Die Schrift an der Wand

  • Scherz
  • Erschienen: Januar 1999
  • 3
  • Oslo: Gyldendal, 1995, Titel: 'Skriften på veggen', Originalsprache
  • Bern, München, Wien: Scherz, 1999, Seiten: 283, Übersetzt: Kerstin Hartmann-Butt
  • München: Süddeutsche Zeitung, 2006, Seiten: 275
  • Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2007, Seiten: 288
  • Frankfurt am Main: Fischer, 2015, Seiten: 286
Die Schrift an der Wand
Die Schrift an der Wand
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Michael Drewniok
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2003

Staalesen gehört zum Besten der nordeuropäischen Krimiszene

In einem Hotel wird die Leiche des angesehenen Richters Brandt gefunden - bekleidet nur mit einer Garnitur feiner Damenunterwäsche. Der Detektiv Varg Veum rätselt wie die meisten Bürger der norwegischen Stadt Bergen über den eigenartigen Vorfall, widmet sich aber ansonsten seinem neuen Fall: Die 16-jährige Torild Skagestøl wird seit einigen Tagen vermisst. Veum vermutet zunächst, das Mädchen sei ausgerissen, denn bei den Skagestøls hängt der Haussegen schon lange schief.

Tatsächlich ist das Mädchen schon längst tot, als seine Mutter Veum beauftragt. Obwohl ihn Oberkommissar Dankert Muus, sein alter Widerpart bei der Polizei, eindringlich auffordert, die Finger von dem Fall zu lassen, fühlt der Detektiv sich verantwortlich und setzt die Ermittlungen fort. Er findet heraus, dass Torild einem organisierten Ring blutjunger Mädchen angehörte, die sich ihr Taschengeld als Gelegenheitsprostituierte für gut situierte ältere Männer aus Bergens High Society aufbessern. Gehörte auch der verstorbene Richter Brandt zu ihren "Kunden"?

War es Torild, die er zu seinem letzten Stelldichein bestellt hatte, und die dann als unerwünschte Zeugin beseitigt wurde? Veum stößt bei seinen Recherchen auf alte und wenig geliebte Bekannte aus der Verbrecherszene. An der Spitze des Mädchenhändlerrings steht Bergens Gangsterboss Nr. Eins - Birger Bjelland, mit dem Veum in der Vergangenheit schon mehr als einmal aneinander geraten ist und der bei mindestens einer Gelegenheit versucht hat, den lästigen Detektiv aus dem Weg zu räumen. Die Polizei bemüht sich seit Jahren ebenso eifrig wie vergeblich, Bjelland dingfest zu machen. Nun könnte ihm der Mord an Torild Skagestøl gefährlich werden. Der eifrig ermittelnde Veum findet auf einmal seine Todesanzeige im Briefkasten. Als am angegebenen Tag tatsächlich ein spektakulärer Anschlag auf sein Leben erfolgt, weiß er, dass es sein Gegner jetzt ernst meint ...

Gunnar Staalesen hat die Figur des Varg Veum bereits vor einem knappen Vierteljahrhundert erfunden. Wie es üblich ist im skandinavischen Kriminalroman, schildert der Autor nicht "nur" auf möglichst unterhaltsame Weise ein Verbrechen und seine Auflösung, sondern betreibt ausgiebig Gesellschaftskritik. Die Veum-Romane sind stets auch ein Zeit- und Sittenbild der Stadt Bergen, in der Staalesen 1947 geboren wurde, lebt und arbeitet.

Getreu des Mottos "Die Welt ist schlecht" - zumindest dort, wo Menschen über Menschen zu entscheiden habe - geht es in Staalesens Bergen finster zu. Die Mächtigen der Stadt sind primär auf ihren Vorteil bedacht, die "Guten" haben meist das Nachsehen, oder es bleibt ihnen nur die kleine Flucht ins private Glück. Dazu regnet es meist in Bergen, oder es schneit: Wenn Veum lieber zum Aquavit als zum Whiskey greift, so nimmt man ihm gern ab, dass er das "Wasser des Lebens" dringender benötigt ...

Wer gegen die Bastionen des Eigennutzes anstürmt, gerät leicht ins Predigen. Auch "Die Schrift an der Wand" gleitet manchmal ein wenig zu sehr in Richtung moralisches Traktat ab. Das mag angesichts des düsteren Themas zunächst angemessen sein. Trotzdem erinnern besonders Staalesens jugendliche Charaktere ein wenig zu arg an die Pappkameraden des deutschen TV-Serienkrimis. Außerdem scheint es so, dass der Autor die Sozialarbeiter-Attitüden seines Helden ("Komm, lass´ uns erst einmal darüber reden ...") ein wenig zu sehr verinnerlicht hat. Die Jugend hat´s heute zwar schwer bzw. kann es schwer haben - das ist richtig, aber war das nicht immer der Fall? Daraus gleich ein Untergangsszenario für die moderne westliche Gesellschaft zu konstruieren, heißt ein wenig übertreiben.

Aber da ist ja noch Varg Veum, der Philip Marlowe des hohen Nordens. Der Vergleich wird automatisch gezogen, denn die Parallelen stechen ins Auge. Veum ist nicht nur der "normale" Privatdetektiv - unbestechlich und deshalb arm und vom Leben gebeutelt -, sondern auch ein verkappter Ritter, der seinen Idealismus nur mühsam mit Ironie und Sarkasmen maskieren kann. Dazu passt sein Lebenslauf: Veum begann seine "Karriere" eher genreuntypisch nicht bei der Polizei, sondern als Sozialarbeiter - bis er eines Tages, durch die Aussichtslosigkeit seiner Arbeit ausgebrannt, einen brutalen Soziopathen beinahe tot schlug und daraufhin seinen Hut nahm. Veum trifft sein damaliges Opfer übrigens in diesem Roman nach über zwanzig Jahren wieder: Die Vergangenheit bleibt in Staalesens Büchern wie im realen Leben stets lebendig; bestimmte Handlungsstränge werden immer wieder aufgegriffen.

Trotzdem ist Veum kein bloßer Abklatsch von Marlowe. Das Geschäft läuft eher recht als schlecht. Ins Privatleben des Detektivs ist seit einiger Zeit Ruhe eingekehrt. Sogar eine richtige Gefährtin, nicht nur eine "Alibi-Freundin" als "Reserve" für zwischenmenschliche Verwicklungen, hat ihm der Autor gegönnt. Kein Wunder, dass er im Vergleich zu früher ein wenig milder geworden ist. Der Jüngste ist er ohnehin nicht mehr - Varg Veum altert recht chronologisch mit seinen Fällen und ist nun fünfzig Jahre alt.

Die Veröffentlichungsgeschichte der Veum-Serie ist in Deutschland traditionell wirr. Allerdings scheinen bis auf einen Roman und zwei Novellen alle Geschichten inzwischen erschienen zu sein. Noch besser: Sie sind auch ohne Ausnahme noch erhältlich! Das ist eine Chance, die der Krimifreund nutzen sollte, denn die Thriller von Gunnar Staalesen gehören eindeutig zum Besten, das die ohnehin erstaunlich vielfältige und qualitätvolle Krimiszene Nordeuropas - die ja durchaus nicht nur von Sjöwall/Wahlöö und Henning Mankell gestaltet wird - zu bieten hat.

Die Schrift an der Wand

Gunnar Staalesen, Scherz

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