Kein Engel so rein

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2003
  • 15
  • Boston: Little, Brown, 2002, Titel: 'City of Bones', Seiten: 393, Originalsprache
  • München: Heyne, 2003, Seiten: 416, Übersetzt: Sepp Leeb
  • München: Heyne, 2004, Seiten: 415
  • München: Heyne, 2009, Seiten: 416
Kein Engel so rein
Kein Engel so rein
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Michael Drewniok
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2003

Gewinnt dem Thema keine neuen Seiten ab, ist aber ein sauber konstruierter Thriller

An seinen neuen Fall gerät Hieronymus "Harry" Bosch, Veteran des Morddezernats der Polizei von Los Angeles, ausgerechnet am Neujahrstag. An einem Steilhang des Laurel Canyons apportierte ein im Gebüsch strolchender Hund seinem erstaunten Herrchen einen menschlichen Armknochen. Bosch findet den Ort und ein Grab, welches das Skelett eines Kindes birgt. Die Untersuchung legt offen, dass es hier schon mindestens ein Vierteljahrhundert gelegen haben muss.

Kindermorde bringen sogar die abgebrühten und ausgebrannten Beamten des LAPD aus dem Gleichgewicht. Dieser Fall ist besonders tragisch, da die Überreste des Opfers - eines Jungen - die Spuren systematischer, sich über Jahre hinziehender schwerer Misshandlungen zeigen. Harry Bosch, der selbst eine schwierige Kindheit als wenig geliebte Waise nie überwunden hat, schwört den Täter zu finden.

Angesichts der verstrichenen Zeit ist das eine echte Herausforderung. Bosch' Vorgesetzte reagieren politisch, d. h. ablehnend: Es gibt genug aktuelle Morde, das Geld ist knapp. Man würde den Fall allzu gern zu den Akten legen. Doch da sei Harry Bosch vor. Er ist ein Mann, der erst richtig aufblüht, wenn ihm der Wind steif ins Gesicht bläst.

Weitere Schwierigkeiten erschweren ihm seine Aufgabe. Da ist Teresa Corazon, die Leiterin des gerichtsmedizinischen Instituts, die um ihrer Karriere willen einen Teufelspakt mit den Medien geschlossen hat. Diese wittern ohnehin eine lukrative Sensation und weichen Bosch ungern von der Seite. Im Dezernat sitzt ein "Maulwurf", der die Presse über Polizeiinterna informiert und dadurch die Ermittlungen behindert. Wider Erwarten wird die Mordspur dann doch heiß: Das Opfer wird als Arthur Delacroix identifiziert, der 1980 spurlos verschwand. Die Ermittlungen legen eine alte Familientragödie offen, die nun zu neuem Leben erwacht und Leid und Tod über die Angehörigen, aber auch über Harry Bosch und seine neue Lebensgefährtin bringt ...

Tragischer Fall im Vordergrund

Der achte Roman der Harry-Bosch-Reihe sorgt zumindest beim erfahrenen Connelly-Leser für Verblüffung. Die bekannten Ingredienzien sind zwar da, aber sie sie fallen deutlich milder - oder matter - aus als sonst. Im Vordergrund steht dieses Mal der Fall, während die boschtypischen Rangeleien mit alten und neuen Feinden innerhalb des Police Departments fast wie eine Pflichtübung anmuten, nie wirklich bedrohlich erscheinen und meist von Bosch binnen kurzer Zeit abgewehrt werden. Die Verstrickung der Polizei in politische Machtspielchen und Medien-Mauscheleien wird dennoch mit der für Connelly typischen Mischung aus Schärfe und Witz bloßgestellt.

Auch die (obligatorische) Liebesgeschichte fällt recht irritierend aus. Bosch findet endlich wieder eine Freundin, die sich jedoch recht unvermittelt als ziemlich wirr im Kopf entpuppt und einen raschen, fast lächerlichen, ganz sicher aber nicht tragischen Tod stirbt. Was soll das denn?, fragt der Leser sich; da hat sich Connelly früher aber wesentlich überzeugendere Privatkatastrophen einfallen lassen!

Harry unter Druck - diese Konstellation trug zur Kraft der Bosch-Romane stets entscheidend bei. Steckt der alte Haudegen bzw. sein Schöpfer in der Krise? Gewisse Ermüdungserscheinungen sind in einer lang laufenden Serie nicht ungewöhnlich. Wollen wir milder urteilen, so gönnte Connelly seinem Harry nur eine kleine Atempause, bevor er ihn wieder ins Ungewisse stürzt. Das Finale deutet es an: Bosch wird versetzt, gibt dann sogar seine Polizeimarke ab. Harry Bosch als Privatmann? Kann das angehen? Keine Sorge, das Ende seiner Abenteuer (und Leiden) ist definitiv nicht gekommen - es gibt bereits die Bosch-Fälle 9 und 10. Es wird (wieder) spannend sein, die weiteren Ereignisse zu verfolgen, was auch Connellys Intention gewesen sein dürfte.

Noch einmal: Dieses Mal wird primär ein Fall gelöst. Das geschieht mit beinahe dokumentarischer Sachlichkeit, die dennoch nie distanziert wirkt. Man darf sich nicht täuschen bzw. in den Sumpf des politisch Korrekten ziehen lassen: Dass Kindesmisshandlung ein abscheuliches Verbrechen ist, entschuldigt keinesfalls die allzu verbreitete Dreistigkeit fauler Kriminalschriftsteller, es in Sachen Handlungsführung damit bewenden zu lassen. Connelly schwelgt nicht in abscheulichen Details oder tränenreichen Dramen. Er richtet sein Augenmerk auf die Lawine des Leids, die diese Form des Missbrauchs auslöst, um ihre Opfer für immer zu begraben. Die Täter schwarz & ihre Opfer weiß zu färben funktioniert aber auch nicht. Connelly macht deutlich, wie perfide sich die Grenzen verwischen können. Die unheilvolle Kraft scheinbar "begrabenen" Unrechts wird so um so deutlicher.

Gebremster Schrecken seiner Vorgesetzten

Nanu, ist das noch Harry Bosch, den wir hier wieder treffen? Jawohl, er ist es, aber er ist offensichtlich ruhiger geworden. Weiterhin legt er sich mit denen an, die ihm quer kommen bei der einen Sache, die sein Leben bedeutet: die Polizeiarbeit. Er hat sie immer noch nicht über, obwohl ihn die Nutzlosigkeit seiner Tätigkeit belastet. Doch dann reisst ihn erneut ein besonderer Fall wie dieser aus der Routine, und erneut beginnt sein Kampf gegen Windmühlenflügel.

Aber wie gesagt: Seine Vorgesetzten ärgern sich dieses Mal zwar über ihn, aber sie hassen ihn nicht offen oder wollen ihn gar mit miesen Mobbing-Tricks loswerden. Er wirkt engagiert, aber ansonsten fast abgeklärt, was wir gar nicht von ihm kennen. Sogar privat gibt es einen Lichtblick: Nachdem er mit Frauen mehr als die übliche Ration Pech hatte, findet Bosch eine neue Gefährtin. Selbstverständlich ist es so einfach nicht, denn Julia Brasher ist eine Untergebene und ein Liebesverhältnis per Polizeivorschrift verboten.

Doch damit wird Bosch noch fertig. Schwer machen ihm dagegen einmal mehr seine Erinnerungen zu schaffen. Dieses Mal lasten nicht die Vietnam-Jahre auf ihm. Der Fall Arthur Delacroix führt ihn zurück in die eigene Kindheit als Waisenjunge. Schon "The Last Coyote"(dt. "Der letzte Coyote", 1995) griff auf diese freudlose Zeit zurück. Offenbar identifiziert er sich mit dem unglücklichen Arthur und lässt deshalb nicht nach in seinem Bemühen, ihn wenigstens vor einem anonymen Armengrab für Treibgut der Wohlstandsgesellschaft zu bewahren.

Routinierte Schilderung alltäglicher Schrecken

Aus dem routiniert geschilderten Ensemble ragt ansonsten vor allem der Pechvogel Trent heraus, der vor vielen Jahrzehnten die Finger nicht von einem kleinen Jungen lassen konnte, seine Strafe vor dem Gesetz abgebüßt hat, nie wieder rückfällig wurde und nun ein zweites Mal verurteilt wird - nicht von seinem ursprünglichen Opfer, nicht von der Justiz, sondern von den Medien, seinen Nachbarn, seinem Arbeitgeber, die ihn in den Tod treiben. Muss man dies bedauern oder begrüßen? Connelly stellt uns vor die Wahl, die wahrlich nicht leicht fällt.

Die Delacroix' sind eine dieser hochgradig kaputten Familien, die besonders der "psychologische" US-Detektivroman so liebt. Wir haben inzwischen so viele päderastische Väter, geprügelte Mütter, saufende Schwestern und geisteskranke Söhne erlebt, dass uns Connellys Neuauflage einer solchen Sippe nicht mehr wirklich nahe gehen kann. Das ist nicht seine Schuld, sondern das Problem eines überstrapazierten Themas.

"Kein Engel so rein" (wesentlich besser und vom Verfasser auch begründet ist übrigens der Originaltitel "Stadt der Knochen") kann nicht jede Betroffenheitsfalle vermeiden, gewinnt seinem Thema auch keine neuen Seiten ab. Was bleibt, ist zwar keineswegs der beste Bosch-Roman, aber ein sauber konstruierter Thriller, der über die gesamte Distanz unterhält.

Kein Engel so rein

Michael Connelly, Heyne

Kein Engel so rein

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