Lestrade und die Struwwelpeter-Morde

  • Rowohlt
  • Erschienen: Januar 1991
  • 3
  • London: Macmillan, 1985, Titel: 'The adventures of Inspector Lestrade', Seiten: 224, Originalsprache
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1991, Seiten: 252
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Stefan Heidsiek
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonMär 2010

Rehabilitierung eines Rattengesichts

Es ist der Frühsommer des Jahres 1982. Meirion James Trow sitzt im Pfarrhaus des Dorfes Havenstreet auf der Isle of Wight grübelnd über einigen Manuskripten. Er will seiner Frau ein unterhaltsames und amüsantes Buch schreiben, das möglichst im 19. Jahrhundert spielen soll. Trow, der selbst Geschichte studiert hat, ist von der viktorianischen Ära besonders angetan. Schließlich sind es die Sherlock Holmes-Filme mit Basil Rathbone in der Hauptrolle, welche ihn auf die richtige Idee bringen. Doch anstatt nur ein weiteres von vielen Holmes-Pastichés zu Papier zu bringen, geht er, auch zur Überraschung seiner Frau, einen anderen Weg. Die unangenehmen Charakterzüge des größten Detektivs sind ihm nämlich längst zuwider. Holmes tut niemals das Falsche, ist heiliger als ein Eid und fast eine Art Übermensch. Ein Übermensch ohne Herz, dem Trow nun seinen eigenen Helden entgegensetzt: Inspector Sholto Lestrade von Scotland Yard.

Von allen Ermittlern des Yards taucht Lestrade am häufigsten in den Holmes-Fällen Sir Arthur Conan Doyles auf. Nicht selten charakterisiert als ein störendes Ärgernis, das zwar schnell und energisch, aber auch entsetzlich konventionell handelt, wenn zur Tat geschritten wird. Dr. Watson beschreibt Lestrades ersten Auftritt in Eine Studie in Scharlachrot (1887) dergestalt: "Es gab da einen kleinen blassen Burschen mit Rattengesicht und dunklen Augen, der mir als Mr. Lestrade vorgestellt wurde". Trow macht den gebeutelten Inspector nun zum ungeschickten, eifrigen Helden aus der Arbeiterklasse und beginnt mit der Rehabilitierung dieses Rattengesichts. Das Buch schreibt er in seiner Freizeit, das fertige Manuskript wandert durch einige Verlage. Bis schließlich das renommierte Londoner Haus Macmillan die Geschichte 1985 unter dem Titel The Adventures of Inspector Lestrade abdruckt und damit eine, vor allem in England, beeindruckende Erfolgsserie ihren Lauf nimmt.

England, 1891. Inspector Sholto Lestrade knabbert immer noch an der Tatsache, dass man ihn während des Ripper-Falls weitestgehend außen vor gelassen und keinen Einblick in die Akten gewährt hat. Sein Vorgesetzter vom Scotland Yard, Melville McNaghten, will von der grausamen Mordserie in Whitechapel am liebsten nichts mehr hören. Zu sehr hat die Reputation der Polizeibehörde unter den vielen Fehlschlägen bei der Jagd auf Jack the Ripper gelitten. Da kommt es ihm schon fast entgegen, dass ein neuer, brutaler Mord, die Aufmerksamkeit auf sich zieht und gleichzeitig die Möglichkeit bietet, den guten Ruf des Yards wiederherzustellen.

In einer Schlucht an der Küste der Isle of Wight ist eine Leiche gefunden worden. In stehender Position festgebunden, bietet sie einen grausamen Anblick. Struppiges, abstehendes Haar sowie übermäßig lange Fingernägel verstärken diesen Eindruck noch. Und selbst Lestrade, ermittelnder Beamte vor Ort, muss tief Luft holen, bevor er sich an die Untersuchung des Körpers machen kann. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Es ist der Auftakt einer ganzen Reihe von schrecklichen Morden, welche allesamt nach dem Vorbild der Geschichten des "Struwwelpeters" begangen werden. Für Lestrade, der immer mehr unter Druck gerät, wird es zu einem persönlichen Wettkampf, den es mit allen Mitteln zu gewinnen gilt …

Lestrade und die Struwwelpeter-Morde teilt das Schicksal von vielen guten Büchern der letzten Jahre. Im Rowohlt Verlag auf Deutsch erschienen, sorgte die wohl vergleichsweise geringe Resonanz beim Lesepublikum dafür, dass nur neun der sechzehn Lestrade-Bände übersetzt wurden, und selbst diese sich nur kurze Zeit der Lieferbarkeit erfreuen durften. Worin liegt dieses Desinteresse begründet? An der äußeren Aufmachung kann es nicht hängen, denn diese ist selbst für Rowohlt-Verhältnisse äußerst ansprechend geraten. Jedes Buch ist nicht nur liebevoll verziert und mit Fotos versehen, es enthält ebenso einen informativen Anmerkungsteil sowie ein abschließendes Kapitel, in dem Trow näher von seiner Arbeit berichtet. Ein absolutes Kaufargument, besonders für Freunde des viktorianischen Zeitalters, die eine ganze Reihe historischer und literarischer Fakten geboten bekommen, welche die ungemein authentische Atmosphäre der beschriebenen Fälle noch untermauern. Einen Bock, und zwar bei der Wahl des deutschen Titels, hat der Verlag dann aber dennoch geschossen. Während die englischen Leser bis Seite 94, auf der Lestrade erst den Zusammenhang mit dem Kinderbuch herstellt, fleißig miträtseln dürfen, verfolgt man hierzulande die Ermittlungen mit einer gewissen Ungeduld, da man ja bereits weiß, dass es sich um "Struwwelpeter-Morde" handelt. Ein absolut unverzeihlicher Patzer, der dem Leseerlebnis einen Großteil seiner Spannung raubt.

M.J. Trows Erstling ist natürlich mehr als nur ein Kriminalroman, sondern in erster Linie eine augenzwinkernde Abrechnung mit Sir Arthur Conan Doyles Werken, die dessen geliebte Fiktion mit der schnöden Wirklichkeit konfrontiert. Die Übergänge zwischen historischer Realität und literarischen Phantastereien sind so fließend wie anspielungsreich und entlarven Trow als einen echten Kenner des viktorianischen Zeitalters. Oscar Wilde, der Duke of Clarence (damals ein heißer Ripper-Kandidat) und Jack the Ripper höchstpersönlich sind nur ein paar der historischen Figuren, die Lestrades Welt bevölkern. Eine Welt, die man zu kennen glaubt und die dann doch in vielen Dingen etwas anders wirkt. Bestes Beispiel dafür ist dieser hitzige Dialog Arthur Conan Doyles mit seinem Verleger:

 

"Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir meine Manuskripte wieder aushändigen würden. Ich werde das Geschäft anderswo machen. Es ist sonnenklar, dass die Firma Blackett von guter Literatur keinen Schimmer hat. Sie will billigen Ramsch, über den sogar das … Strand Magazine die Nase rümpfen würde."
Conan Doyle hatte die Tür erreicht.
"Übrigens … diese Hand da." Er deutete gebieterisch auf Blackett. Der Verleger starrte auf seinen Arm, als sei dieser gerade abgetrennt worden.
"Nicht der Arm, Mann ... die Finger."
"Die Finger … was ist mit ihnen?" Blackett war verblüfft.
"Wenn ich mich nicht irre – die Grockel'sche Krankheit. In Southsea haben wir eine Menge Fälle. Armer Kerl – wahrscheinlich unheilbar. Guten Morgen."

 

Detailverliebt, wortgewandt und äußerst amüsant nimmt Trow Doyles Welt, und letztendlich natürlich besonders Sherlock Holmes, aufs Korn. Der meisterhafte Detektiv ist hier kaum mehr als ein kokainsüchtiger Amateur, der von Watsons dauernder Anwesenheit an den Rand des Wahnsinns gebracht wurde. Ein Umstand, welcher dem Doktor natürlich völlig entgangen ist. Dieser ist allerdings auch zu sehr damit beschäftigt, eine Klage gegen Doyle vorzubereiten, der seiner Meinung nach geistiges Eigentum geklaut und sich an Watsons Geschichten bereichert hat. Trotz all dieser parodistischen Anspielungen funktioniert Lestrade und die Struwwelpeter-Morde auch als Spannungsroman hervorragend. Das liegt nicht zuletzt an Lestrade selbst, der zäh und unerbittlich sein Ziel verfolgt und mangelnde Genialität mit zielgerichtetem Ehrgeiz kompensiert. So bieten die gerade mal 227 Seiten Buch (ohne Anhang und Nachwort) ein actionreiches, fesselndes Kaleidoskop auf stilistisch hohem Niveau und entlarven gegen Ende einen Mörder, mit dem man ganz sicher nicht gerechnet hat.

Insgesamt ist Lestrade und die Struwwelpeter-Morde temporeicher Kriminalroman und treffend formuliertes Gesellschaftsporträt zugleich. Ein Buch, das trotz all seiner Häme auch die Freunde von Sherlock Holmes ansprechen dürfte. Eine Wiederveröffentlichung wäre mehr als verdient.

Lestrade und die Struwwelpeter-Morde

M. J. Trow, Rowohlt

Lestrade und die Struwwelpeter-Morde

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