Durst

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 2017
  • 25
  • Berlin: Ullstein, 2017, Seiten: 688, Übersetzt: Günther Frauenlob
Durst
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Andreas Kurth
95°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2017

Dritte Zähne der ganz besonderen Art

Online-Dating ist denkbar einfach - und überaus hip. Und so nutzen auch in Oslo Männer und Frauen aus verschiedenen sozialen Schichten die Dating-App Tinder. Als nach einem Tinder-Rendevous eine junge Frau in ihrer Wohnung brutal getötet wird, steht die Polizei allerdings vor einem Rätsel. Es gibt keine Einbruchsspuren - kannte sie ihren Mörder? Die ersten Ermittlungsergebnisse verwirren die Osloer Polizisten. Offenbar war ein Eisengebiss die Tatwaffe - und dem Opfer fehlt ein halber Liter Blut. Dem neuen Polizeipräsidenten Mikael Bellman wird der Fall schnell zu heiß, er will Harry Hole als Ermittler dabei haben. Der ist nach wie vor Dozent an der Polizeihochschule, wo sich auch sein Stiefsohn Oleg auf seine Laufbahn vorbereitet. Harry will das seiner Frau Rakel gegebene Versprechen, nie mehr als Ermittler zu arbeiten, nicht brechen, aber Bellman erpresst ihn. Er droht, Olegs Drogen-Vergangenheit offen zu legen - der müsste die Hochschule sofort verlassen. Harry gibt nach, und als eine weitere Leiche mit dem gleichen Tatmuster gefunden wird, ist klar, dass es um einen Serientäter geht. Und Harry glaubt auch zu wissen, um wen es sich handelt.

Jo Nesbø macht seine Ermittler zu echten Statistik-Freaks

Jo Nesbø hat seinen Protagonisten drei Jahre Pause gegönnt. Harry Hole ist zufrieden mit seinem Job als Dozent an der Polizeihochschule, wo ihm die Studenten an den Lippen hängen - darunter sein Stiefsohn Oleg. Es bedarf also einer kleinen Erpressung durch Erzfeind Mikael Bellman, um Harry wieder ins Team zu holen. Ich halte diesen dramaturgischen Kniff für glaubwürdig, denn Harry Hole hat schon in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, wie wichtig ihm seine kleine Familie ist. Und als er dann sicher ist, dass die Spur zu einem lange gesuchten Sexualstraftäter führt, nimmt der Roman so richtig Fahrt auf.

Der Autor macht seine Ermittler übrigens zu echten Statistik-Freaks. In früheren Romanen ist mir das entweder nicht so aufgefallen, oder es ist ein neues Element. Jedenfalls zitieren Harry und seine Kollegen unentwegt irgendwelche FBI- und sonstigen Statistiken, womit sie ihre Schlussfolgerungen untermauern oder begründen. Vermutlich gehört das zur modernen Polizeiarbeit, ebenso wie Handy-Ortung und Recherchen im Internet. Da passt es gut, hier auch die Tinder-Dating-App als Element zu verwenden, auch so ein moderner Schnick-Schnack. Aber das ist wohl der Lauf der Zeit.

Polizei holt Vampirismus-Forscher als Experten ins Team

Zusätzliche Spannung entsteht, weil der Killer seinen Modus operandi offenbar verändert hat. So sieht es jedenfalls aus. Nesbø sich ein archaisches Mordinstrument einfallen lassen. Ein Eisengebiss - da läuft es dem Leser schon mal kalt den Rücken runter, jedenfalls ist es mir so ergangen. Und um das Ganze auf die Spitze zu treiben, holt sich die Polizei einen Vampirismus-Forscher als Experten ins Team.

Im Zuge der Ermittlungen, die sich kompliziert und schwierig gestalten, kommt irgendwann die Vermutung auf, dass es zwei Täter gibt, oder der eigentliche Killer zumindest eine Art Unterstützer hat. Nesbø hat hier einen ziemlich verwickelten Plot vorgelegt, der immer wieder neue Überraschungen für Ermittler und Leser mit sich bringt.

Zwischenmenschliche Konflikte bringen mehr Würze in die Handlung

Der Autor gewährt dem Leser in diesem Roman viele Blicke in die Seelen seiner Protagonisten. Harry ist sehr selbst-reflexiv, Rakel philosophiert über das Leben, Katrine Bratt macht sich ebenfalls tiefschürfende Gedanken, und auch andere Protagonisten sind sehr nachdenklich. Neben der enormen Spannung, die aufgebaut wird, hat mir das gut gefallen. Es gibt so einige zwischenmenschliche Konflikte, die zusätzliche Würze in die Handlung bringen. Harry selbst ist und bleibt der knorrige Macho, der aber auch einen weichen Kern hat. Seine Verzweiflung über die Bösen dieser Welt und die Gefahr für seine Familie wirkt für mich nach wie vor authentisch. Und auch, wie er darüber mit seinem engeren Umfeld kommuniziert.

Nesbø thematisiert nebenbei so einige moralische Fragen und Beziehungsprobleme, aber immer im erträglichen Rahmen, ohne den Kriminalfall oder den Spannungsbogen dabei zu vernachlässigen. Harrys Begegnungen mit dem Killer und einige erfolglose Zugriffsversuche heizen das Ganze dann noch so richtig an.

Dominanz von Harry Hole macht die Glaubwürdigkeit der Reihe aus

Harry Holes Gegenspieler sind wie er selbst Typen mit Ecken und Kanten. Im Blickpunkt steht dabei immer wieder der skrupellose Karrierist Mikael Bellman. Er betrügt nach wie vor seine Ehefrau, und lässt - wenn es ihm opportun erscheint - auch gute Freunde und Weggefährten ins Messer laufen. Dazu gehört auch sein Kumpel aus Kindertagen. Truls Berntsen ist seit vielen Jahren in Ulla Bellmann verliebt - und jetzt will er Mikael für zahlreiche Kränkungen büßen lassen. Ulla versucht ihrerseits, sich gegen ihren Mann zu wehren, bringt aber letztlich nicht die Kraft dafür auf. Isabelle Skøyen, Bellmans Geliebte und wie er eine selbstsüchtige Karrieristin, spielt ebenfalls nur ihr eigenes Spiel. Katrine Bratt ist mittlerweile zur Ermittlungsleiterin der Kripo in Oslo aufgestiegen. Aber sie bleibt am Ende eine blasse Figur, von persönlichen Probleme und Befindlichkeiten gehandikapt. Harrys schöne Gemahlin Rakel Fauke wird ernsthaft krank, und es zeigt sich deutlich, dass sie der Fixpunkt in Harrys Leben ist. Insgesamt ein interessantes Personaltableau, zu dem auch noch Oleg Fauke gehört. Die Dominanz von Harry Hole mag manchen Leser stören, aber ich finde, genau das gehört zur Glaubwürdigkeit dieser Reihe dazu.

Geschickte Wendungen und Überraschungen des Meister-Erzählers

Das Warten auf den neuen Harry-Hole-Roman hat sich in meinen Augen wirklich gelohnt. Nach Koma folgten zunächst Der Sohn und die beiden Blood-on-snow-Romane. Speziell die beiden kürzeren Geschichten fanden beim Publikum ein eher geteiltes Echo, zu sehr wurden die neuen Werke mit dem guten alten Harry Hole verglichen. Vier Jahre nach Koma - im Roman sind drei Jahre seither vergangen - holt der Autor seinen Star von der Polizeiakademie zurück ins Ermittler-Leben. Und der gibt wieder Vollgas, und das unter erschwerten Bedingungen. Seine Frau wird schwer krank, Stiefsohn Oleg wendet sich zeitweise von ihm ab, und Traumata der Vergangenheit holen ihn ein - kein Wunder bei Holes Vorgeschichte.

Es ist schon bemerkenswert, wie Jo Nesbø dieser Figur immer noch neue Facetten geben kann. Aber auch das Umfeld wird weiter entwickelt. Und als Mordwaffe ein Eisengebiss - war für mich neu, gruselig und für die Geschichte gab das richtig Drive. Was mir bei Jo Nesbø immer wieder gefällt: er baut nicht lange am Setting rum, sondern es geht direkt zur Sache. Der Leser kann von Beginn an miträtseln, und nicht wenige dürften sich mit ihren Vermutungen heftig verspekulieren. Zu geschickt sind die Wendungen und Überraschungen des norwegischen Meisters. Und nach der Lektüre bleibt uns allen nur noch die mittlerweile ewig junge Frage: Wird es einen weiteren Band mit Harry Hole geben? Ich bin mir sicher, dass Jo Nesbø zu diesem exzentrischen Ermittler noch einiges einfallen wird.

Durst

Jo Nesbø, Ullstein

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