Wolfshunger

  • Wunderlich
  • Erschienen: Januar 2014
  • 5
  • London: Quercus, 2013, Titel: 'A Man without Breath', Seiten: 517, Originalsprache
  • Reinbek bei Hamburg: Wunderlich, 2014, Seiten: 543, Übersetzt: Juliane Pahnke
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2014

Mörder gibt es überall

Anfang 1943 steht der Krieg nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad für Nazi-Deutschland auf der Kippe. Die Erfolge der ersten Jahren geraten in Vergessenheit; die Mehrheit der Bevölkerung hat trotz des von Propagandaminister Joseph Goebbels jüngst proklamierten "Totalen Krieges" genug von den Kämpfen und vor allem von den stetig heftiger werdenden Bombenattacken der Alliierten.

Da kommt Goebbels die Nachricht, dass tief im polnischen Wald von Kateyn unweit der Stadt Smolensk im (noch) besetzten Russland zahlreiche Massengräber gefunden wurden, gerade recht. Offenbar hat hier der sowjetische NKDW - das "Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten" - die Offiziere der geschlagenen polnischen Armee zusammengetrieben und hingerichtet, um jeglichen Widerstand gegen die neuen Herren auf ewig zu ersticken.

Für das international als Kriegstreiber und Judenmörder geächtete Deutsche Reich ist dies eine willkommene Ablenkung, die Goebbels international nutzen will. Doch das ist riskant, da um Kateyn auch Massengräber liegen, die von deutschen Vernichtungskommandos mit den Leichen ermordeter Juden gefüllt wurden. Goebbels erinnert sich an den erfahrenen Ex-Kriminalbeamten Bernhard Gunther, der inzwischen bei der "Wehrmachts-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts", arbeitet - einer Scheinbehörde, die sich das Nazi-Regime als Feigenblatt hält.

Goebbels schickt Gunther nach Smolensk. Dort soll er eine internationale Kommission des Roten Kreuzes betreuen, die eine Untersuchung der Gräber plant. Der ohnehin brisante Job wird durch die Umtriebe eines Serienkillers erschwert, der korrupte deutsche Soldaten umbringt. Darüber hinaus gerät Gunther in eine Verschwörung, deren Köpfe nichts Geringeres als den Mord an Adolf Hitler planen ...

Böse Umtriebe in der Hölle

Für den neunten Band seiner Serie um den Ermittler Bernhard Gunther, den der Zufall immer wieder dorthin trägt, wo sich gerade Weltgeschichte abspielt, greift Philip Kerr eine besonders bizarres und dunkles Kapitel der jüngeren Vergangenheit auf. Man kann es kaum glauben, doch der Verfasser hält sich tatsächliche an die historischen Realitäten: 1943 sorgte ausgerechnet das nazideutsche Regime für die Untersuchung eines kapitalen Verbrechens, das ausnahmsweise nicht die Wehrmacht oder die Gestapo verübt hatte, sondern von den Sowjets verschuldet wurde, die inzwischen an der Seite der Alliierten kämpften, nachdem Stalin noch im August 1939 einen Nichtangriffspakt mit Hitler geschlossen hatte, um die östliche Hälfte Polens an sich zu bringen.

Hitler brach diesen Vertrag wie üblich und bereits 1940, um seinerseits mit der Eroberung der Sowjetunion zu beginnen. Der "Blitzkrieg" warf den Gegner weit zurück, so dass hinter der Front die nazitypische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung stattfinden konnte. Dieser systematische Massenmord konnte nur mühsam geheim gehalten werden. Kateyn bot daher die willkommene Chance, den Spieß umzudrehen und von den eigenen Verbrechen abzulenken. Hinzu kam die Gelegenheit, ausgerechnet einen wichtigen Kriegspartner der Alliierten in Misskredit zu bringen, um damit womöglich dessen Front zu schwächen.

Nach der Katastrophe von Stalingrad war dies Wunschdenken, doch Wolfshunger spielt in der Gegenwart des Winters 1943. Deshalb bleibt es den wenigen von Kerr erschaffenen Nazi-Kritikern und selbstverständlich Bernhard Gunther überlassen, entsprechende Zweifel zu hegen oder gar auszusprechen. Goebbels Plan wird deshalb in die Tat umgesetzt. Für Kerr eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, seine Hauptfigur abermals logisch an einen Brennpunkt historischer Ereignisse zu versetzen.

Vom Bombenregen in die Mördertraufe

Schon die Kulisse von Kateyn provoziert eine inhaltsstarke Handlung. Kerr nimmt sich die Zeit, seine Leser mit dem Schauplatz bekanntzumachen. Er schildert eine in jeder Hinsicht trügerische Idylle, an der die dort stationierten deutschen Truppen und vor allem ihre Befehlshaber krampfhaft festhalten: Solange sie in Smolensk stationiert sind, müssen sie sich den Sowjets nicht zum Kampf stellen, von deren Übermacht und Stärke sie ungeachtet der Regime-Propaganda sehr gut wissen.

Also spielt Generalfeldmarschall von Kluge lieber den Guts- und Schlossherrn, der sich im Wald von Kateyn dem edlen Waidwerk widmet und lieber Wildschweine oder Wölfe als Juden und Russen jagt. Eine international besetzte und medial ausgeschlachtete Untersuchung von Massengräbern würde dem ein Ende bereiten und - Kerr arbeitet diesen Aspekt geschickt ein - womöglich unerwünschte Aufmerksamkeit dort erregen, wo von Kluge Verschwiegenheit favorisiert: Er, der heimlich mit dem deutschen Widerstand liebäugelt, lässt sich ebenso heimlich von Hitler, der sich seiner Dienste versichern will, mit Geldgeschenken und anderen Vergünstigungen aushalten.

Generell schildert Kerr einen Kriegsalltag, der eher der Planung des Überlebens unter Einstreichen möglichst hoher Profite als einem Feldzug gleicht. Wohl ein letztes Mal, so ahnen sie, dürfen sich selbst einfache Landser als Herrenmenschen gebärden. Die in Smolensk verbliebenen, "befriedeten" Russen sind ihre Sklaven und Sündenböcke, aus deren Reihen problemlos Pechvögel als "Partisanen" hingerichtet werden, sollte es zu Zwischenfällen kommen.

Bernies breite Schultern

Wie üblich tritt Bernhard Gunther als Spielverderber auf. Mit dem Nationalsozialismus hat er nach schrecklichen Kriegserfahrungen und privaten Verlusten längst abgeschlossen. Immer wieder lässt Autor Kerr ihn Nischen finden, in denen er nicht nur seiner Lieblingstätigkeit - der Ermittlung in Kriminalfällen -, sondern auch seinem Hang zu offenherzig vorgetragener Regimekritik frönen kann.

Dies ist ein wesentlicher Kritikpunkt: Ein so frecher und großmäuliger Zeitgenosse wie Gunther dürfte in der realen Nazi-Zeit keine lange Lebensspanne gehabt haben. Kerr bemüht sich dies zu bemänteln, indem er Gunther als nützliches Werkzeug von Nazi-Größen missbrauchen lässt: Sie dulden seine defätistischen Äußerungen, weil sie um seine Macht- und Hilflosigkeit wissen. Dieses Mal ist es Joseph Goebbels persönlich, der sich Gunthers bedient.

Bei der Lektüre lösen Gunthers Entdeckungen immer wieder Kopfschütteln aus: Er findet im Stiefel der ersten (!) polnischen Leiche, über die er stolpert, einen genauen Bericht über die Vorgeschichte von Kateyn, verzichtet aber auf eine Weiterleitung an die Weltpresse. Später erfährt er, dass von Kluge sich von Hitler persönlich schmieren lässt, und behält auch das für sich. Schließlich gerät Gunther in den deutschen Widerstand, dessen tölpelhafte Mitglieder er berät, wie sie bessere Attentäter werden können. Natürlich müssen alle diese Informationen unterdrückt bleiben, denn nachweislich hat kein Bernhard Gunther den Zweiten Weltkrieg beeinflusst. Daran muss sich Kerr halten, auch wenn er sich sonst gewisse historische Freiheiten gestatten kann.

Mord unter Wölfen & Hyänen

Eigentlich sind solche unterdrückten Sensationen unnötig. Der Einfall, einen Serienkiller vor dem Hintergrund des systematischen Massenmordes zu jagen, bietet Spannung genug. Kerr ist Profi und versteht es, einen Historienthriller mit einer klassischen Whodunit-Handlung zu veredeln. Die Verdächtigen sind zahlreich, die Ermittlung kompliziert und gefährlich. Szenen wie die Suche nach wichtigen Unterlagen in einem Archiv, das von sowjetischen Spezialisten geradezu sadistisch vermint wurde, bleiben ebenso im Gedächtnis wie das geschickt auf den dramaturgischen Höhepunkt getriebene Finale, in dem Gunther quasi im Schatten des Galgens den Fall auflösen muss.

Dass er seinen Helden dabei so gut in die Ecke getrieben hat, dass nun ein deus ex machina (bzw. Wehrmachts-Geheimdienst-Chef Canaris aus seiner Dienstmaschine) auftauchen muss, um ihn und die Situation zu retten, ist eine lässliche Sünde. Wo er nicht übertreibt, versteht es Kerr, das gesetzes- und moralfreie Vakuum zu schildern, in dem seine Figuren agieren. Insofern ist man gespannt auf den zehnten Band: Der Krieg geht in seine Endphase, und Gunther dürften damit die Schlupfwinkel ausgehen. Wir warten interessiert darauf, wie er sich trotzdem durchlavieren wird.

Der seltsame Originaltitel geht übrigens auf ein Zitat aus dem Roman "Michael" zurück: "Volk ohne Religion, das ist so wie ein Mensch ohne Atem." Geschrieben hat ihn ausgerechnet Joseph Goebbels, der sich einmal selbst entlarvt - sein einziges literarisches Werk, das 1929 veröffentlicht wurde.

Wolfshunger

Philip Kerr, Wunderlich

Wolfshunger

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