von Dr. Michael Drewniok

John Dickson Carr - der Meister des unmöglichen Mordes

Hinaus in die (alte) Welt!

John Dickson Carr, der so wunderbare englische Kriminalromane schrieb, wurde am 30. November 1906 in Uniontown, einem noch heute winzigen Städtchen nahe der Südgrenze des US-Staats Pennsylvania geboren. Nach der Schulzeit zog er 1925 in die südöstliche Ecke dieses Staates und begann am Haverford College zu studieren. Damals wie heute lehrte man hier die sog. „Freien Künste“, denen sich Carr schon früh verbunden fühlte. Dabei folgte er einem praktischen Ansatz: Er wollte seinen Lebensunterhalt als Autor verdienen. Deshalb war er eher an der Schreibmaschine als im Hörsaal anzutreffen. Carr entdeckte den Krimi für sich, übte sich aber auch in anderen Genres. Ab 1926 entstanden erste Kurzgeschichten, die zunächst in der Studentenzeitschrift „The Haverfordian“ erschienen.

Carr ging nach Europa, wo er sich zwar an der berühmten Sorbonne einschrieb, aber wiederum meist außerhalb des Campus zu finden war. Das Studium schloss er 1929 dennoch ab. 1930 veröffentlichte Carr sein Romandebüt „It Walks by Night“ (dt. „Geheimnis um Saligny“ bzw. „Elf Uhr Dreissig“). Der Aufenthalt in Paris kam ihm insofern zugute, als er die Stadt als Kulisse nutzen konnte. In den Mittelpunkt des Geschehens stellte Carr mit dem Polizeipräfekten Henri Bencolin die erste seiner überlebensgroßen, ebenso genialen wie exzentrischen Ermittlerfiguren; dies machten auch zwei Wirbel deutlich, die Bencolins Schläfenhaar beidseitig wie kleine Teufelshörner aufstellten.

Der Roman wurde gut aufgenommen, und Carr wechselte endgültig ins Autorenlager. Nach der Weltwirtschaftskrise war die Situation für freischaffende Künstler allerdings noch unsicherer als sonst. Carr begegnete dem mit unglaublichem Arbeitseinsatz. Bis zu 18 Stunden saß er nach eigener Auskunft an seinem Schreibtisch. Er schrieb schnell und konnte sich auch durch seine Präsenz einen Namen machen, dessen guter Klang durch die Qualität seiner Krimis unterstrichen wurde.

Fasziniert von gruseliger Gemütlichkeit

Europa hatte es Carr sofort angetan. Seine Faszination richtete sich lebenslang auf alte Städte, verfallene Schlösser, verwunschene Plätze und Friedhöfe. Die fand er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland oder England, weshalb er eifrig reiste. Was er vor Ort besichtigte und in Erfahrung brachte, floss in seine Werke ein, die durch solches Hintergrundwissen zusätzlich gewannen: Volker Neuhaus weist in seinem Nachwort zu „Die schottische Selbstmordserie“ (DuMont's Kriminal-Bibliothek. Bd. 1018) darauf hin, dass Orte und Landschaften bei Carr deshalb so lebendig und scharf konturiert wirken, weil hier ein Fremder seine neue/n Heimat/en entdeckt und ihm dabei Dinge auffallen, die den Einheimischen längst zur Selbstverständlichkeit geworden sind.

Carr spezialisierte sich auf den zeitgenössisch genreprägenden Rätselkrimi, auch „Whodunit“ genannt, weil die Frage nach dem jeweiligen Täter im Vordergrund der Handlung steht. Die begangene Untat muss möglichst verwickelt sein, ohne aber ‚Erklärungen‘ zu benötigen, die im Übernatürlichen wurzeln. „Fair Play“ ist Pflicht, und dazu gehören Hinweise auf Tathergang und Täter, die der Autor jedoch so unauffällig einschmuggeln darf sowie soll, dass die Leser ihm (oder ihr) keinen Vorwurf machen können, wenn die Auflösung doch eine Überraschung darstellt: Dies ist als Alternative zur eigenen Klärung des Falls unbedingt statthaft.

Schon früh trieb es Carr in dieser Hinsicht auf die Spitze. Er spickte seine Krimis förmlich mit ‚Hinweisen‘ auf Spuk, mysteriöse Ereignisse und uralte Flüche, die er voller Wonne und sehr talentiert = stimmungsvoll zelebrierte, um sie im Finale umso drastischer zu entzaubern. Hinzu kam sein Talent, Kapitalverbrechen zu präsentieren, die so wie von den schockierten Zeugen beobachtet gar nicht geschehen sein konnten. Carr wusste, wie leicht sich die Sinne und das Gehirn täuschen lassen. Gaukelt man ihnen Logik vor, wird dies als Realität wahrgenommen. Wie ein Bühnenmagier oder Illusionist sorgte Carr immer wieder für Kulissen, in denen er die Requisiten geschickt, aber trügerisch platzierte. Ewig angestrebtes, aber von anderen Autoren selten erreichtes Vorbild ist „The Crooked Hinge“ („Die Tür im Schott“): Spielerisch und mit atemberaubender Geschwindigkeit stellt Carr mehrfach die Indizien seines Plots vor, um sie dann zu verwerfen und zu einem neuen Tatbild zu formen.

In seiner großen Zeit überrumpelte er sein Publikum mit fabelhaften Auflösungen. Vor allem in den 1930er Jahren gehörte Carr zu denen, die den Rätselkrimi maßgeblich prägten. Vieles von dem, was wir bis heute mit dem Genre verbinden, geht auf ihn zurück. Nicht grundlos nannte Douglas G. Greene seine Carr-Biografie von 1995 „The Man Who Explained Miracles“! Carr selbst ließ Dr. Fell in „The Hollow Man“ / „The Three Coffins“ („Der verschlossene Raum“) 1935 zusammenfassen, was den typischen Whodunit ausmacht. Dieses Kapitel wurde immer wieder und wird weiterhin zum Thema Rätselkrimi zitiert, denn präziser als Carr kann man sich zu diesem Thema kaum äußern.

Zwei erinnerungswürdige Ermittler

1931 heiratete Carr die Engländerin Clarice Cleaves (1909-1993). Das Paar siedelte sich zwei Jahre später auf der Insel an, wo es - nach und nach durch drei Töchter zur Familie verstärkt - bis 1948 ansässig blieb. Nunmehr prägte England Carrs Werk. Henri Bencolin trat in den Hintergrund und kehrte nur 1937 für einen fünften und letzten Fall zurück. Stattdessen schuf Carr in rascher Folge nicht nur einen, sondern gleich zwei Ermittlerfiguren, die in die Geschichte der Kriminalliteratur eingingen: 1933 stürmte Dr. Gideon Fell in „Hag’s Nook“ (dt. „Tod im Hexenwinkel“) das Genre, und im Jahr darauf folgte ihm Sir Henry Merrivale in „The Plague Court Murders“. Fell trat bis 1967 in 23, Merrivale bis 1953 in 22 Büchern auf; hinzu kamen Kurzgeschichten mit beiden Ermittlern.

Damit war Carrs Schaffensdrang längst nicht verpufft. Immer wieder schrieb er serienunabhängige Romane, sodass seine Verleger unruhig wurden und sich fragten, ob der Markt einen solchen Input verkraften würde. Die ‚Lösung‘: Die Merrivale-Krimis erschienen unter einem ‚Pseudonym‘. Carr selbst fand „Carter Dickson“ in keiner Weise originell, und tatsächlich ließen die Leser sich nicht wirklich täuschen.

Sowohl Gideon Fell als auch Henry Merrivale sind Figuren, die so nur in Carrs Romanen glaubhaft handeln können. „Larger than life“ sind sie beide, wobei sich Carr grob an realen Vorbildern orientierte: Merrivale hat viel von Winston Churchill (1874-1965), während Fell dem (Carr persönlich bekannten) Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) - er schuf die Figur des Father Brown - zumindest äußerlich sowie (scheinbar) im Wesen gleicht. Beide sind sie fortgeschrittenen Alters, groß, dazu beleibt und stechen so schon körperlich heraus. Fell gibt sich anfangs noch als Invalide und schleppt sich an zwei Krücken voran, die wohl eher Requisiten sind; später begnügt er sich jedenfalls mit einem einzigen Gehstock.

Sie scheren sich nicht um Mode und vor allem nicht um gesellschaftliche Regeln, wobei ihnen die Zugehörigkeit zur Oberschicht Autorität und Narrenfreiheit verleiht. H. M. = „His Majesty“ nennt man Merrivale. (In Deutschland wurde daraus S. M. = „Seine Majestät“, weshalb „Henry“ hierzulande „Stanley“ hieß.) Hinzu kommen akademische Titel und hohe Ämter, weshalb beide Männer hervorragend vernetzt sind.

Fell und vor allem Merrivale sind Meister des scheinbar unbedachten, nebensächlichen Tabubruchs, durch den sie ihre in etablierten Strukturen verhafteten Mitmenschen = Zeugen/Verdächtige aus dem Gleichgewicht bringen. Sie registrieren unauffällig, aber sehr genau, wo sich dadurch Risse in Masken und Alibis auftun, um diese gezielt zu erweitern.

Aus heutiger Sicht gehen sie beide oft dort zu weit, wo sich besagte Regeln inzwischen grundlegend geändert haben. So kommen Fell und Merrivale nicht selten ein wenig satyrhaft herüber, wenn sie sehr vertraulich mit deutlich jüngeren Frauen ‚plaudern‘, die alte, weise Männer einst ‚väterlich‘ tätscheln und mit zweideutigen Reden erröten lassen durften. Typisch ist Sir Henrys Äußerung (in „Night at the Mocking Widow“, 1950), die aus seiner (und Carrs) Sicht eine Schmeichelei darstellt: „Hör’ mal, Mädchen: Hat dir schon mal irgendwer gesagt, dass du eine Figur hast, die Aphrodite aussehen lässt wie einen Lumpensack im Gewittersturm?“

Man muss sich vor Augen halten, dass diese Romane in einer Ära entstanden, als Ehefrauen noch ihren Gatten und Töchter ihren Vätern ‚gehörten‘ - dies sogar vor dem Gesetz. Insofern sollte man sich auch nicht darüber aufregen, dass junge Frauen bei Carr wie in den meisten zeitgenössischen Krimis als „damsels in distress“ auftreten, also in Verdacht und Lebensgefahr geraten, gerettet und geheiratet werden müssen. Tatsächlich nimmt die Kritik Carr diesbezüglich sogar ein wenig in Schutz; vor allem in seinen späteren Werken gewannen die Frauen an Eigenleben und Initiative.

Fells und Merrivales exzentrisches Gehabe und ihr manchmal sogar bizarres Auftreten darf man nicht auf den Gag reduzieren. Wenn Merrivale beispielsweise für ein Bild als römischer Senator in Sandalen und Toga Modell steht und ‚vergisst‘ sich umzuziehen, als er (als tollkühner Fahrer eines übermotorisierten Krankenfahrstuhls) zu einem Tatort aufbricht („She Died a Lady“, 1943; dt. „Spuren am Klippenrand“), ist dies erneut auch ein Trick, um Wellen zu schlagen, die hoffentlich Informationen an die Oberfläche schwemmen.

Wenn dies geschieht, schnappen die beiden Männer zu. Von ihrer Jovialität lasse man sich nicht täuschen. Fell und Merrivale (und erst recht Bencolin) sind Jäger und Täter deshalb nicht nur Sparringspartner, mit denen man sich geistig misst, sondern auch Beute, die buchstäblich zur Strecke gebracht wird: In diesem „Merry old England“ gilt noch die Todesstrafe, aber das bereitet weder Fell noch Merrivale Kopfzerbrechen. Selten haben sie Mitleid mit Tätern. (In diesem Fall schreitet Autor Carr gern als „Deus ex machina“ ein und beschert den Unglücklichen ein ‚sauberes‘ Ende durch Selbstmord, Fronteinsatz oder Unfall.)

Mehr noch als andere Privatdetektive knausern sie mit Hinweisen. Fragt man sie nach dem Stand der Ermittlungen, lenken sie ab, verwirren durch scheinbar sinnlose Äußerungen oder weigern sich überhaupt zu sprechen. Erst im „Großen Finale“ lassen sie sich dazu herab, den versammelten Anwesenden und natürlich den Polizisten unter die Nasen zu reiben, was diese übersehen haben und nur ihnen aufgefallen ist. Fell und Merrivale sind nicht sympathisch, aber interessant, was dabei hilft, eine oft langwierige (oder langweilige) und statische Ermittlung zu beleben.

Präsent in sämtlichen Medien

In England wurde Carr nicht nur heimisch, sondern von den örtlichen Autorenkolleginnen und -kollegen auch herzlich empfangen. 1936 nahmen sie ihn (als ersten US-Amerikaner überhaupt) in den erlesenen, acht Jahre zuvor in London gegründeten „Detection Club“ auf, wo er an der Seite von Agatha Christie, Anthony Berkeley oder Dorothy L. Sayers thronte.

Auch während des Zweiten Weltkriegs hielt Carr seine erstaunliche Produktivität aufrecht. Er verabscheute die Nazis, leistete quasi Kriegsdienst als Autor und schrieb für die BBC Propagandatexte, scriptete aber ab 1939 auch zahlreiche Krimi- und Mystery-Hörspiele, die er selbst verfasste oder für das Medium bearbeitete. „Cabin 13“, entstanden 1943, wurde so erfolgreich, dass der US-Sender CBS das Stück als Grundlage einer 23-teiligen, nur in den USA gesendeten Serie aufgriff. Carr scriptete sämtliche Episoden. 1955 kehrte er noch einmal zum Radio zurück.

Kino und Fernsehen griffen mehrfach Carr-Werke auf. So erwarb das Hollywood-Studio MGM eine Kurzgeschichte („The Gentleman from Paris“ von 1949). „The Man with a Cloak“ (dt. „Der Mann in Schwarz“), im New York des Jahres 1848 angesiedelt, gilt als 1951 hochprofessionell produziertes und prominent (Joseph Cotton, Barbara Stanwyk, Louis Calhern, Leslie Caron) besetztes Melodram mit Thriller-Elementen, wurde aber gleichzeitig wegen seiner gemächlichen Gangart kritisiert. Carrs Hang zum Mystischen zeigt sich in der Doppelidentität des Hauptdarstellers, hinter der sich Edgar Allan Poe persönlich verbirgt.

Obwohl als B-Movie und deshalb möglichst kostengünstig von Routinier Joseph M. Newman (1909-2006) realisiert - die Schiffskulisse hatte das Studio 20th Century Fox bereits für drei Großproduktionen genutzt -, geriet „Dangerous Crossing“ (dt. „Gefährliche Überfahrt“) deutlicher straffer und spannender. Mit damals bekannten Schauspielern wie Jeanne Craine, Michael Rennie oder Mary Anderson wurde 1953 solide Thriller-Kost nach einem von Carr gescripteten Hörspiel geboten.

1954 entstand in England die Serie „Colonel March of Scotland Yard“, die auf einer von Carr in mehreren Kurzgeschichten eingesetzten Polizei-Figur basierte. Die Hauptrolle spielte niemand Geringerer als Boris Karloff - Frankensteins Ungeheuer!

„The Burning Court“ (dt. „Die Doppelgängerin“) war ebenfalls ein in der Vergangenheit spielender Mystery-Thriller, den Carr 1937 mit intensiven Schauerelementen versah. Der französische Regisseur Julien Duvivier (1896-1967), der schnell und routiniert vor allem unterhaltsame Genreware drehte, inszenierte 1962 mit „La chambre ardente“ (dt. „Das brennende Gesicht“) ein wüstes, inhaltlich konfuses, aber großzügig ausgestattetes und prächtig (bunt) gefilmtes Spektakel (mit der deutschen Schauspielerin Nadja Tiller in der Hauptrolle).

Als Kuriosum sei noch „Mado no naka no satsujin“ erwähnt, ein 1983 in Japan entstandener TV-Film nach dem Roman „The Emperor's Snuff-Box“ (dt. „Des Kaisers Schnupftabakdose“) von 1942. Er ist ein Beleg dafür, dass Carr auch im nicht europäischen Ausland ‚funktionierte‘.

Die Heimat verloren

Carrs Wissen beschränkte sich nicht auf die eigenen Werke. Er kannte sich vorzüglich in der Geschichte des Genres aus. Ende der 1940er Jahre übernahm er es, eine Biografie des Sherlock-Holmes-Vaters Arthur Conan Doyle (1859-1930) zu verfassen. Für dieses Werk wurde er 1950 von den „Mystery Writers of America“ (MWA) mit einem „Edgar Award“ ausgezeichnet. (Im Vorjahr hatte er als Präsident dieser Organisation amtiert.) Vier Jahre später schrieb Carr gemeinsam mit Doyles Sohn Adrian Conan Doyle (1910-1970) sogar eigene, ‚neue‘ Holmes-Geschichten, die als „The Exploits of Sherlock Holmes“ (dt. „Sherlock Holmes Nachlass“, Bd. 1 u. 2) erschienen.

1948 siedelte Carr zurück in die Vereinigten Staaten. In den nächsten Jahren blieb er unstet, zog immer wieder um. Gattin Claire kehrte mit den Töchtern nach England zurück, weil Carr Wohnungen und Häuser, in denen man sich gerade erst niedergelassen hatte, schon wieder aufgab. Das Paar blieb verheiratet, obwohl Carr in den nächsten Jahrzehnten mehrere, meist kurze Affären einging.

Er hatte seine Wurzeln verloren, kam mit der Welt nach 1945 und ihren durch die Kriegserfahrungen geprägten Veränderungen schwer zurecht. Unter einer Labour-geführten Regierung vermisste Carr ‚sein‘ Vorkriegsengland, jene gemütliche, altertümliche Inselnation mit ihren Clubs und Literaturzirkeln, dem gemächlichen Alltagsleben und den Nischen, in denen man dem Alltag entrinnen konnte. Das ‚neue‘ England war ihm zu organisiert, sogar reglementiert, das moderne Alltagstempo zu hoch. Er, der in einem liberalen Elternhaus aufgewachsen war, wurde zunehmend konservativ. Carr fühlte sich heimatlos. Hektisch reiste er durch Europa und besuchte auch Nordafrika, was sich in einem Merrivale-Roman niederschlug („Behind the Crimson Blind“, 1952, dt. „Treffpunkt Tanger“).

Krank und ausgebrannt

Ende der 1950er Jahre stellten sich ernsthafte Gesundheitsprobleme ein. Carr hatte immer Raubbau mit seinem Körper getrieben. Kraft für endlose Tage und Nächte am Schreibtisch hatten ihm Alkohol und missbräuchlich verwendete Medikamente (sowie unzählige Zigaretten) gegeben, wobei die Dosen stetig zunahmen. Rat und ärztliche Hilfe verschmähte Carr, bis es zu spät war: Im Frühling 1963 erlitt er einen Schlaganfall, der seine linke Körperhälfte paralysierte. Auch das Gehirn war betroffen, was zunächst in seiner Intensität auch von Carr selbst nicht begriffen wurde: Er schien auf die Behandlung gut anzusprechen, auch wenn seine linke Seite und vor allem die Hand nie wieder die alte Kraft zurückgewann. Tatsächlich kehrte Carr erstaunlich rasch an den Schreibtisch zurück. Bald hatte seine Produktivität die alte Schlagzahl wieder erreicht. Er übernahm sogar eine Kolumne („The Jury Box“) und rezensierte Krimis für „Ellery Queen’s Mystery Magazine“.

Aber etwas hatte sich verändert. Schon vor dem Schlaganfall hatte Carr den Anschluss an die moderne Krimi-Szene verpasst (wenn er sie überhaupt gesucht hatte). Nostalgie wurde ein stetig an Intensität gewinnender Faktor, der seine Werke bestimmte. Die „Goldene Ära“ war vorüber, Gestalten wie Gideon Fell und Henry Merrivale waren längst und buchstäblich aus der Zeit gefallen. Carr bemühte sich, Nischen für sie in einer Gegenwart zu finden, die sie hinter sich gelassen hatte.

Diesen Bodenverlust hatte er lange durch seine weiterhin staunenswerten Plots auffangen können. Doch dieses Talent kam ihm nun abhanden. Nicht nur die späten Krimis um Fell und Merrivale spiegeln die Anstrengungen eines Verfassers wider, der mit sich selbst nicht mehr mithalten, geschweige sich übertreffen konnte. Die Plots wurden mechanisch, und Carr griff auf eigene, frühere Ideen zurück. Es dauerte nicht lange, bis der Niedergang bemerkt wurde. Carrs Name war immer noch groß. So wurden auch seine neuen Werke gedruckt, die professionell geschrieben waren, aber verloren hatten, was Carrs Krimikunst ausgemacht hatte.

Zum Teil war sich Carr dieser Tatsache bewusst. Schon um 1950 hatte er zu experimentieren begonnen. Noch am besten gelangen ihm seine Historienkrimis (u. a. „The Bride of Newgate“, 1950; „Captain Cut-Throat“, 1955, dt. „Ihr ergebener Halsabschneider“; „The Demoniacs“, 1962, dt. „Die schmutzige Stadt“). Carr profitierte von seinem Wissen, schwelgte in Dreispitz-und-Degen-Romantik, denn selbstverständlich kannte er sich hervorragend in der Kriminalgeschichte des 16. bis 19. Jahrhunderts aus. In seinen Romanen erwähnte er immer wieder alte, obskure, gruselige Mordfälle, was zur besonderen Stimmung des typischen Carr-Krimis beitrug: So lässt er in „The Problem of the Green Capsule“ (1939, dt. „Die grüne Kapsel“) Dr. Fell einen ausführlichen Vortrag über historische Giftmörder halten.

Die in der Vergangenheit spielenden Krimis ersparten Carr das Bemühen, krampfhaft den Anschluss an die kriminalliterarische Gegenwart zu suchen. (Übrigens konnte er durchaus ‚geradlinig‘ plotten, wie er 1940 mit der Story „The Incautious Burglar“/„A Guest in the House“, dt. „Böse Gäste“/„Der unachtsame Einbrecher“, oder 1949 mit dem Roman „Death Turns the Tables“, dt. „... auf dass ihr nicht gerichtet werdet“ bewies.) Er übersprang die Grenze zum Übernatürlichen: In „The Devil in Velvet“ (1951, dt. „Der Teufel in Samt“) verkauft der Protagonist buchstäblich dem Teufel seine Seele, damit dieser ihn ins Jahr 1675 versetzt, wo er einen nie geklärten Mordfall lösen bzw. verhindern (und anschließend den Teufel um seinen Preis prellen) will.

Weniger erfreulich fielen jene Werke aus, in denen Carr Krimi-Handlungen mit dem verknüpfte, was er unter „Leidenschaft“ verstand. (Besonders gewarnt sei vor „Patrick Butler for the Defense“, 1956, dt. „Der Zauberer“!) In dieser Hinsicht hatte er nie eine besondere Begabung an den Tag gelegt, und nun wurde es peinlich, wenn er altmodisch-ungelenk in Gefühlswelten eintauchen wollte, in denen er eindeutig fremd war. Einige Carr-Kenner glauben, dass die vom Verfasser nun immer wieder eingefädelten Liebschaften zwischen mittelalten Männern und betont jungen Frauen Carrs private Midlifecrisis widerspiegelten. Wenigstens in der Fiktion wollte er seinen Alters- und Leidensgenossen jene Chancen gewähren, die ihm in der Realität verwehrt blieben.

Das letzte Kapitel

Es begann die Phase der Ehrungen. Man zeichnete Carr für das aus, was er dem Genre einst gegeben hatte. 1963 verliehen ihm die „Mystery Writers of America“ einen „Grand Master“ und damit die höchste Auszeichnung, die in der angelsächsischen Krimiwelt existiert. 1970 folgte ein zweiter „Edgar“ zu Ehren des 40-jährigen Autorenjubiläums. Es wurde Zeit, denn Carrs Gesundheit begann ihn endgültig im Stich zu lassen. 1972 erschien ein letzter Roman. Nicht gerade unerwartet wurde kurz darauf Lungenkrebs festgestellt. Die letzten Jahre waren hart für Carr, bis ihn der Tod am 27. Februar 1977 kurz nach seinem 70. Geburtstag in Greenville, US-Staat South Carolina, erlöste. Zurück blieben seine Witwe, die drei Töchter sowie fünf Enkelkinder.

Wirklich alt war John Dickson Carr nicht geworden. Er hinterließ dennoch ein nicht nur quantitativ reiches Werk. Vieles ist Durchschnitt, manches wäre besser nie erschienen, doch das schmälert Carrs Verdienst keineswegs. Der Rätselkrimi, ein Genre, das Kritiker oft altmodisch und selbstverliebt nennen, konnte seine Beliebtheit bis heute behaupten - und wäre ohne Carr undenkbar. Sicher nicht grundlos haben Fachleute, die sich mit dem Krimi auskennen, „The Hollow Mann“ (dt. „Der verschlossene Raum“) von 1935 zum besten Whodunit aller Zeiten gekürt!

Werke

Henri-Bencolin-Serie

  • (1930) It Walks by Night
  • Elf Uhr Dreissig
  • (1931) Castle Skull
  • Tod im Flammentanz/Die Schädelburg
  • (1931) The Lost Gallows
  • Die Straße des Schreckens
  • (1932) The Corpse in the Waxworks/The Waxworks Murder
  • Der Klub der bunten Masken/Der Club der Masken/Club der Masken
  • (1937) The Four False Weapons

Dr.-Gideon-Fell-Serie

  • (1932) Hag's Nook
  • Tod im Hexenwinkel
  • (1933) The Mad Hatter Mystery
  • Der Tote im Tower
  • (1934) The Eight of Swords
  • Schatten der Vergangenheit
  • (1934) The Blind Barber
  • Der blinde Barbier
  • (1935) Death-Watch
  • Der vergoldete Uhrzeiger
  • (1935) The Hollow Man/The Three Coffins
  • Der Unsichtbare/Der verschlossene Raum
  • (1936) The Arabian Nights Murder
  • Mord aus Tausenduneiner Nacht
  • (1937) To Wake the Dead
  • Der magische Stein/Die Toten wecken
  • (1938) The Crooked Hinge
  • Die Tür im Schott
  • (1939) The Black Spectacles/The Problem of the Green Capsule
  • Die grüne Kapsel
  • (1939) The Problem of the Wire Cage
  • Tennisspieler und Seilakrobaten/Mord am Netz
  • (1940) The Man Who Could Not Shudder
  • Das verhexte Haus
  • (1941) The Case of the Constant Suicides
  • Verwirrung auf Schloss Shira/Die schottische Selbstmord-Serie
  • (1942) The Seat of the Scornful/Death Turns the Tables
  • ... auf dass ihr nicht gerichtet werdet
  • (1944) Till Death Do Us Part
  • Der Wahrsager und die Wahrheit
  • (1946) He Who Whispers
  • Der Flüsterer
  • (1947) The Sleeping Sphinx
  • Die schlafende Sphinx
  • (1949) Below Suspicion
  • Das umgekehrte Kreuz
  • (1958) The Dead Man's Knock
  • Die verschlossene Tür
  • (1960) In Spite of Thunder
  • Hinter den Kulissen
  • (1965) The House at Satan's Elbow
  • (1966) Panic in Box C
  • Vorhang auf für den Mörder
  • (1967) Dark of the Moon (1967)
  • Roulett der Rächer

Sir-Henry-Merrivale-Serie (als Carter Dickson)

  • (1934) The Plague Court Murders
  • (1934) The White Priory Murders
  • Die Treppe des Königs
  • (1935) The Red Widow Murders
  • Das Zimmer der roten Witwe
  • (1935) The Unicorn Murders
  • (1936) The Punch and Judy Murders/The Magic Lantern Murders
  • Der umgekehrte Blumentopf
  • (1937) The Peacock Feather Murders/The Ten Teacups
  • Zehn Teetassen
  • (1938) The Judas Window/The Crossbow Murder
  • Der dritte Pfeil
  • (1938) Death in Five Boxes
  • Der vierte Gast/Fünf tödliche Schachteln
  • (1939) The Reader Is Warned
  • (1940) And So to Murder
  • Der Tod dreht einen Film/Vitriol und Belladonna
  • (1940) Nine and Death Makes Ten/Murder in the Submarine Zone
  • Mörder an Bord
  • (1941) Seeing Is Believing/Cross of Murder
  • Mit Dolch und Strychnin
  • (1942) The Gilded Man/Death and the Gilded Man
  • Das Haus der Masken
  • (1943) She Died a Lady
  • Spuren am Klippenrand
  • (1944) He Wouldn't Kill Patience
  • Das versiegelte Zimmer
  • (1945) The Curse of the Bronze Lamp/Lord of the Sorcerers
  • Der Hexenmeister
  • (1946) My Late Wives
  • Die verschwundenen Gattinnen
  • (1948) The Skeleton in the Clock
  • Das Skelett
  • (1949) A Graveyard to Let
  • (1950) Night at the Mocking Widow
  • (1952) Behind the Crimson Blind
  • Treffpunkt Tanger
  • (1953) The Cavalier's Cup

Sonstige Romane

  • (1932) The Poison in Jest
  • (1934) The Bowstring Murders (als Carter Dickson)
  • Eine Uhr steht still
  • (1934) Devil Kinsmere (als Roger Fairbairn)
  • (1936) The Murder of Sir Edmund Godfrey
  • (1937) The Burning Court
  • Die Doppelgängerin
  • (1939) Fatal Descent/Drop to His Death (mit John Rode u. als Carter Dickson)
  • Endstation Tod
  • (1942) The Emperor's Snuff-Box
  • Des Kaisers Schnupftabakdose
  • (1950) The Bride of Newgate
  • (1951) The Devil in Velvet
  • Einen Namen für den Mörder/Der Teufel in Samt
  • (1952) The Nine Wrong Answers
  • Die schuldige Antwort/Wer die Antwort schuldig bleibt
  • (1955) Captain Cut-Throat
  • Ihr ergebener Halsabschneider
  • (1956) Patrick Butler for the Defense
  • Der Zauberer/Der Tod eines Zauberers
  • (1956) Fear Is the Same (als Carter Dickson)
  • (1957) Fire, Burn!
  • (1959) Scandal at High Chimneys
  • Spuk im Giebelhaus
  • (1961) The Witch of Low Tide
  • Das Gespenst der Gezeiten
  • (1962) The Demoniacs
  • Die schmutzige Stadt
  • (1964) Most Secret [Neufassung von „Devil Kinsmere“]
  • (1968) Papa La-Bas
  • Die Voodoo-Königin
  • (1969) The Ghosts' High Noon
  • (1971) Deadly Hall
  • Die schwarzen Lilien von Delys Hall
  • (1972) The Hungry Goblin

Sachbuch

  • (1949) The Life of Sir Arthur Conan Doyle

Storysammlungen

  • (1940) The Department of Queer Complaints (als Carter Dickson)
  • (1947) Dr. Fell. Detective and Other Stories
  • (1954) The Exploits of Sherlock Holmes (mit Adrian Conan Doyle)
  • Sherlock Holmes Nachlass 1/Sherlock Holmes’ Kriminalfälle 8/Sherlock Holmes und das verriegelte Zimmer
  • (1954) More Exploits of Sherlock Holmes (mit Adrian Conan Doyle)
  • Sherlock Holmes Nachlass 2/Sherlock Holmes’ Kriminalfälle 10/Sherlock Holmes und der verschwundene Rubin
  • (1954) The Third Bullet and Other Stories
  • (1964) The Men Who Explained Miracles. Six Short Stories and a Novelette
  • (1980) The Door to Doom and Other Detections
  • (1983) The Dead Sleep Lightly and other Mysteries from Radio's Golden Age
  • (1991) Fell and Foul Play
  • (1991) Merrivale, March and Murder
  • (1994) Speak of the Devil
  • (2021) The Island of Coffins and Other Mysteries from the Casebook of Cabin B-13 (2021)
  • (2022) The Kindling Spark

Biografie

  • (1995) Douglas G. Greene: John Dickson Carr. The Man Who Explained Miracles

"John Dickson Carr - der Meister des unmöglichen Mordes" von Dr. Michael Drewniok

Dr. Drewnioks
mörderische Schattenseiten

Krimi-Couch Redakteur Dr. Michael Drewniok öffnet sein privates Bücherarchiv, das mittlerweile 11.000 Bände umfasst. Kommen Sie mit auf eine spannende und amüsante kleine Zeitreise, die mit viel nostalgischem Charme, skurrilen und amüsanten Anekdoten aufwartet. Willkommen bei „Dr. Drewnioks mörderische Schattenseiten“.

mehr erfahren