Veit Heinichen

»Es ist nicht wie bei Derrick, wo am Ende immer alles gut wird und das Böse im Knast landet.«

05.2009 Der deutsche Wahl-Triestiner über die Notwendigkeit des individuellen Engagements, seinen neuen Roman Die Ruhe des Stärkeren und über zerbrochenes Porzellan mit seinem Protagonisten.

Krimi-Couch: Herr Heinichen, in Ihrem neuen Roman geht es um das weltweite Finanzwesen, über die Börsen. Sie verwenden darin auch Fachtermini wie Underlyings, Stop-Loss-Limits, Derrivate. Für Sie als studierten Betriebswirt sind das ja sicherlich keine böhmischen Dörfen. 

Veit Heinichen: Ich habe in meiner Biographie viele Stationen hinter mir, die sich nachher Gott sei Dank zum Besten ergänzt haben. Aus der Automobilindustrie mit dem Tausch der Karosserie gegen den Inhalt, in den Buchhandel, ins Verlagswesen und nun Autor bedeutet, dass ich natürlich den Vorteil habe, aufgrund dieser profunden Einblicke in verschiedene Sektoren und Felder, auch bestimmten Phänomenen gegenüber einen ziemlich scharfen Blick zu haben. Und so muss ich sagen, hat mich diese Finanzkrise alles andere als überrascht.

Es hätte auch niemand anderen überraschen dürfen, wenn wir nicht in einer Gesellschaft lebten, die an einer kollektiven Amnesie leidet.

Denn: Anfang der 90er-Jahre war bereits die Rede von der Immobilienblase in den Vereinigten Staaten. In England wiederholte es sich in einem Rhythmus von zwölf Jahren regelmäßig, und die Entwicklung der Preise innerhalb des Lebensmittelbereiches weltweit hat ja eigentlich auch jeder schon lange mitbekommen. Doch ganz offensichtlich jammern wir auf einem hohen Niveau.

In einer Gesellschaft, der es einigermaßen gut geht, die einigermaßen satt ist, funktioniert offensichtlich auch die Reflektion nicht ganz so, wie sie sollte.

Krimi-Couch: A propos Jammern: Sie stellen Ihrem Roman ein Zitat von Petrarka voran, »Stetes Seufzen steht keine Not«. Ist das eine Abgrenzung Ihres Commissarios Laurenti gegenüber diesen ständig seufzenden Kollegen aus Skandinavien?

Veit Heinichen: Über deren Seufzen weiß ich nicht sehr viel. Ehrlich gesagt: Ich folge Ihnen kaum. Nicht weil ich sie nicht mögen würde, sondern weil ich keine Zeit dazu habe.

Eigentlich steht dieses Zitat »Stetes Seufzen steht keine Not« als ein Appell an jeden von uns. Es betrifft uns alle. Es betrifft uns, wie sich die Wirtschaft, die Politik und das organisierte Verbrechen in Europa immer stärker verweben und dabei möchte ich aber auch unterstreichen, dass, wer vom organisierten Verbrechen spricht und dabei mit dem Finger immer nur auf andere zeigt, einen großen Irrtum begeht. So wird man dem Phänomen nicht gerecht. Es ist genauso ein deutsches Phänomenen wie ein italienisches, französisches, österreichisches und so weiter. Und natürlich auch den Osten Europas inbegriffen.

Aber es immer die eigene Bevölkerungsgruppe, die sehr viel damit zu tun hat. Und diese Entwicklung in der Gesellschaft, wo die Grenzen sich ganz offensichtlich deutlich verwischt haben, manchmal auch in nordischen Ländern ein gewisser Ermittlungsunwille gegenüber ernstens kriminalistischen Phänomenen besteht, bedeutet, dass man auch die Gefahr für Demokratie erkennen sollte.

Denn da haben wir nun alle etwas entwickelt, was eigentlich ganz schrecklich ist. Wir jammern, wir schimpfen, meistens irgendwo am Tresen einer Bar oder im selben Kreis über die Außenpolitik angenommen hat, aber wir lassen es auch passieren. Wir lassen die Politiker auch sehr alleine. Das bedeutet, dass Demokratie viel mehr ist als nur wählen und jammern. Es ist auch vorschlagen und kontrollieren. Und das kann jeder von zu Hause, ohne dass er kandidieren muss. Er kann über E-Mail oder Telefon seinen Abgeordneten anrufen und fragen, was da eigentlich Sache ist.

Krimi-Couch: Wie aktiv sind Sie selbst in dieser Hinsicht?

Veit Heinichen: Ich bin in Triest eine Person des öffentlichen Lebens, bin ein aktiver Vertreter der Zivilgesellschaft, bin ein Kommentator für zahlreiche italienische Medien, und gebe meinen Einschätzungen auch durchaus unverblümt kund. Das muss man tun, ohne sich ideologisch verstellen oder verbiegen zu müssen. Es betrifft nämlich diese Auswüchse, betrifft eine gesamte Kraft innerhalb der Politik, die von Links bis nach Rechts ragt.

Als ich neulich in Paris auf Einladung der Sarkozy-Regierung über Triest sprechen sollte, sagten die mir, wir hätten ja das Problem Berlusconi. Ich sagte: "Nein, wir haben nicht das Problem Berlusconi, sondern das Problem einer nicht-existenten oder sich gerade in Selbstmord stürzenden Opposition, wie in Frankreich, Deutschland, Österreich und England genauso. Das ist das echte Problem innerhalb einer Demokratie. Wenn man diese Dinge aber wie ich nennt, macht man sich damit nicht unbedingt Freunde …

Krimi-Couch: Kürzlich sagten Sie in einem Interview: »Wer die heutige Gesellschaft beschreiben will, kommt am Genre Kriminalroman leider gar nicht mehr vorbei«. Warum leider?

Veit Heinichen: Wenn der Roman der Spiegel einer Epoche oder eines Raumes ist, ist der Kriminalroman das noch sehr viel stärker, indem er die Auswüchse ins Visier nimmt. Ich darf daran erinnern, dass der Friede, die wirtschaftliche Stabilität, die wirtschaftliche Kraft, die sozialen Errungenschaften, die Infrastruktur und alles in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg dadurch erwirtschaftet wurde, dass die gesamte Bevölkerung einbezogen wurde. Seit der Ära Helmut Kohl befinden sich die solzialen Kontakte praktisch in deutlicher Auflösung. Die Profite sind extrem gestiegen. Aber etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung wird vom Erwerbsprozess ausgeschlossen. Zwanzig Prozent sind die, die um das Existenzminimum herummachen. Und das ist nicht nur unsozial, sondern es ist auch ökonomisch blödsinnig oder idiotisch.

Dieses »leider« bedeutet das eben die Schattenwirtschaft immer stärker zunimmt und die Innovation innerhalb des Verbrechens rasend ist und wir ganz offensichtlich in einem enormen Umwälzungsprozess leben, der uns deutlich beschäftigt. Keine Medien können wir mehr in die Hand nehmen, keine Zeitung oder Zeitschrift, wo nicht von der ersten bis zur letzten Seite ermittelt wird. Das selbe natürlich auch im westlichen Informationsbereiches. Und das ist unsere Gesellschaft.

Krimi-Couch: Sind Ihre Romane in dieser Hinsicht also auch dokumentarische Texte?

Veit Heinichen: Ganz sicher, ja! Bevor ich zu schreiben beginne, betreibe ich eine ganz intensive Recherche und versuche die Phänomene zu begreifen, wie jetzt auch im aktuellen Roman Die Ruhe des Stärkeren, wo es sich um diese gesamten Zusammenhänge mit dem Wirtschaftsleben und so weiter dreht. Wenn ich Märchen hätte schreiben wollen, dann hätte ich dieses Genre gewählt. Ich bin dem Leser zur Akribie, zur Authentizität, zur Genauigkeit verpflichtet. Ein Leser kann sich in meinem Roman sowohl auf die politisch-historischen, wie auch die kriminalistischen Zusammenhänge, sehr verlassen.

Krimi-Couch: Wie wichtig ist Spannung dabei?

Veit Heinichen: Kriminalromane sind ein phantastisches Erzählmedium! Abgesehen davon, dass er natürlich ein sehr adäquates Mittel ist, um die Gesellschaft wiederzugeben, bietet er auch das fortlaufende Verweben der verschiedenen Fäden, die da sind und unsere Gesellschaft dominieren. Spannung dabei ist wichtig, aber es ist nicht wichtig, ständig dem Harmoniebedürfnis des Bürgers zu entsprechen à la Derrick, wo am Ende immer alles gut wird und das Böse im Knast landet. So ist unsere Gesellschaft eben nicht.

Krimi-Couch: Letztens ist mir in einer Buchhandlung aufgefallen, dass Ihre Krimis dort gerne neben die von Donna Leon gestellt werden. Tatsächlich gibt es ja einige Gemeinsamkeiten: Sie sind Deutscher in Triest, sie ist Amerikanerin in Venedig. Proteo Laurenti und Guido Brunetti haben den gleichen Job, sind ungefähr gleich alt. Es geht ums leckere Essen und beide Reihen wurden vom deutschen Fernsehen verfilmt. Aber das war es dann auch mit den Gemeinsamkeiten: Im Gegensatz zu Donna Leon werden Ihre Krimis im Italienischen veröffentlicht.

Veit Heinichen: Und prämiert! Und zwar wurden zwei meiner Bücher zweimal im Jahre 2003 und 2004 von der Jury des Premio Franco Fedeli in Bologna unter die drei besten italienischen Kriminalromane des Jahres gewählt. Das hat vor mir und nach mir noch keiner geschafft, der nicht muttersprachlich Italiener war.

Mich interessiert das Phänomen meiner amerikanischen Kollegin in Venedig nicht. Proteo Laurenti ist aus einer sehr akribischen Recherche heraus entstanden, was die Karriere und das Leben eines Beamten im gehobenen Dienstes des Sicherheitsapparates, der in Italien sehr komplex strukturiert ist, betrifft. Er ist zusammengesetzt aus drei Personen, mit denen ich relativ stark befreundet bin. Ich musste zuallererst das gängige Bullenklischee über Bord werfen. Da kommt mir auch da etwas sehr entgegen: Das sind Menschen, die im sozialen Kontext stehen. Das sind Menschen, die keine lonesome Heroes sind, à la Schimanski oder John Wayne, welche wie auch immer dem Fluchtgedanken des Einzelnen nahe kommen, aber nicht der Realität entsprechen. Diese Einzelgänger sind erzählerisch natürlich wesentlich leichter zu fassen, als wenn man versucht das Leben eines Menschen, wie es uns allen ergeht, in seinem Assoziationsreichtum, in seinen Ablenkungen, in seinem Umfeld zu beschreiben.

Das macht Proteo Laurenti aus, den gebürtigen Salernitaner, der also aus dem Süden Italiens kommt, der eine klassische Versetzung aus dem Süden in den Norden, dann von Westen nach Osten durchgemacht hat, der dann irgendwann mal an einem Ort hängen geblieben ist. Und er ist an einem besonderen Ort hängen geblieben: in Triest, der nördlichsten Hafenstadt im Mittelmeerraum; einer Grenzstadt, einer Durchgangsstadt, in der Strategien geschmiedet wurden. Zu Zeiten des Kalten Krieges war es ein Spionagezentrum neben Wien, Berlin, Istanbul das vierte. Es war durch die vielen, vielen geographischen Grenzen, politischen Grenzen, die es hier gibt, natürlich auch exponiert. Und so schreibe ich nicht Triest-Romane, sondern alles, was ich anfasse, hat immer mit dem zu tun, was mich am stärksten interessiert. Und das ist Europa.

Wir sind hier in einem Schnittpunkt Europas, einem strategischen Schnittpunkt. Zum Beispiel, wenn ich in einem meiner Romane als Erster das Phänomen des Organhandels, mit menschlichen Organen aufgegriffen habe, habe ich mich sehr wohl an der Staatsanwaltschaft von Triest orientiert, die nämlich diese Ermittlung in Italien leitet, die aber auch in enger Zusammenarbeit mit den euröpäischen Kollegen zu tun hat. Genauso wie auch die Sicherheitsbehörden in Triest ein Modell entwickelt haben, das mittlerweile von Deutschland übernommen wurde, wie auch andere Ländern, was den Umgang mit illegalen Einwanderern betrifft.

Genauso auch innerhalb des politisch-historischen Bereichs. Neuer Faschismus, alter Faschismus, neuer Rassismus, alter Rassismus. Das sind Grenzstätten, wie es in Triest nun mal gegeben ist. Hier kommen solche Phänomene natürlich sehr deutlich zum Vorschein. Und sie bestimmen uns! Denn heute haben wir es sehr stark zu tun mit einer Mafia, die sich über politische Seilschaften aus dem rechten Spektrum in internationaler Zusammenarbeit, und das ist das neue Phänomen, sehr stark finanziert und sehr stark bereichert.

Krimi-Couch: Dies ist der eine Aspekt Ihrer Romane, aber es gibt auch den des guten Essens – als Kontrast dazu.

Veit Heinichen: Zum einen muss sich auch ein Ermittler ernähren und ich kenne viele Ermittler – ich bin täglich mit einigen in Kontakt, sowohl hier in der Questura, im Polizeipräsidium, als auch im Rest Italiens. Es gibt durchaus Leute, die sich schlecht ernähren, durchaus Leute, die sich gut ernähren und es gibt einige Menschen unter diesen, die vor allem gute Weine zu schätzen wissen. Das ist etwas, was uns täglich sowieso bestimmt. Zum anderen ist Essen auch Kulturgeschichte und ich denke, dass in meinen Romanen Kulturgeschichte eine große Rolle spielt. Kulturgeschichte eines zentraleuröpäischen Raumes, in dem man eben nicht über eine eindeutige Küche verfügt, sondern über die Kontraste, Vielfalt.

Wir in Triest haben schon mal den Vorteil, dass wir uns täglich entscheiden müssen, ob wir etwas essen, was gerade fangfrisch aus dem Meer kommt oder von der Erde. Dann gibt es auch innerhalb dieser vielen Bevölkerungsgruppen in Triest – ich darf daran erinnern, das die Stadt aus über neunzig Ethnien besteht! -, die natürlich hier etwas zurückgelassen haben. Wo? Im Dialekt – und in den Kochtöpfen. Um einen Raum zu erfahren und ihn auch sinnlich zu erfahren, kann man nicht nur lesen und sich mit den Leuten unterhalten und Recherchen betreiben, sondern man kann ihn auch erschmecken.

Krimi-Couch: Ich habe gelesen, dass Sie mit Ihrem Commissario eigentlich wenig gemein haben. Bis auf die Tatsache, dass Sie beide nicht aus Triest stammen und gutes Essen durchaus zu schätzen wissen. Wenn ich mir Ihren Laurenti anschaue: Er ist eigentlich ein Familienmensch, gerne auch ein aufbrausender. Heißt das im Umkehrschluss: Veit Heinichen ist ein ruhiger Eigenbrötler?

Veit Heinichen: [lacht] Nun, aufbrausend kann ich durchaus auch sein. Allerdings entspricht meine Sozialisierung nicht der des Proteo Laurenti. Ich habe keine drei Kinder und ich muss sagen, wenn ich mir so die Seinigen anschaue, dann bin ich eigentlich auch ganz froh darüber.

Mit Proteo Laurenti verbinden mich in der Tat vor allem zwei Dinge: Wir sind seit über dreißig jahre mit dem Ort verbunden, an dem wir beide leben. Das heißt, dass wir natürlich vor allem den Vorteil genießen, nicht mit den Tabus und Gewohnheiten an diesem Ort groß geworden sind, also Fragen stellen können, die vielleicht der Einheimische aus Gewohnheit gar nicht stellt. Das zweite ist, dass wir durchaus die selben Bars und Restaurants besuchen. Allerdings wenn er rein kommt, geh ich sofort raus. Der Mann ist unverschämt geworden. Er begrüßt alle, er gibt eine Runde aus und denkt, dass ich sie bezahle. Aber mich begrüßt er nicht. Jetzt habe ich den Spieß umgedreht, wenn er reinkommt, bestelle ich für alle und lasse ihn die Sache bezahlen.

Zum anderen war ich auch mal sein Chef, ich hab ihn mal erfunden. Mittlerweile hat sich das umgekehrt. Es gibt Tage, da möchte ich mal raus gehen in eine Bar und da steht ein Polizeiauto. Da sitzen zwei Uniformierte drin, die mir mit einem ziemlich dreckigen Grinsen den Weg die Treppe hinaufweisen und sagen: »Laurenti hätte gesagt, ich müsste arbeiten!« Was sie nicht wissen ist, dass ich mich dann in den Hinterhof mit Leintüchern abseile und irgendwo anders verschwinde.

Krimi-Couch: Das hört sich nicht gerade danach an, als ob Sie ewig an Ihrer Laurenti-Reihe weiterschreiben möchten?

Veit Heinichen: Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange Proteo Laurenti leben wird. Immerhin habe ich in Totentanz bereits versucht, ihn umzubringen, was mir nicht gelungen ist. Wenn man starke Charaktere schafft, dann machen die durchaus das, was sie wollen. Dann muss der Autor folgen. Es ist nicht so, dass es mir an anderem Stoff mangelt. Ich arbeite an einem großen historischen Roman, seit vielen Jahren, bin noch an den Recherchen. Wie lange es Proteo Laurenti noch geben wird, hängt viel von seinem Kontrahenten ab.

Krimi-Couch: Ihr Verhältnis zu Proteo Laurenti ist also wie das von Conan Doyle zu Sherlock Holmes.

Veit Heinichen: Ja, eben heute.

Das Interview führte Lars Schafft am 7. Mai per Telefon.

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