihn doch traumatisiert zu haben, warum sonst ist er Alkoholiker geworden. Dennoch provoziert er als Gesetzeshüter in einer Zivilgesellschaft unnötig gewalttätige Auseinandersetzungen. Wer versteht das schon? Es ist wohl ein unter US-Amerikanern verbreiteter, aus ihrer Historie entstandener Glaube, dass Probleme mit Waffengewalt gelöst werden können. Man schaue sich nur ihre globale Interventionspolitik an und das, was in ihrem Land an Gewaltakten tagtäglich stattfindet.

Neonregen ist der harte Auftakt einer Krimi-Serie, die die US-amerikanische Wirklichkeit spiegelt wie keine zweite. Zwanzig Romane hat James Lee Burke bis dato geschrieben, die in ihrer Qualität ihresgleichen suchen. Selbst im Bewusstsein, dass Figuren und Handlungen im Großen und Ganzen fiktiv sind, erzeugen Burkes realitätsnahen Darstellungen beim Leser eine kritische Nachdenklichkeit über einen Staat, der sich anmaßt, "God's Own Country" zu sein, aber in Wirklichkeit ein waffenstarrendes Monster ist.

Neonregen

James Lee Burke, Ullstein

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