Jeffery Deaver

Der forensische Kriminalist in Tradition von Sherlock Holmes

04.2009 Der Bestseller-Autor (Der Knochenjäger) plauderte mit uns über seinen neuen Roman Der Täuscher und seine Vorliebe für Sauerbraten. Dazu warnt er vor Glühbirnen und Bloggern …

Krimi-Couch: Mr. Deaver, in Ihrem neuen Roman geht es um das Erheben, Sammeln, Analysieren und Manipulieren von Daten. Nachdem ich das Buch zu Ende gelesen hatte, fragte ich mich: Wie viele Kreditkarten mag der Autor noch haben?

Jeffery Deaver: [lacht] Das ist ganz witzig: Der Täuscher beruht auf einer Begebenheit, die mir vor vier Jahren passiert ist. Ich wurde Opfer eines »Identitätsdiebstahls«: Viel Geld hatte ich zwar nicht dadurch verloren, etwa fünfzig Dollar und das, obwohl die Diebe Waren im Wert von vier-, fünftausend Dollar gestohlen hatten. Was passiert ist: Die Diebe gelangten an meine Kreditkarten- sowie an meine Sozialversicherungsnummer. Sie kauften damit online ein, allerdings erst, nachdem Sie die Adresse meines Kreditkartenkontos geändert hatten. Ich habe deswegen nie eine Rechnung bekommen. Nach zwei Monaten denkt man sich, man hätte die Rechnung verlegt oder verloren. Allerdings haben sie in diesen zwei Monaten viel eingekauft. Wir haben uns dann darum gekümmert, doch hat die Polizei sie nie gefasst, sie war wohl mit etwas anderem beschäftigt. Zuerst war ich darüber sehr verärgert, da es meine Kreditwürdigkeit beeinflusste. Doch dann dachte: Ah, das ist eine Idee für ein Buch! Auf Basis dieser Erfahrungen habe ich schließlich Der Täuscher geschrieben. Auch wenn in meinem Buch der Schurke natürlich nicht nur Geld stiehlt, sondern Menschen umbringt.

Was nun meinen persönlichen Umgang damit angeht: Ich habe immer noch Kreditkarten, eine EC-Karte, aber ich passe viel mehr darauf auf, was mit meinen persönlichen Daten passiert. Und ich habe ein bisschen darüber erfahren. Wenn ich auf Lesereise für das Bucg um die ganze Welt gehe, werde ich oft um Rat gefragt: Das Buch hat den Leuten gefallen, sie wollen aber auch wissen, wie sie selbst diesbezüglich sicherer sein kein. Ich bin so eine Art Referent für dieses Thema geworden.

Krimi-Couch: Heißt das, dass das ganze Thema ihres Romans ein sehr realistisches ist?

Jeffery Deaver: Ja. Ich wusste vorher gar nicht, dass es diese Datensammler-Firmen gibt. Sie tun viel Gutes. Zum Beispiel, wenn man in einen großen Supermarkt geht und diese Rabattkarten hat – da kann man richtig viel Geld sparen. Das ist die gute Seite.

Die schlechte Seite ist, dass diese Firmen die Daten an andere Firmen weiterverkaufen und in manchen Fällen sogar dem Staat zur Verfügung stellen. Wie Sie wissen, hat die Regierung in den USA nach den Terror-Anschlägen des 11. September den Schutz der Privatsphäre stark abgeschwächt und den Zugriff auf persönliche Informationen erleichtert. Manche sagen, dass das illegal gewesen ist und dass dies nun aufhören wird, seitdem wir eine neue Regierung haben. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass diese Firmen dem Staat doch sehr, sehr persönliche Informationen von uns bereitstellen. Aber meine Bücher sind keine politischen, sie sind Thriller mit den Charakteren von Der Knochenjäger, die Denzel Washington und Angelina Jolie gespielt hatten. Ihre Zuschauer kennen sie vielleicht vom Film her. Ich wollte nunmal einen Thriller schreiben, habe aber doch recht viel über die Hintergründe erfahren, über diese sonderbare, ominöse, paranoide Welt da draußen.

Krimi-Couch: Ohne jetzt viel über die Story verraten zu wollen, möchte ich gerne mit Ihnen über den Mörder sprechen. Überraschenderweise nennt er andere Menschen nicht beim Namen, sondern bei Nummern, er nennt sie »Sechzehner«. Auf der anderen Seite wird er selbst »522« genannt.

Jeffery Deaver: Ja, das ist einer der ironischen Teile des Buches. Es ist wahr, dass in diesen Datenerhebungsfirmen es viel zu viel Zeit kosten würde, die Menschen beim Namen zu nennen.

»Jeffery Deaver« – das ist in Amerika vielleicht kein so geläufiger Name, aber es gibt bestimmt fünfzig »Jeffery Deavers«. Woher weiß die Firma dann, dass ich ich bin oder der andere eben er ist? Sie weiß es nicht ohne Zusatzaufwand. Wenn sie mir aber eine Nummer, eine sechzehnstellige Zahl, zuweist, habe ich diese Nummer ein Leben lang und es wird nie wieder zu einem Durcheinander kommen. Diese Firma weist also jedem Menschen, ehrlich gesagt: weltweit, eine sechzehnstellige Zahl zu. Auch wenn die Firma, über die ich schreibe, in Amerika sitzt, kauft sie so viele personenbezogene Daten wie möglich ein, aus Deutschland, Frankreich, China, Taiwan, Singapur, …Diese Firmen haben sich für sechzehnstellige Nummern entschieden, weil das die kleinste Zahl war, die selbst für ein Bevölkerungswachstum der nächsten fünfhundert Jahre ausreicht. Sie werden nie zu wenig Nummern haben.

Die Ironie, die ich eingangs erwähnte, ist die, dass der Mörder einerseits Menschen als »Sechzehner« ansieht, Lincoln und Amelia andererseits aber keine Ahnung von der Identität des Mörders haben und sie für ihn das Datum fünf zweiundzwanzig nehmen, was in Amerika für den 22. Mai steht – ich weiß, Sie in Europa machen es genau umgekehrt. Ironischerweise sieht der Mörder seine Opfer als Nummern und sie betrachten ihn ebenfalls als Zahl. Das ist eines der Motive des Buches.

Krimi-Couch: Zynisch, oder?

Jeffery Deaver: Ja, in der Tat ist das sehr zynisch! Aber in allen meiner Bücher ist das Gute nicht allzu weit vom Bösen entfernt.

Krimi-Couch: Kommen wir zurück zum Originaltitel, »The Broken Window«. Dieser ist viel subtiler und metaphorischer als der deutsche Titel Der Täuscher. Was ist die Bedeutung des »kaputten Fensters«?

Jeffery Deaver: Meine Titel sollen verschiedene Bedeutungen haben. Die hauptsächliche Bedeutung steht im Buch selbst. Auch wenn der Titel ein anderer ist, ist die Übersetzung schon korrekt. Das »zerstörte Fenster« ist ein Konzept aus der Soziologie und der Kriminalität. Kurz gesagt: Sie können so viel Polizei auf die Straßen schicken wie sie wollen, das wird nicht die Ursprünge des Verbrechens berühren oder dazu beitragen, Verbrechen aufzuklären. Man wird die Verbrecher zwar fassen, aber schon sind neue da.

Die Regierung sollte vielmehr ihren Blick darauf richten, unter welchen Umständen die Menschen leben, wo Verbrechen geschehen. Um es ganz einfach auszudrücken: Anstatt dorthin Polizisten zu schicken, sollte die Regierung die Bürger dazu ermuntern, ihre kaputten Fenster zu reparieren, zum Beispiel im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Repariert die kaputten Fenster, streicht die Treppenhäuser, tauscht die Glühbirnen aus, seid stolz darauf, wo ihr wohnt. Und ganz plötzlich werden die Leute aufhören, so viele Drogen zu kaufen, wie es getan hatten. Sie rufen dann die Polizei, sobald ein paar zwielichtige Gestalten herumhängen – weil sie stolz darauf sind, wo sie wohnen.

Das hört sich so an, als sei dies ein ineffektiver Vorgang. In Wirklichkeit war dies in hohem Maße für den Rückgang der Kriminalität auf Allzeittiefs in den 90er-Jahren in New York City verantwortlich, wo in den späten 80ern bzw. den frühern 90ern jedes Jahr 2000 Menschen – 2000 Menschen jedes Jahr! – umgebracht worden sind. Diese Zahl fiel in den vergangenen Jahren auf 300 bis 400, auf eine Quote von ungefähr zehn Prozent. Das ist die eine Bedeutung von »The broken Window«.

Die andere Bedeutung bezieht sich auf die ruchlose Datenerhebungsfirma in meinem Buch, »SSD«, wo der Mörder vielleicht sogar arbeitet oder zu der er eine Verbindung haben könnte, die als Firmenlogo ein Fenster hat, aus dem ein Auge herunter starrt. Also bezieht sich das »zerbrochene Fenster« auch auf das Verbrechen, das diese Firma befleckt hat oder vielleicht auf den verzerrten, pathologischen, voyeuristischen Blick dieser Firma auf die Gesellschaft.

Krimi-Couch: Sie zitieren Robert O’Harrows jr. mehrere Male, einen Journalisten, oder?

Jeffery Deaver: Journalist für die Washington Post.

Krimi-Couch: Er hat ein Buch geschrieben, »No Place to Hide«. War das für Ihre Recherchiere ihre erste Quelle?

Jeffery Deaver: Das war vor allem eine der Inspirationsquellen für das Buch Der Täuscher, auch wenn ich die Idee seit meinem Identitätsdiebstahl von vor vier Jahren schon einige Zeit im Kopf hatte. O’Harrows' Buch war wahrscheinlich das genaueste für meine Recherche, er hat aber noch mehrere andere zu diesem Thema geschrieben. Man kann aber zum Thema Identitätsdiebstahl und Privatsphäre nicht das Internet außer acht lassen. Ich habe viele Websites dazu besucht. Nach 9/11 mit den Eingriffen der Regierung in die Privatsphäre der Bürger schossen viele, ich nenne sie »rebellische«, Websites aus dem Boden, die vor diesem Eingriff warnen und die Bürgerrechte verteidigen. Ich habe zehntausende Dokumente zu diesem speziellen Thema gesammelt, die ich abr natürlich nicht alle für das Buch verwenden konnte.

Krimi-Couch: Ein Satz in ihrem lautet, dass es besser wäre, dass Firmen diese ganzen Daten besitzen, an Stelle der Behörden. Wie denken Sie selbst darüber?

Jeffery Deaver: Ich weiß gerade nicht, welche Figur das gesagt hat, ich bin aber nicht so sicher, dass Firmen diese Daten haben sollten. Was ich mache, nennt sich »Opting out«, wahlweiser Austritt. Man zieht die Option, nicht an etwas teilzuhaben. Wenn man in Amerika in einen Supermarkt geht und diese Rabattkarte beantragt – von denen ich mehrere habe, weil ich damit richtig Geld spare -, steht am Ende des Antrags ein Satz der besagt: »Hier ankreuzen, wenn Sie nicht wünschen, dass diese Informationen weitergegeben werden.« In dem ich das ankreuze, steige ich aus dem Transfer der Daten aus. Das mache ich grundsätzlich.

Manches lässt sich nicht vermeiden, die Regierung hat immer das Recht, so ist das Gesetz halt. Ich tendiere aber dazu zu sagen: Ich will nicht, dass Ihr diese Informationen habt, ich will nicht, dass Ihr so viel über mich wisst.

Auch schon vor der neuen Regierung warf der Kongress, der demokratischer und liberaler ist als George W. Bush und die Republikaner, der Regierung vor, Informationen zu sammeln. Er hat viele Gesetze geändert, auch noch am Ende der Bush-Regierung, so dass der Regierung der Zugriff auf diese Informationen ohne ein Gerichtsurteil nicht erlaubt war. Bei einem Verbrechen wird es die Regierung immer schaffen, dass ein Gericht zustimmt. Damit hat ja auch niemand ein Problem. Wenn sie aber meint, Soundso könnte vielleicht irgendwann in der Vergangenheit etwas Falsches getan haben, sie können es aber nicht beweisen ohne Zugriff auf diese Daten, ist das nicht angemessen. Privatsphäre ist wichtig, so lange es nicht um Verbrechen geht. Dann müssen die Behörden es aber so machen, wie es jeder andere auch tun würde. Die Gesellschaft zu beschützen ist eine wichtige Aufgabe der Regierung.

Krimi-Couch: In unserem letzten Gespräch sagten Sie, dass Ihre Leser Ihre Götter seien. Mir scheint es so, dass Ihre Götter ihnen gesagt haben, dass sie mehr über Lincolns Vergangenheit wissen möchten.

Jeffery Deaver: [lacht] Ganz genau! Sehr schön ausgedrückt. In der Fan-Post in den letzten Jahren ging es immer mehr um Lincoln Rhyme. Ich gehöre nicht zu den Autoren, die ihren Lesern abwegige Hintergrundinformationen geben – ich wiederhole mich: meine Leser sind meine Götter. Es muss darin einen Konflikt oder ein die Handlung vorantreibendes Element geben, ich möchte den Plot nicht unnötig aufblähen. So kam ich darauf, auf eine Begebenheit in Lincoln Rhymes Vergangenheit zu schauen, die eine möglichst dunkle Seite aufweist. Anfangs ist das für uns noch zweideutig, wir wissen nicht, was es soll. Dieses große Geheimnis trage ich in das aktuelle Buch in Form von Lincoln Rhymes Cousin Arthur. Dadurch, dass Lincoln Rhyme das, was zwanzig, dreißig Jahre zurückliegt, nun aufarbeitet, lernen wir seinen Vater, seine Mutter und vor allem seinen Onkel kennen, der ihn maßgeblich in seinem Leben beeinflusst hat. Arthur, der zu Lincoln Rhyme ein beinahe brüderliches Verhältnis hat, bis dieses mysteriöse Ereignis eintritt, das sich am Ende des Buches aufklärt.

Das Buch ist jetzt in Amerika und England bereits sechs, acht Monate auf dem Markt und ich muss sagen, dass die Resonanz bisher sehr gut war. Die Leute mögen die Story selbst, sind aber auch sehr dankbar dafür, dass Sie jetzt Lincoln kennen.

Krimi-Couch: Wie steht es um Ron Pulaski? Er ist eine Nebenfigur, spielt aber eine wichtige Rolle, besonders am Ende des Buches.

Jeffery Deaver: Ich mag meine Hilfsfiguren, wie ich sie nenne, sehr. Das hat zwei Gründe: Ron hat zum einen einen etwas eigenen Charakter, er ist eine dieser Spaßfiguren, die die Leute so sehr mögen. Zum anderen: Ich werde weder Lincoln noch Amelia umbringen. Das können Sie auf Band aufnehmen und dort wird es für immer so stehen. Ich werde sie niemals umbringen. Damit würde ich meinen Lesern einen Bärendienst erweisen. Aber: Diese Bücher sind Thriller! Darin muss es eine wirkliche Gefahr geben. Ich meine, nicht nur eine Gefahr für die Figuren im Buch, ich meine auch eine Gefahr für meine Leser. Sie sollen Ron mögen, sie sollen gerne von ihm lesen. Auch auf die Gefahr hin, dass er es – vielleicht nicht in diesen und vielleicht auch nicht im nächsten Buch – nicht bis zum Ende schaffen wird. Ich werde dazu jetzt weder ja noch nein sagen, doch wenn wir dieses vorantreibende Element der Gefahr nicht haben, werden die Leute sagen: »Oh, das ist ein Deaver-Buch, hat ein Happy End, meine Handflächen werden nicht schwitzen, ich lege es zur Seite und lese es später.« Ich will, dass sie wissen, dass ich jeden in diesem Buch auf’s Spiel setzen werde.

Krimi-Couch: Er ist also ein zukünftiger tragischer Part?

Jeffery Deaver: Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich bin ein Autor von Spannungsromanen, ich muss meine Leser unter Spannung halten.

Krimi-Couch: In Ihren Romanen, besonders in denen mit Lincoln Rhyme, wird oft gesagt, dass New York eine Stadt ist, in der man leben kann, ohne bemerkt zu werden. Wie wichtig ist Anonymität für Serienmörder oder Thriller?

Jeffery Deaver: Ich dachte immer, dass der beängstigendste Ort der Welt der Mittlere Westen sei, wo ich aufgewachsen bin. Eine nur dünn besiedelte Gegend, es gibt keine Berge und Hügel, alles ist flach, hauptsächlich Ackerland. Und da gibt es wörtlich genommen, keinen Ort, um sich zu verstecken, frei nach O’Harrows Buch »No Place to Hide« – man ist schon sehr bloßgestellt. Das Problem dort, das Element der Angst dort ist eher das, dass man sich nirgends hinflüchten kann, sollte jemand hinter einem her sein.

Die Stadt ist dem komischerweise sehr ähnlich. Es gibt so dermaßen viele Menschen, dass man dazu neigt, überhaupt keinen zu sehen. Wäre ich beispielsweise ein Serienmörder im Mittleren Westen, wäre ich sehr exponiert und hätte Probleme damit, mich vor den Behörden zu verstecken. Man müsste sich dann schon ins Auto begeben und weit weg fahren. In New York steigt man in die U-Bahn, ist in zehn Minuten schon fünf Meilen weg und hat in aller Kürze schon dreißig- bis vierzigtausend Menschen zwischen sich und die Polizei gebracht.

Als ich in Manhattan gewohnt hatte, war das ein eigenartiges Phänomen, man hat praktisch nichts mitbekommen, nichts von anderen Menschen. Man bewegt sich in einer Menge, neben zehn anderen, die in die gleiche Richtung gehen, zehn Menschen, die einem entgegenkommen und denen man irgendwie ausweichen muss. Und ich fordere jeden heraus, der nicht bewusst versucht, sich die Gesichter der Menschen zu merken: Geht um eine Straßenecke und sagt zu einem Freund: »Beschreibe drei Leute, die uns gerade begegnet sind.« Sie könnten es nicht.

Krimi-CouchDer Knochenjäger, das erste Buch der Lincoln-Rhyme-Reihe, kam 1997 heraus …

Jeffery Deaver: Ja, ich glaube.

Krimi-Couch: …und die CSI-Serie fing 2000 an, also drei Jahre später. Sie waren also der erste, der in die Unterhaltungsliteratur Forensik brachte.

Jeffery Deaver: Ja, ich glaube wirklich, dass ich der erste war. Wir müssen aber auch dem Anerkennung zollen, der meine Figuren sehr beeinflusst hat: Conan Doyle, der die Sherlock-Holmes-Reihe geschrieben hat und von dem ich alle gelesen hatte, als ich noch recht jung war. Ich dachte dann, dass es Zeit wäre für einen geistreichen Helden. Ich muss gestehen, dass ich diese herkömmlichen Hollywood-Thriller nicht mag. Wir kennen sie ja alle, in denen der Held in der Schlussszene mit dem Schurken aufeinandertrifft, der Schurke ihn prügelt, er blutüberströmt ist und sich kaum wehren kann. Wir wissen natürlich, dass der Held sich wieder aufrappelt und den Bösewicht zurückschlägt. Oder irgendwo eine Pistole versteckt hat, sie herausholt und ihn erschießt. Das bringt mich zum Gähnen, wir haben das so oft gesehen.

Was ich wollte, war ein Held, der seinen Gegenspieler im Denken übertreffen muss. Lincoln Rhyme ist querschnittsgelähmt, er muss seine Gegner durch seine Intelligenz besiegen, körperlich ist er dazu nicht in der Lage. Au feine Art wie Sherlock Holmes, der zwar mobil war und hin und wieder auch eine Pistole trug. Aber darum ging es bei ihm ja nicht. Ich wollte einen dieser Helden erschaffen, auf den der Leser sich gefühlsmäßig einlassen kann, nicht einen aus diesen klischeehaften Geschichten, an die wir uns schon so gewöhnt haben.

Eigenartig daran war, dass dieses Buch eigentlich nie als eines einer Serie gedacht war. Arbeit am Tatortarbeit, Forensik – würde das überhaupt jemanden interessieren? Es stellte sich dann heraus, dass die Leute das fasziniert hat. Bis auf den einen, der nicht fasziniert war und das war mein Literaturagent: Als das Buch 1998 auf den Markt kam und sich auch das erste Interesse an einer Verfilmung zeigte, fragte ich ihn: »Warum reden wir nicht mal mit einem Fernsehsender? Wir könnten eine Fernsehserie über eine «Crime Scene Unit» machen.« Und mein Agent sagte: »Ach, Jeff. Wer will sich schon jemanden anschauen, der eine Stunde lang vor einem Mikroskop sitzt und auf diese Art Verbrechen aufklärt? Nie und nimmer, verschwende daran keinen einzigen Gedanken.« Zwei Jahre später kam CSI, »the harder show« – und sie läuft noch immer.

Krimi-Couch: Eine Ihrer Figuren sagt im Buch sogar »Dies ist nicht CSI« …

Jeffery Deaver: [lacht] Stimmt, ich stichele gelegentlich dagegen. Sie haben sich ein paar Dinge aus meinen Büchern abgeschaut, aber okay. Ich nehme das mit Humor.

Krimi-Couch: Interessant, dass Sie vorhin Sherlock Holmes erwähnten. In der Tat hat mich Ihr Roman ein wenig an die klassischen Whodunits der 20er-Jahre erinnert.

Jeffery Deaver: Oh ja.

Krimi-Couch: Zum Beispiel, wenn alle Fakten aufgelistet werden, die soweit bekannt sind. Ist das das selbe Prinzip?

Jeffery Deaver: Ja. Ich schreibe dafür, dass meine Fans – oder meine Götter – eine unterhaltsame Zeit haben. Meine Bücher sind komplex . Ich verkaufe viele, Millionen Bücher weltweit, was mir einen wunderbaren Lebensstil ermöglicht, was mich sehr erfreut. Ich gehöre aber nicht zur Elite von Krimiautoren, deren Bücher zugänglicher, ein wenig simpler sind – gleich gut, vielleicht auch besser. Ich schreibe Bücher, die intellektuell wie gefühlsmäßig ansprechen. Ganz zu Anfang habe ich mich entschieden, diese ganzen Tatortinformationen dem Leser so gut wie möglich zum Miträtseln zur Verfügung zu stellen. Alle vierzig, fünfzig Seiten fasse ich alle Beweise nochmals zusammen.

Das mache ich aus zwei Gründen: zum einen, um das Lesen zu erleichtern. Der Leser kann sich aussuchen, ob er diese Listen durchgeht oder überspringt, es sind ja Wiederholungen. Der andere Grund dafür ist: Wenn man sich diese Listen anschaut, ist man selbst in der Lage, das Verbrechen aufzuklären. Darin steht ein Hinweis, wer der Mörder oder was sein Plan ist. Andersherum ist manchmal auch das Fehlen eines Beweises der Hinweis. Ich prüfe mich selbst, gehe die Beweislisten durch, nur um sicherzustellen, dass dies wahr ist und es scheint wirklich so. Manche Leser wollen das nicht, sie wollen einfach die Geschichte lesen, das ist in Ordnung. Ich habe aber viele Fans, die zu mir sagen: »Jeff, ich habe herausgefunden, wer es war.«

In meinen Büchern habe ich drei überraschende Enden. Manche ahnen diese verschiedenen Enden, manche Wendungen haben vielleicht auch gar nichts damit zu tun, sondern mit dem Verhältnis der Personen. Überlicherweise schaffe ich es jeden an der Nase herumzuführen, zumindest ein Mal im Buch.

Krimi-Couch: In einem ihrer letzten Interviews haben Sie Ernest Hemingway mit »Es gibt keine guten Schreiber, nur Umschreiber«.

Jeffery Deaver: Ja, genau.

Krimi-Couch: Was heißt das für Sie?

Jeffery Deaver: Kurz gefasst beschreibe ich damit den Vorgang, wie meine Bücher entstehen. Ich schreibe jedes Jahr ein Buch, mindestens eines. Acht Monate verbringe ich mit der Gliederung, das ist mein Ganztagsjob. Am Ende wie bei Der Täuscher hatte ich dann 180 Seiten Gliederung. Die Seiten sind nur zur Hälfte beschrieben, in eine Spalte mache ich mir Notizen, aber sie sind einzeilig. Technisch gesehen könnte man von 90 Seiten Gliederung sprechen. Darin steht jeder Hinweis, jede Figur, wann sie die Bühne betrifft, wann sie sie verlässt, wann bestimmte Informationen preisgegeben werden, warum das an dieser Stelle passiert. Ich wiederhole mich, das ist ein Ganztagsjob. Die meiste Zeit verbringe ich mit dem Ende, um sicherzustellen, dass sich dann alles zusammenfügt.

Nach diesen acht Monaten schaue ich dann auf diese Gliederung und das von mir Recherchierte und erst dann schreibe ich das Buch selbst – in zwei Monaten. Es geht um die Struktur der Geschichte, wie sie sich entwickelt – nicht darum, wie man es ausdrückt. Das ist der leichte Teil, das Herausholen der Prosa. Der schwierige Teil ist, wohin sich die Geschichte entwickelt. Sobald das steht, ist das Buch schnell geschrieben.

Der erste Entwurf meiner Bücher ist aber sehr schluderig, außerdem sehr lang. Es ist nunmal viel einfacher, lang als kurz zu schreiben. Dann kommen die nächsten zwei Monate des Umschreibens, Umschreibens, Umschreibens, des Polierens, des Zusammenstreichens, des Herausnehmens von jeglicher Umschweife, des Herausnehmens von klobigen Fünfzehn-Wort-Sätzen, wenn ein Drei-Wort-Satz besser für den Leser ist. Genau hier kommt dann Hemingway dazu: Schreibe um, schreibe um und schreibe nochmal um.

Krimi-Couch: Dieses Interview zeigte Sie, wo sie in der Küche schreiben?

Jeffery Deaver: Ja, richtig. Ich habe ein Büro, in dem sich alles, was ich recherchiert habe, befindet. Und ein großer Schreibtisch. Alles Recherchierte, alle Bücher, alle Notizen. Und weil ich viel herumreise, Interviews gebe, auch jede Menge Geschäftliches. Um dem Chaos meines Büros zu entkommen, gehe ich oft zu meiner »Kücheninsel«. Und da kann ich stehen, ich sitze sonst schon so viel beim Arbeiten, es ist nunmal eine eher sitzende Tätigkeit. Im Stehen kann ich dann alles wegschreiben, habe aber auch einen Hocker, auf den ich mich hinsetzen kann. In der besonders arbeitsreichen Phase schütte ich auch meine Küche zu. Bei gutem Wetter mache ich dann auf der Terrasse weiter. Wenn ich fertig mit dem Buch bin, räume ich dann meine Küche und mein Büro auf.

Krimi-Couch: Diese Arbeitsdisziplin, ist das ein Erbe von Ihre deutschen Großmutter?

Jeffery Deaver: Oh, gut. Stimmt, obwohl sie selbst nicht nach Amerika gegangen ist, nur ihre direkten Nachkommen. Sie kam aus der Nähe von Stuttgart, wo genau, versuchen wir noch herauszufinden. Auf meiner Deutschlandreise war ich jetzt im Emigrationsmuseum in Hamburg und habe versucht, einige Verbindungen herauszufinden, hatte aber keinen Erfolg. Das Problem ist, dass ihr Familienname Schneider war, ein sehr gebräuchlicher deutscher Nachname. Es gibt bestimmt hunderttausende Schneiders. Meine Schwester ist Ahnenforscherin und beschäftigt sich damit schon einige Jahre, aber wir haben bisher noch kein Glück.

Wie auch immer, sie war eine sehr organisierte Frau und dazu eine gute Köchin. Ihr Sauerbraten war super!

Krimi-Couch: Meine letzte Frage: Lincoln Rhyme und Amelia Sachs geben ein paar Ausblicke in ihre Zukunft, zum Beispiel wenn Lincoln darüber nachdenkt, irgendwann eventuell geheilt zu sein oder wenn Pam die beiden auf ihre Hochzeit anspricht. Ich gehe mal davon aus, dass es einen Nachfolger zu Der Täuscher geben wird?

Jeffery Deaver: Als Spannungsautor werde ich natürlich nicht verraten, ob die beiden heiraten oder nicht. Das wird sich in zukünftigen Büchern zeigen. In Deutschland erscheint 2009 erstmal Der Täuscher, in Amerika kommt gegen Ende des Jahres aber mein neues Catherine-Dance-Buch heraus, »Roadside Crosses«, mein drittes in meiner »High-Tech-Trilogie«. Die »High-Tech-Trilogie« fing an mit »Lautloses Duell«, ein Stand-alone, Der Täuscher ist das zweite, weil es darin um Datenherbung und Privatsphäre geht. »Roadside Crosses« ist das dritte und letzte. Darin geht es um die Verantwortung des Bloggens und der neuen Medien: Ein kleiner Junge, der nichts Böses gemacht hat, wird online zur Zielscheibe in Sozialen Netzwerken und in einem Blog, einem von mir erfundenen. Seine Kommilitonen und Erwachsene stellen ihn als Schurken dar, nur auf der Grundlage von Gerüchten, was einige Konsequenzen mit sich bringt.

Ich schaue mir zukünftige Verbrechen an, die durch Grabkreuze am Straßenrand angekündigt werden. In Amerika sind das Gedenkstätten für Unfälle auf Autobahnen oder Highways, die natürlich in der Vergangenheit stattgefunden haben. Jetzt werden diese Grabkreuze als Ankündigung dessen, dass jemand aufgrund dieses Bloggens sterben wird, aufgestellt. Was ganz interessant ist: Ich beziehe mich auf dieses Blog im Buch mit einer URL, einer Adresse einer Website, und das reale Blog habe ich selbst geschrieben, das steht online im Netz. Auch wenn ich in diesem Buch keine Beweistabellen aufführe, können die Leser, wenn sie auf diese Adresse stoßen, diese eingeben und zu diesem Blog gehen, Zusatzhinweise bekommen, die ihnen behilflich sein können, das Verbrechen aufzuklären.

Entschuldigung, lange Antwort.

In zwei Jahren wird der nächste Lincoln-Rhyme-Roman erscheinen, der aber noch keinen Titel hat. Hauptthema ist die Energie-Krise und die Gefahren von Elektrizität. Nachdem meine Leser mit dem Buch durch sind, bin ich sicher: Sie werden nie wieder eine Glühbirne austauschen.

Das Interview führte Lars Schafft am 20.03.2009 im Rahmen der LitCologne.

Dr. Drewnioks
mörderische Schattenseiten

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