Das Dorf der verschwundenen Kinder

  • Europa
  • Erschienen: Januar 2000
  • 37
  • London: HarperCollins, 1988, Titel: 'On Beulah Height', Seiten: 514, Originalsprache
  • Hamburg; Wien: Europa, 2000, Seiten: 541, Übersetzt: Annette Hahn
  • Augsburg: Weltbild, 2002, Seiten: 541
  • München: Droemer Knaur, 2005, Seiten: 635
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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2003

Spannend, gehaltvoll, lebendig - ein Meisterwerk!

Dendales in der englischen Grafschaft Yorkshire, Sommer 1982: Der kleine Ort, mehr eine Ansammlung einiger Bauernhöfe als ein ´richtiges´ Dorf, steht kurz vor seinem Ende. Genau in diesem abgelegenen Tal lässt die Regierung einen Staudamm errichten; in dem entstehenden See wird Dendales untergehen. Die Einwohner haben sich lange gegen diesen Plan gewehrt, mussten sich aber letztlich geschlagen geben. Ihr Unmut wird jedoch nebensächlich, als in kurzem Abstand drei junge Mädchen spurlos verschwinden und ein viertes angegriffen wird. Angst und Misstrauen kommen auf, die sich zu Panik und offenem Zorn entwickeln, als es der Polizei trotz intensiver Bemühungen nicht gelingt, die Kinder zu finden.

In den Augen der Dorfbevölkerung ist der Schuldige bald gefunden: Benny Lightfoot, ein eigenbrötlerischer, wunderlicher junger Mann, der sich abseits der Gemeinschaft hält. Die Polizei vernimmt ihn, kann ihm aber nichts nachweisen. Wieder in Freiheit, setzt Benny sich ab. Niemand hat ihn seither gesehen.

Das Dorf wird geflutet - und gerät in Vergessenheit

Dendales wird wie geplant geflutet. Die Einwohner ziehen in den Nachbarort Danby. Langsam gerät die Tragödie in Vergessenheit - scheinbar.

Fünfzehn Jahre später: Unvermittelt geschieht es erneut - in Danby verschwindet ein kleines Mädchen - die Tochter eines jener Mädchen, die 1982 selbst in Gefahr waren. Detective Superintendent Andrew Dalziel und Chief Inspector Peter Pascoe von der Mid-Yorkshire-Kriminalpolizei werden mit den Ermittlungen betraut. Dalziel widmet sich seiner Aufgabe mit besonderem Eifer. Er war es gewesen, der sich einst in Dendales bemüht hatte, die Kinder zu finden. Sein Scheitern beschäftigt und bedrückt ihn bis zum heutigen Tag.

Auch die ehemaligen Einwohner von Dendales haben ihn nicht vergessen und begegnen ihm und den übrigen Polizisten feindselig. Die Untersuchung gestaltet sich daher mühselig, zumal es wenig echte Spuren gibt. Kurz keimt Hoffnung auf, als sich ein Verdächtiger findet, doch dieser kann rasch seine Unschuld beweisen.

Auf der Suche nach der großen Entschädigung

Plötzlich will eine Frau aus Dendales Benny Lightfoot gesehen haben. Als es gelingt, den Verdächtigen zu fassen, entpuppt er sich als dessen Bruder, der nach einer großen Geldsumme sucht, die seiner Großmutter einst als Entschädigung für den überfluteten Hof in Dendales ausgezahlt worden war.

Durch einen Zufall findet Sergeant Wield die Leiche des verschwundenen Mädchens. Nun lässt Superintendent Dalziel im Dendales-Tal noch einmal jeden Stein umdrehen und auch den Stausee durchsuchen. Nach einer langen Dürre-Periode ist der Wasserstand so stark gefallen, dass man die Fundamente der vor fünfzehn Jahren nieder gerissenen Höfe trockenen Fusses erreichen kann. Womit niemand gerechnet hat: In einem Kellergewölbe entdeckt man das Skelett von Benny Lightfoot - jämmerlich ertrunken, nachdem man ihn an die Wand gekettet hatte!

Der Mörder blieb also bisher unentdeckt - und er muss sich unter den Bürgern von Dendale verbergen...

Welcome back, Peter Pascoe und Andrew Dalziel!

Da sind sie also wieder - endlich, möchte man ausrufen: der sensible, liberale Chief Inspector Peter Pascoe und sein genialer, aber anstrengender Chef, Detective Superintendent Andrew Dalziel. Bereits zum 16. Mal setzt sie Reginald Hill, ihr geistiger Vater, gemeinsam auf einen verzwickten Kriminalfall an.

Mehr als zehn Jahre hatte man von dem Duo in Deutschland nichts mehr gehört. Die Dalziel/Pascoe-Serie war vom renommierten Goldmann-Verlag begonnen, aber Ende der 80er Jahre recht unvermittelt abgebrochen worden. An der Qualität kann es nicht gelegen haben. Dem Europa Verlag ist es zu verdanken, dass man sich von der ungebrochenen Schaffenskraft des fleissigen Autors (seit 1970 veröffentlichte Hill mehr als dreissig Romane!) überzeugen kann.

Eigentümliche Mischung aus Tragödie und Komödie

Hills Dalziel/Pascoe-Romane stechen durch ihre eigentümliche Mischung aus Tragödie und Komödie hervor. Im vorliegenden Abenteuer geht es um einige der schlimmsten Verbrechen überhaupt - Kindesentführung, Missbrauch und Mord. Die lebenslangen Folgen, die derartige Erfahrungen für die Familie der Opfer, die Freunde, die Bekannten, die Mitbürger, die Arbeitskollegen und auch die Polizei hat, werden von Hill gekonnt und eindringlich beschrieben.

Für die humorvollen Einlagen sorgen Hills trockene Sarkasmen, die immer dann ihre grösste Intensität erreichen, wenn Andrew Dalziel die Szene betritt. Während Hill sich ansonsten bemüht, seine Figuren möglichst lebensecht zu schildern, bewegt er sich mit Dalziel hart an der Grenze zur Karikatur. Seltsamerweise entsteht dadurch kein Bruch; auch im vorliegenden Roman wird der eigentlich recht düstere Tenor der Handlung durch Dalziels unorthodoxes Verhalten konterkariert und ein wenig aufgehellt.

Harte Schale, weicher Kern

Dalziel ist dabei - und auch das ist ein Indiz für das schriftstellerische Talent Reginald Hills - aber kein polternd-kauziger Falstaff, sondern kann auf seine ganz besondere Art einfühlsam und rücksichtsvoll sein. Hill macht deutlich, dass man es hier mit dem buchstäblichen Herz aus Gold unter einer rauen Schale zu tun hat. So bangt er mit Pascoe und seiner Frau um deren schwer erkrankte Tochter - und um seine "Ersatz-Familie". Ebenso hält er seine schützende Hand über Sergeant Wield, dessen Homosexualität ihn bei seinen wenig toleranten Vorgesetzten ansonsten karrieremässig längst auf ein Abstellgleis gebracht hätte.

Der eigentliche Kriminalfall rückt immer wieder in den Hintergrund der Handlung. Das liegt durchaus in der Absicht des Autors; Reginald Hill weist in Interviews immer wieder darauf hin, dass er die Dalziel/Pascoe-Abenteuer seit einigen Jahren als Vehikel einsetzt, um seine Meinung über bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen und Missstände kundzutun. Sein besonderes Augenmerk richtet er dabei nicht auf die Stadt, sondern auf das Land. Hill ist zu einem Chronisten der Dörfer geworden. Seiner Meinung nach hat hier in den letzten beiden Jahrzehnten eher unbemerkt eines der grössten Verbrechen des 20. Jahrhunderts stattgefunden: die Zerstörung einer traditionsreichen und bewährten Lebensform und das Ende eines Gemeinschaftsgeistes und eines Zusammenhaltsgefühls, das die Menschen gegen die Widrigkeiten des Lebens bestehen liess. ("You could say that in a sense it is about the greatest crime of the century - the destruction of community spirit and a whole way of life in England during the past fifteen years.") Den unheilvollen Folgen spürt Hill in seinen Romanen nach.

Wie ein guter Wein: Je älter, desto besser

Dem Erfolg hat diese Intention keinen Abbruch getan - im Gegenteil: In den letzten Jahren wurde Reginald Hill mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet (darunter den angesehenen "Diamond Dagger" der "Crime Writer´s Association"). Die Dalziel/Pascoe-Romane dienten ausserdem als Vorlage für eine gern gesehene Fernsehserie.

Hills schriftstellerisches Talent wird auch in der spielerischen Souveränität deutlich, mit der er sich der Regeln der Kriminal-Genres bedient. Ganz klassisch gibt er seinen Lesern Hinweise, die es ermöglichen, den Fall selbst zu lösen. Dalziel, Pascoe und Co. wissen niemals mehr als der Leser - die Vernehmungsprotokolle der Betsy Allgood (ein ironisches Wortspiel - und nicht das Einzige!) kennt er sogar früher als die ermittelnden Polizisten. Der Autor kann es sich sogar erlauben, mit dem (Original-) Titel des Buches das Rätsel der verschwundenen Kinder zu lüften; man muss sein Handwerk schon verstehen, um erfolgreich solche Spielchen treiben zu können!

Ein Appell an den Verlag

Genauso erfreulich wäre es, wenn sich der Europa-Verlag, bei dem die Rechte zur Zeit wohl liegen, dazu entschliessen könnte, die älteren Bände der Serie zu veröffentlichen; besonders "Recalled to Live" (1992), in dem es Andrew Dalziel nach New York verschlägt, und "Pictures of Perfection" (1994), eine liebevoll-komisch-boshafte, manchmal fast märchenhafte Parodie auf die idyllischen Landhaus-Krimis einer Agatha Christie oder Dorothy Sayers, würde man gern (in derselben ausgezeichneten Übersetzung wie "Das Dorf der verschwundenen Kinder") auch in der deutschen Ausgabe lesen!

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Reginald Hill, Europa

Das Dorf der verschwundenen Kinder

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