Der unglückliche Mörder

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 2001
  • 27
  • Stockholm: Bonnier, 1999, Titel: 'Carambole', Seiten: 326, Originalsprache
  • München: Goldmann, 2001, Seiten: 319, Übersetzt: Gabriele Haefs
  • Wien: Ueberreuter, 2008, Seiten: 439, Bemerkung: Großdruck
  • Augsburg: Weltbild, 2002, Seiten: 319
  • München: Goldmann, 2003, Seiten: 319
  • München: btb, 2006, Seiten: 319
Der unglückliche Mörder
Der unglückliche Mörder
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Thomas Kürten
88°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2003

Ein atmosphärisch sehr dicht geflochtener Krimi

Bei der Polizei geht ein anonymer Anruf ein. In einem Gebüsch in der Nähe eines italienischen Restaurants soll eine Leiche liegen. Kommissar Reinhart und seinem Team sind die Gesichtszüge des jungen Mannes, den sie dort finden, seltsam vertraut und es bestätigt sich bald, dass der Tote der Sohn des inzwischen pensionierten Kommissars van Veeteren ist. Erich hatte zum Kummer seines Vaters in seiner Jugend einige Drogenprobleme, das Verhältnis der beiden war nicht das beste, inzwischen hatte sich der Junge aber wieder gefangen und die beiden hatten sich in den letzten Monaten etwas angenähert. Sein Leben schien der junge Mann auch aufgrund seiner Freundin in den Griff bekommen zu haben. Die Polizei steht vor einem Rätsel, denn es scheint niemand ein Motiv für den Mord gehabt zu haben. Zwei Schläge mit einem stumpfen Gegenstand, einer auf den Schädel, einer in den Nacken - wer kann das getan haben?

Sowohl die Suche im engen und weiteren Freundes- und Bekanntenkreis des Toten, als auch die Befragung der Gäste des Restaurants bringt keine Aufschlüsse. Niemand hat auf dem einsamen Parkplatz die Tat beobachtet, niemand weiß, was Erich van Veeteren dort gesucht hat. Von den Gästen des Restaurants können sich lediglich ein paar vage an einen bärtigen und langhaarigen Mann erinnern, der kurz vor ihm das Lokal verlassen hat. Der Mörder?

Der Leser weiß zu diesem Zeitpunkt bereits wesentlich mehr. Das Buch beginnt mit dem Ende eines trinkfreudigen Abends einer Männerrunde und einem sechzehnjährigen Jungen, der auf dem Heimweg den letzten Bus verpasst hat. Einer der Männer fährt, obwohl er deutlich einen über den Durst getrunken hat, an diesem Abend mit dem eigenen Wagen allein nach Hause. Auf einer einsamen Landstraße überfährt er den Jungen. Nachdem er seinen Wagen angehalten hat, findet er den toten Jungen im Straßengraben. Unfall mit Todesfolge, ganz klar seine Schuld, dazu noch Trunkenheit am Steuer - da werden wohl schon einige Jährchen Gefängnis beisammen kommen. Aber wer will schon gerne in den Knast? Obwohl ihn einige Autos passieren, glaubt der Mann nicht gesehen worden zu sein und begeht deshalb Fahrerflucht. Ihn plagen zwar Gewissensbisse, aber als er sich wenige Tage später frisch verliebt, kann er seine Tat halbwegs verdrängen. Er scheint vor der Strafe davon zu kommen.

Plötzlich aber geht bei ihm ein Erpresserbrief ein, indem von ihm die Zahlung von 10.000 Gulden gefordert wird. Der Mann wundert sich noch über die geringe Summe, ist sich aber ziemlich bald bewusst, dass die Zahlung keine Garantie für das Schweigen seines Erpressers darstellen kann. Nur durch einen weiteren Mord könnte der Erpresser sicher zum Schweigen gebracht werden. Nach der Übergabe des Geldes lauert er deshalb dem Erpresser auf. Und bringt ihn auf dem Parkplatz des italienischen Restaurants um.

So denkt der Mann jedenfalls. Denn während die Polizei wirklich völlig im Dunkeln tappt, geht bei dem Mann nach knapp einer Woche ein neues Erpresserschreiben ein und die Forderung wird auf 200.000 Gulden erhöht. Der ermordete Erich van Veeteren war wohl nur ein nichtsahnender Bote...

Durch geschickte Sprünge in der Erzählperspektive versteht es Nesser, Spannung in einem hohen Maße aufzubauen. Die Verzweiflung des Mörders ist in seinen krankhaften Gedanken spürbar und der Leser ist geneigt, sich nach dem eigenen Verhalten in solch einer Situation zu fragen. Neben der Sichtweise der Polizei und des Mörders fließt ganz entscheidend aber auch die Perspektive einer Person in die Handlung mit ein, die in diesem Roman eigentlich nur eine Nebenrolle spielt: die des Vater des Opfers, des ehemaligen Kommissars van Veeteren,. Der abgrundtiefe Schmerz eines Vaters, der seinen Sohn verloren hat. Dem der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Der dazu noch von der Freundin seines Sohnes erfährt, dass er Großvater wird. Gefühle von Trauer bis Rache und Verzweiflung. Und auch wenn van Veeteren im Ruhestand ist, er lässt es sich nicht nehmen, selber ein wenig nachzuforschen.

Erst als die Polizei die Leiche einer Frau findet, können Kommissar Reinhart ein wenig Licht in das Dunkel bringen. Die Todesursache, Schläge mit einem stumpfen Gegenstand auf Kopf und Nacken, lässt die Polizei schlussfolgern, dass die Frau und van Veeterens Sohn von demselben Mörder umgebracht worden sein könnte. Zwar ist eine unmittelbare Verbindung der beiden Morde bzw. der beiden Opfer nicht zu erkennen, aber als einige Unregelmäßigkeiten im Privatleben der toten Krankenschwester Rückschlüsse zulassen, dass die Frau einen Geliebten gehabt haben könnte, verspricht die Suche nach diesem Unbekannten ein mögliches Motiv. Die eingeleitete Rasterfahndung im Umfeld der Ermordeten und kleine Mosaikstückchen, die der alte van Veeteren findet, bringen sie auf die entscheidende Spur.

Ein atmosphärisch sehr dicht geflochtener Krimi, den Håkan Nesser hier präsentiert. Die verwirrten und krankhaften Gedanken des Mörders, die über weite Strecken ratlose, aber eifrige Polizei, die sich in diversen Meetings über den Stand der Ermittlungen austauscht und ein van Veeteren, der von seinen Gefühlen überwältigt scheint, der Stütze von seiner Tochter und seiner Lebensgefährtin erhält. Und während Kommissar Reinhart und seine Kollegen Jung, Rooth, Münster, Polizeianwärter Krause und Kriminalinspektorin Ewa Moreno eher blass bleiben und nur wenig Profil erhalten, lernt der Leser den Mörder sehr viel intensiver kennen, obwohl Sachen wie sein Name und sein Beruf erst ziemlich am Ende des Buches verraten werden. Und auch die Gedanken und Gefühle van Veeterens werden sehr eindrucksvoll vermittelt. "In the natural order of things, fathers do not bury their sons." Dieses Zitat von Paul Auster steht dem Buch voran und jeder Leser, der bereits eine ihm sehr nahe stehende Person verloren hat, wird sich wohl nicht schwer tun, sich in die Gefühlswelt des Ruheständlers zu versetzen.

Trotz allem guten an diesem Buch, will ich einige Kritikpunkte hier nicht hinterm Berg halten. Als erstes muss ich den Titel in der Luft zerfetzen. Im ganzen Buch gibt es keinen unglücklichen Mörder. Es gibt lediglich einen ziemlich kranken Kopf, der sich in seiner feigen Einstellung nicht traut, für seine Taten gerade zu stehen. Statt dessen begeht er weitere Morde, um seine Verbrechen zu decken. Der Originaltitel "Carambole" hätte wörtlich übersetzt ("Karambolage") wesentlich besser gepasst, zumal an mehreren Stellen des Buches das Motiv der zusammen stoßenden Billardkugeln auftaucht.

Dann die teilweise recht unmotiviert wirkenden Kurzberichte aus dem Privatleben der Polizisten. Nur ganz kurze Blitzlichter, die irgendwie deplaziert wirken. So wird Ewa Moreno plötzlich von ihrem neuen Nachbarn gefragt, ob sie mit ihm essen wollen. Er war gerade beim kochen, als sich seine Freundin von ihm getrennt hatte. Mit ihren Gedanken über diese Einladung, bricht die Erzählung hier jedoch abrupt wieder ab. Ähnliche Episoden erleben wir aus der Ehe Kommissar Reinharts.

"Der unglückliche Mörder" ist ein sehr gut lesbarer Krimi, der an die Courage des Lesers appelliert, zu seinen Taten und seiner Schuld zu stehen. Zu abschreckend sind die sehr realistisch wirkenden, aber dennoch krankhaften Gedankensmuster des Mörders. Zu ergreifend sind die Verzweiflung und die Trauer der Hinterbliebenen seiner unschuldigen Opfer. Sehr gut ist die Handlung in den Monaten November und Dezember platziert. Düster die Stimmung, trostlos das Wetter, trüb van Veeterens Gedankenwelt. Das Buch wurde meines Ermessens zurecht mit dem skandinavischen Krimipreis von 1999 ausgezeichnet. Ich habe Håkan Nessers Roman in wenigen Tagen verschlungen und kann ihn trotz kleinerer Schatten, die ich eher in der deutschen Adaption begründet sehe, empfehlen.

Der unglückliche Mörder

Håkan Nesser, Goldmann

Der unglückliche Mörder

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