Robert Wilson

»Thriller sind eigenartige Biester«

08.2005 Mit Robert Wilson sprach Krimi-Couch-Herausgeber Lars Schafft über sein neues Buch Die Toten von Santa Clara, »Schein und Sein« im Kriminalroman und eine der schönsten Städte der Welt – mit sehr eigenwilligen Bewohnern.

Krimi-Couch: Mr. Wilson, diesen Monat erscheint in Deutschland Ihr zweiter Roman in der Javier-Falcón-Reihe, Die Toten von Santa Clara. Nach dem Deutschen Krimi Preis für Tod in Lissabon und den hervorragenden Kritiken zu Der Blinde von Sevilla ist Die Toten von Santa Clara Ihre erste Veröffentlichung im Hardcover. Eigentlich können Sie doch sehr stolz sein.

Robert Wilson: Natürlich freut es mich sehr, dass es mit meiner Karriere in Deutschland nun steil bergauf geht. Wie Sie sicherlich wissen, ist der Weg einer Veröffentlichung ein sehr langsamer. Bis die Lizenz des Buches gekauft, das Buch übersetzt und schließlich auf dem Markt ist, habe ich vielleicht schon zwei weitere geschrieben und bin mit meinen Gedanken in einer völlig anderen Welt. Es scheint fast so, als gäbe es nie den richtigen Moment um den Erfolg zu genießen. Was ich also sagen kann ist, dass ich stolz bin auf meine Bücher, denn darüber habe ich die Kontrolle. Bezüglich der Preise und Kritiken freue ich mich über die Anerkennung, was so viel bedeutet, wie dass ich weiterhin das machen kann, was ich gerne mache.

Krimi-Couch: Die amerikanische Autorin Tess Gerritsen hat kürzlich angemerkt, dass »Deutschland die Aufmerksamkeit eines jeden Autors verdient«, da es ein riesiger Buchmarkt, der zweitgrößte nach den USA auf der Welt, sei. Aus Ihrer Sicht: Welche Gründe außer den ökonomischen sprechen für eine Veröffentlichung in Deutschland?

Robert Wilson: Deutschland ist nicht nur einer der größten Märkte, es ist auch einer der differenziertesten mit einem großen Appetit auf eine besondere Bandbreite innerhalb des Genres. Ins Deutsche wurden bei weitem mehr Autoren übersetzt als in eine andere Sprache. Diesbezüglich ist es ein wahrlich Europäischer Markt mit einem enormen Reiz für mich und meine Bücher.

Ursprünglich hatte ich einige Schwierigkeiten, einen deutschen Verlag für Tod in Lissabon wegen der Nazi-Geschichte zu finden. Tatsächlich haben mir einige deutsche Freunde beim Schreiben des Buches gesagt: »Nicht schon wieder.« Aber als sie das Buch gelesen hatten, stellten sie fest, dass es vielmehr eine Geschichte über Portugal und die Entwicklung der portugiesischen Gesellschaft ist – die erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem außergewöhnlichen Phänomen Wolfram angefangen hat. Als Goldmann das Buch auf Deutsch herausgebracht hatte, stellte der Verlag fest, dass es dafür durchaus einen großen Markt gibt, dass es eine anspruchsvolle Leserschaft gibt, die darin nicht nur ein weiteres Buch über Nazis sieht.

Krimi-Couch: Es scheint eine besondere Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem deutschen Übersetzer, Kristian Lutze, zu geben.

Robert Wilson: Kristian war vor einigen Jahren dazu bereit, Tod in Lissabon zu übersetzen. Er war zu dieser Zeit gerade in Portugal, wir haben uns getroffen und sind Freunde geworden. Er ist ein sehr guter Übersetzer und wir hatten schon einige Unterhaltungen über seine Herangehensweise an einen Roman. Er führt die Kunst der Übersetzung noch ein Stück weiter, als nur Englisch ins Deutsche zu übertragen. Er versucht auch, den Stil zu emulieren, den Rhythmus festzuhalten und den ursprünglichen Ideenreichtum des Autors darzustellen. Dazu bedarf es viel Hingabe und ich bin wiederum jemand, der sehr hart daran arbeitet, dass die Leser genau das erfahren, was ich möchte, dass sie erfahren. Einen Übersetzer zu haben, der darauf vorbereitet ist, mit den Wörtern ebenso hart zu arbeiten wie ich, ist wunderbar. Nach ihm eine Figur im Buch zu benennen, vielmehr einen Künstler, ist eine kleine Art, danke zu sagen.

Krimi-Couch: Ein englischer Autor, der über Portugal, Deutschland und den Zweiten Weltkrieg schreibt ist an sich schon sehr bemerkenswert für die europäische Krimi-Szene. Mit Ihrer Javier-Falcón-Reihe wird es noch ein wenig komplizierter – Sie haben sie im spanischen Sevilla angesiedelt. Was hat Sie dazu bewogen, die Grenzen ein weiteres Mal zu überschreiten?

Robert Wilson: Eigentlich fing diese Geschichte schon vor den portugiesischen Büchern an, da ich bereits eine Serie von vier Noir-Romanen geschrieben hatte, die in West-Afrika spielen und sich um einen britischen »Fixer« namens Bruce Medway drehen.

In Sevilla war ich 1984 das erste Mal, mit dem Fahrrad von London aus. Ich hatte einen Freund in Sevilla, der dort unterrichtete. Ich kam genau während der Semana Santa an und verbrachte auch die Feria dort. Das machte alles auf mich, wie auf jeden anderen auch, einen enormen Eindruck. Acht Jahre später wohnte ich in Alentejo in Portugal, was mit dem Auto nur ungefähr vier Stunden von Sevilla entfernt liegt, und mein Freund ist nach Sevilla zurückgekehrt. Also haben meine Frau und ich Sevilla ein weiteres Mal besucht. Während dieser Zeit war ich schon Schriftsteller und langsam, über die Jahre, machte sich der Gedanke breit, einen Roman zu schreiben, der in einer der schönsten Städte Europas spielt. Sevilla liefert vor allem ein herrliches Bild ab und ich denke, dass eines der stärksten Motive in der Kriminalliteratur das alte »Schein und Sein« nach Shakespare ist.

Die Leute in Sevilla sind in ganz Spanien bekannt für ihre alegría. Sie sind immer gut gelaunt und bereit, Spaß zu haben. Ich habe mir gedacht, dass nur weil man in einer der schönsten Städte Europas lebt, man nicht automatisch immun sein muss vor der conditio humana, dem Menschsein. Das war der Punkt, als die psychologische Dimension so langsam Konturen bekam.

"Mich hat es schon immer mehr interessiert,
die Grenzen des Genres zu erweitern
anstatt mich innerhalb dieser zu bewegen.

Also habe ich die Grenze überschritten, um mich selbst vor eine neue Herausforderung zu stellen. Die Gefahr besteht – besonders beim Krimi-Schreiben -, einfach in der Spur weiterzufahren, in der man schon erfolgreich gewesen ist. Aber mich hat es schon immer mehr interessiert, die Grenzen des Genres zu erweitern anstatt mich innerhalb dieser zu bewegen.

Krimi-Couch: Sie hatten also zuerst vor, eine in Sevilla angesiedelte Krimi-Reihe zu schreiben und haben erst daraufhin Javier Falcón entwickelt?

Robert Wilson: Für mich entspringen die Figuren aus dem Schauplatz und bringen den Plot mit. So funktioniert mein Verstand. Wieso sollte ich ohne Schauplatz über einen spanischen Polizisten mit psychologischen Problemen nachdenken?

Krimi-Couch: Wie sieht die Beziehung zwischen ihm und der Stadt Sevilla aus? Sowohl in Der Blinde von Sevilla als auch in Die Toten von Santa Clara wirkt er in dieser ganz besonderen andalusischen Atmosphäre manchmal wie ein Fremdkörper …

Robert Wilson: Falcón sollte schon immer ein bisschen fremd sein in der Sevillanischen Atmosphäre. Ein echter Sevillano ist ein sehr konservativer Mensch mit einem tiefen Glauben an die Schönheit, Tradition und Kultur seiner Stadt. Diese Leute leben für die Semana Santa und die Feria. Auch wenn es keine Touristen gäbe, würden diese kulturellen Events mit Gusto gefeiert.

Darüberhinaus ist Sevilla, trotz seiner Größe, wie ein Dorf oder vielmehr eine Ansammlung von Dörfern. Es ist nicht gerade etwas Besonderes, einen Sevillano zu treffen, der Andalusien noch nie verlassen hat. Sevillanos haben dazu eine niedrige Toleranzschwelle, was Kritik ihnen oder der Stadt gegenüber angeht.

Consuelo, eine Madrileña, hat sehr viel an den Einheimischen auszusetzen, behält das meiste jedoch für sich. Gelegentlich rutscht ihr Falcón gegenüber davon etwas heraus, da sie in ihm jemanden erkennt, der ihre Zwickmühle versteht.

Einige Sevillanos, die das Buch gelesen hatten, haben sich angegriffen gefühlt – auch wenn ich ihnen erklärte, dass nicht ich es bin, der diese Gefühle zum Ausdruck bringt, sondern einer meiner Charaktere. Hätte ich Falcón allerdings mehr zu einem Sevillano gemacht, bestünde durchaus die Gefahr, in Klischees abzudriften.

Tatsächlich hat Javier nur sehr wenig Zeit seines Lebens in Sevilla verbracht. Er wurde in Tanger geboren, verbrachte seine Jugend in Sevilla, ging dann aber auf die Polizeischule, nach Barcelona, Saragossa und Madrid, bevor er wieder in Sevilla verlangt wurde, um seinem Vater in dessen letzten Jahren näher zu sein. Er ist der perfekte Protagonist weil er die Einheimischen kennt, ohne selbst einer von ihnen zu sein. Er ist von ihren gut behüteten Events abgeschnitten. Er kann beobachten und berichten, ohne selbst involviert zu sein. Er hat emotionale Verbindungen zur Stadt aber ist dort nicht verwurzelt. Das macht seinen Nervenzusammenbruch wahrscheinlich und gefährlicher für ihn, da er sich an niemanden wenden kann.

Krimi-Couch: Das ändert sich in Die Toten von Santa Clara, als die beiden »Fremden«, Javier und Consuelo, sich doch sehr nahe kommen. Fanden Sie, dass Falcón in Der Blinde von Sevilla genug gelitten hat und einen Hoffnungsschimmer gut gebrauchen konnte?

Robert WilsonDie Toten von Santa Clara war immer schon als Buch konzipiert, dass Javier Falcón rehabilitieren würde. Ein Jahr ist seit den schrecklichen Enthüllungen seinen Vater betreffend – wie in Der Blinde von Sevilla erzählt – vergangen. Er war in Therapie bei der blinden, aber dennoch »sehenden« Psychiaterin Alicia Aguado. Auch zu Anfang von Die Toten von Santa Clara leidet er noch. Seiner Zerbrechlichkeit ist man sich bewusst, vor allem als Calderón preisgibt, dass er sich mit Falcóns Ex-Frau Inés verlobt hat.

Dennoch hat er seit Der Blinde von Sevilla einiges gelernt, wo er noch ein in sich geschlossener, unkommunikativer Individualist war. Er hat den Vorzug eines Gesprächs erkannt. Das Gespräch ist natürlich sehr wichtig in der spanischen Kultur. Kinder werden schon in sehr frühem Alter dazu ermutigt, sich auszudrücken und das zieht sich hin durch die Jugend bis zum Erwachsensein.

Falls Sie schon einmal in einer spanischen Kneipe waren, insbesondere in Sevilla, wissen Sie ja, dass der Geräuschpegel etwa zehnmal so hoch ist wie in einer nordeuropäischen. Aus diesen Gründen ist Die Toten von Santa Clara auch hauptsächlich in Dialogen geschrieben. Der Plot und die Entwicklung der Charaktere bestehen fast ausschließlich in einer Reihe von Dialogen.

Javier hat auch viel aus seinem Leiden gelernt. Er erkennt den Schmerz in anderen, nimmt viel mehr wahr und ist viel einfühlsamer als noch in Der Blinde von Sevilla, was ihm ermöglicht, zu hören und die dunklen Geschichten dieser seltsamen, isolierten Gruppe von Bewohnern des exklusiven barrio [ein Stadtteil, Anm. d. Red.] Santa Clara ans Licht zu bringen.

Javiers Belohnung dafür – wenn Sie es so wollen – ist, dass er endlich Sex bekommt, den er seit seiner Trennung von Inés nicht mehr hatte. Unglücklicherweise steht Javier und Consuelo so etwas auch in Die Toten von Santa Clara bevor. Es gibt noch immer ungeklärte Probleme, die in späteren Büchern in Ordnung gebracht werden.

Krimi-Couch: Gibt es eine Art »Masterplan«, was die weitere Entwicklung von Falcón in den nächsten Romanen betrifft?

"Ich treffe nur seltenfeste Entscheidungen,
wohin sich ein Buch entwickeln wird,
so lange ich nicht mit dem
Schreiben angefangen habe.

Robert Wilson: Einen ungefähren »Masterplan«. Ich treffe nur selten feste Entscheidungen, wohin sich ein Buch entwickeln wird, so lange ich nicht mit dem Schreiben angefangen habe. Thriller sind eigenartige Biester. Wenn du sie planst, sind die Chancen auf echte Überraschungen recht gering. Gehst du sie risikoreicher an, machst du Fehler, stößt aber dann auch auf das wirklich Unerwartete. Das ist es, was den Leser an meinen Büchern gefällt, wie sie mir mitteilen. Sie wissen nie, wohin sie die Geschichte führen wird. Wahrscheinlich deswegen, weil ich es auch nicht immer unbedingt weiß …

Krimi-Couch: Ich denke, dass es recht schwierig ist, einen Charakter zu entwickeln, der sich von vergleichbaren Kommissaren auf der einen Seite abhebt – die Möglichkeiten bezüglich Alter und Karriere sind ja im Grunde beschränkt – und auf der anderen Seite gleichzeitig nicht zu außergewöhnlich wirkt, um noch glaubhaft bleiben zu können.

Robert Wilson: Das ist immer das Problem: Polizisten mit der Erfahrung, Morduntersuchungen zu leiten, müssen nun mal in einem bestimmten Alter sein, also ungefähr in der Lebensmitte. Die Schwierigkeit mit Menschen dieses Alters ist, dass sie in ihren wesentlichen Zügen bereits festgelegt sind. Sie können mit dem Rauchen aufgehört, ihren Alkoholgenuss eingeschränkt haben, Yoga machen oder einen neuen Witz erzählen, aber sie ändern sich nicht in ihrem Wesen. Deswegen haben sie schließlich diesen Dienstgrad auch erreicht.

Ich entschied mich, dass der einzige Grund, warum sich ein Mann in der Mitte seines Lebens ändern und weiter entwickeln sollte, ein Nervenzusammenbruch sein müsste. Genau das passiert in Der Blinde von Sevilla. Die Idee der weiteren Romane besteht darin, ihn in einen neuen Menschen zu verwandeln oder zumindest seine Qualitäten offen zu legen, die in ihm wegen seiner psychischen Blockade festsaßen. Ich hoffe, dass meine Leser gänzlich an dieser Entwicklung teilhaben, da sie einen einzigartigen Einblick in die Seele dieses Mannes erhalten.

Krimi-Couch: Wie sieht es mit den anderen Sevillanos wie zum Beispiel Juan Calderón, Pablo Ortega, Marty und Maddy Krugman aus? Jeder von ihnen scheint auf eine ganz eigene Art auch Probleme mit der alegría zu haben.

Robert Wilson: Das gleiche trifft auch auf die anderen Figuren in Die Toten von Santa Clara zu, wo wir tiefere Einsichten in die Gedankenwelt von Pablo Ortega und Sebastien bekommen. Der Roman, den ich gerade schreibe, wird einige Charakterzüge von Consuelo enthüllen, im vierten Teil der Serie ist Caldéron am Zug. Ein Grund dafür, dem Leser diesen Kampf mit sich selbst darzustellen ist, dass es sehr gut mit meinem grundlegenden Motiv des Scheins und Seins zusammenpasst.

In der Fiktion wie im wirklichen Leben sehen wir nur die Oberfläche der Menschen oder vielmehr das, was sie uns zeigen wollen. Die Leute werden versiert darin, das Unattraktive an ihnen zu verstecken. Das Ergebnis dieser psychischen Blockade kann auch sein, dass die Menschen das verbergen, was sie eigentlich ausmacht.

Nur selten hat man die Gelegenheit dazu, jemanden wirklich tiefgründig kennenzulernen. Manche Leute sind seit Jahrzehnten miteinander verheiratet, ohne sich richtig zu kennen. Aber es gibt auch Menschen, die sich treffen – wenn auch nur kurz – und die eine außergewöhnliche Erfahrung teilen und dadurch vielmehr von sich preisgeben als sagen wir im Büro oder unten am Supermarkt. Das kann eine mächtig bereichernde Erfahrung sein, jemanden so zu kennen. Ich möchte dem Leser die gleiche Erfahrung geben. Was für ihn nicht immer einfach sein wird.

In Der Blinde von Sevilla war Javier beispielsweise keine attraktive Person. Nach außen wirkte er sicherlich kalt, nüchtern und unempfänglich, wohingegen Francisco Falcón sehr charismatisch, unterhaltsam und anziehend herüberkam. Zum Ende hin muss man Javier nicht lieben, aber zumindest als anständig ansehen, wohingegen sein Vater wie ein Monster wirkt.

Consuelo hat in Der Blinde von Sevilla ein sehr zurückhaltendes Spiel unter schwierigen Umständen gespielt, was sie zum einen aggressiv, zum anderen aber auch einnehmend machte. In Die Toten von Santa Clara hingegen muss sie nicht so munter sein, da sie nicht unter direktem Verdacht steht – obwohl es eigentlich in ihrer Natur liegt. Man spürt, dass es tiefe, stille Wasser in Consuelo gibt, in die Javier einen Zeh taucht, als er ihr näher kommt. Sie ist schließlich eine Frau, die für ihre Jugendsünden – sie hat in einem Porno mitgespielt – bezahlt hat, wie Javier in Der Blinde von Sevilla herausfand.

»Beim Erzählen eines guten Krimis
geht es um das Spielen mit der Leute
Auffassungen und das Aufzeigen
einer neuen Sichtweise.«

Marty und Maddy wirken sehr stark. Sie hat das verführerischste und mächtigste Instrument überhaupt: ihre Schönheit und ihren Glamour. Wie verschieden Calderón und Falcón auf sie reagieren, zeigt uns mehr von ihren Charakteren. Marty wirkt nach außen als ein sehr ungeduldiger Mann. Ein normaler Typ, der plötzlich am Rand der Gesellschaft steht. Auch als Javier ihr Geheimnis herausfindet, ist die Geschichte damit noch nicht zu Ende. Wir sehen, wie dieses Geheimnis die beiden verdorben hat und die weitreichenden Folgen. Rafael Vega ist eine weitere interessante Fallstudie. Zu Anfang ist er das Opfer – aber ist er das wirklich?

Beim Erzählen eines guten Krimis geht es um das Spielen mit der Leute Auffassungen und das Aufzeigen einer neuen Sichtweise.

Krimi-Couch: Gibt es eine Figur in Die Toten von Santa Clara, die Sie besonders mögen?

Robert Wilson: Zum Ende hin war ich sehr von Pablo Ortega angetan. Weil er der professionelle Schauspieler und damit die wesentliche Figur des Romans ist. Die meisten Leute schauspielern, um ihre wahren Veranlagungen zu verbergen, wohingegen Ortega die Schauspielerei als Karriere gewählt hat. Er hat aber so viel geschauspielert, dass er sich schon gar nicht mehr sicher sein kann, wer Pablo Ortega eigentlich ist. Aber jetzt ist er an diesem Punkt angekommen: Er ist dabei herauszufinden, wer er ist und welche fürchterlichen Fehler er in seinem Leben gemacht hat, was mit einbezieht, dass er mit der schrecklichen Wahrheit über seinen Bruder Ignacio und dessen Sohn Sebastien, der wegen eines grausamen Verbrechens im Gefängnis sitzt, konfrontiert wird.

Die Tragödie für Pablo besteht darin, dass seine Fehler sehr natürlich waren. Er hat sie gemacht, weil er an das Wesen des Menschen glaubt. Er hat seine Erfahrungen mit seinem Bruder gemacht, weswegen er an ihn glaubt und sich gegen dessen Sohn wendet.

Was ich an Pablo bewundere ist, dass er seine untragbare Schuld durchhält, deren Folgen so düster sind. Als wir ihn zuerst treffen, ist er ein übertriebener Künstler, zum Ende hin erkennen wir seine menschliche Seite daran, wie er mit seinem Neffen Salvador umgeht. Er hadert mit seiner Schuld in einer menschlich sehr bewegenden Art und ich bin immer noch von ihm beeinflusst.

Krimi-Couch: Zurück zur Handlung: War »Der Blinde von Sevilla« vor allem ein sehr psychologischer Roman, der die Historie insbesondere die Franco-Ära anreißt, geht es in Die Toten von Santa Clara eher um handfeste Dinge: die russische Mafia, die in Koexistenz parallel zum amerikanischen Geheimdienst in Sevilla operiert, korrupte Lokalpolitiker und brutalen Sex mit Kindern. Die Auswirkungen der Globalisierung – das Hauptthema in Die Toten von Santa Clara?

Robert Wilson: Ich habe beim Schreiben des Buches nicht die Auswirkungen der Globalisierung im Hinterkopf gehabt. Mein ursprünglicher Titel dafür war The Vanished Hands [»Die verschwundenen Hände«, Anm. d. Red], ein Satz aus einem Gedicht, den ich aus einem Buch entnommen habe, das ich vorher geschrieben hatte. Das Gedicht handelt von einem pensionierten Diktator, der seinen Lebensabend erreicht hat und an bestimmten Beschwerden leidet, die der Arzt auf den unabwendbaren Zahn der Zeit zurückführt. Die Beschwerden sind die verschwundenen Hände und ich meine, dass sie eine Metapher für die rätselhaften Auswirkungen der Schuld sind. Eine der anderen treibenden Kräfte hinter dem Buch ist der Vertrauensbruch, sei es von Eltern gegenüber Kindern, zwischen Liebenden oder von der Regierung gegenüber ihren Wählern.

Ich benutze aktuelle Themen, um dem Leser ein Bild der spanischen Gesellschaft zu geben, so wie sie jetzt ist. Derzeit gibt es ein großes Problem mit dem Menschenhandel auf der iberischen Halbinsel. Alles, was wir davon mitbekommen, ist eine steigende Zahl an Einwanderern, aber es gibt auch ein großes Geschäft dahinter und das beherrscht die Russen-Mafia. Sie macht weitaus mehr Geld mit dem Menschenhandel und der daraus resultierenden billigen Arbeit und Prostitution, als sie jemals mit Drogen machen könnte. Montes macht Falcón darauf aufmerksam, dass es eine Rückkehr zum Sklavenhandel in Europa gibt, und wir alle wissen über die Schicksale des ursprünglichen Sklavenhandels zwischen Afrika und den Amerikanern. Die Russen-Mafia tritt im Buch genau so auf wie in der Gesellschaft: Man sieht sie nicht, man hört nur von ihr. Sie hat einen unbehaglichen, korrumpierenden Einfluss, der auch auf der Ebene ganz gewöhnlicher Leute unterschwellig existiert.

Eine große Untersuchung über einen enormen Kinder-Prostitutions-Skandal, den es in Portugal gab und immer noch gibt, hat mich beeinflusst. Mich ließ es nicht los, wie durchdringend die Korruption geworden ist, wie sie auch die oberen Schichten der Gesellschaft erreicht hat – Politiker, Beamte, Fernsehleute. Also habe ich mir das gleiche in Spanien vorgestellt, unter der fachkundigen, rücksichtslosen Obhut der Russen-Mafia. Ich finde es sehr beunruhigend, wie einfach Menschen korrumpierbar werden können, und, da dies auch ein Fall in Die Toten von Santa Clara ist, wie ein anständiger Polizist zum Wechsel der Seiten gebracht wird.

Es gibt aber keinen »brutalen Sex mit Kindern« im Roman. Es gibt eine gewisse, beunruhigende »Unterströmung« und als Falcón das abgebrannte Horror-Haus untersucht, bleibt es dem Leser überlassen, was dort passiert sein mag. Nur ein Video-Tape hat den Brand überstanden, das dem Leser aber nie näher beschrieben wird..

Krimi-Couch: Welche Rolle spielt der 11. September in Die Toten von Santa Clara?

Robert Wilson: In der Folgezeit vom 9/11 fand man heraus, dass Spanien einer der Treffpunkte der Planer, Finanziers und Ausführenden war, die den verheerendsten Terror-Anschlag aller Zeiten durchgeführt hatten. Da schien es mir nur logisch, dass der amerikanische Geheimdienst in diesem Teil Europas aktiv sein würde, insbesondere wegen seiner Nähe zu Marokko und wegen der bekannten illegalen Einwanderung aus Nord-Afrika. In meinem Roman gibt es einen Faden, der sich zurück zu den Aktionen der CIA und ihrer Agenten in Südamerika spinnt. All diese Motive stehen in direktem Zusammenhang mit dem Hauptmotiv, der Frage, wie unergründlich Schuld wirkt. Wir sehen, dass alle schuldigen Beteiligten letztendlich bestraft werden, aber dass dies nicht immer durch die Justiz geschehen muss. Die Kraft der Schuld auf die menschliche Seele kann ebenso effektiv sein …

Krimi-Couch: Bei dieser inhaltlichen Tiefe – Sie müsssen wahrscheinlich recht viel für Ihre Bücher recherchieren?

Robert Wilson

Recherche ist wichtig, um die Dinge richtig darzustellen, aber ich bin nicht gerade der Beste darin, viel Zeit lesend in Bibliotheken zu verbringen. Ich verbringe meine Zeit damit, herum zu spazieren und mich mit Menschen zu unterhalten. Ich lese außerdem spanische Zeitungen.

Jedenfalls sollte sich ein Schriftsteller daran erinnern, dass der Leser seine Geschichte lesen und über seine Charaktere etwas erfahren möchte – und nicht über seine Recherche. Je mehr Zeit man also am Schreibtisch verbringt und arbeitet desto besser. Bei den Büchern, für die ich viel recherchieren musste, um eine andere Zeit und ein fremdes Land verstehen zu können, wie bei Der Tod in Lissabon und Der Blinde von Sevilla, machte das bei mir schlussendlich weniger als zehn Prozent aus.

Recherche gibt mir das Zutrauen über Sachen zu schreiben, von denen ich überhaupt keine Ahnung habe. Oft sind es die kleinen Dinge, die einem dabei helfen zu verstehen, wie es beispielsweise war, in den Vierzigern in Portugal zu leben. Ich hatte eine Frau getroffen, die absolut nicht über diese Zeit reden wollte. Sie hat sie nur als totales Elend in Erinnerung. Das Landvolk wurde von Salazar in ständiger Armut gehalten. Sie erinnerte sich an ihren Vater, der Zeichenkohle herstellte, sie zwanzig Kilometer hinunter in die Stadt brachte, dort verkaufte und damit gerade genug verdiente, um seine Familie ein oder zwei Tage zu ernähren, bevor er sich auf den Weg bergauf zu seinem Zuhause machte.

Krimi-Couch: Zum Glück hat sich das Leben in Portugal seitdem ja geändert. Sie ziehen Portugal Großbritannien vor. Warum?

Robert Wilson: Eigentlich teile ich gerade meine Zeit zwischen Großbritannien, Spanien und Portugal auf. Schreiben tu ich meistens in Portugal, da ich dort ein sehr abgeschiedenes Haus ohne jegliche Ablenkungen habe, so dass ich mich komplett auf meine Arbeit konzentrieren kann. Ich verbringe auch Zeit in Sevilla, um für meine Bücher zu recherchieren. Darüber hinaus habe ich noch ein Haus in Großbritannien, wo ich meine Familie, meinen Literatur-Agenten und auch meinen Verlag habe, weswegen ich dort ebenfalls einige Zeit im Jahr verbringe.

Bevor es zu all dem gekommen ist, zog ich 1989 von London nach Portugal um eine andere Lebensweise kennenzulernen. Meine Frau und ich haben 1986 geheiratet und uns direkt auf einen Jahres-Trip nach Afrika aufgemacht. In einem VW-Van sind wir durch die Sahara, durch West-Afrika, durch Zentral-Aftrika (wir verbrachten allein zwei Monate in den Schlammlöchern Zaires) bis in den Osten Afrikas gereist, bevor wir den Van verkauften und wieder nach Hause flogen.

Nach so einer Reise, wo man die meiste Zeit im Freien verbringt, war es schwierig, wieder in meine Londoner Wohnung und meinen Job in der Werbung zurückzukehren. Ich bin dort ein Jahr geblieben und habe die Schulden, die wir für die Reise machen mussten, abbezahlt. Dann haben wir uns dazu entschieden, ein Plätzchen irgendwo in Europa zu finden, wo wir glücklich sein würden. Daraus wurde Portugal. Zuerst haben wir in der Nähe von Lissabon gewohnt und sind erst später dahin gezogen, wo wir jetzt leben. Nach Antelejo, ein paar Fahrtstunden östlich von Lissabon.

Im Sommer ist es hier sehr heiß (42°) und üblicherweise regnet es im Winter häufig. Die Landschaft erinnert uns an die Savanne in der Sahel-Zone und die Masai Mara in Kenia. Es sind auch nur vier Stunden bis Sevilla, wir haben das Beste aus diesen zwei Welten gefunden: Frieden und Ruhe hier und die wunderbare alegría Sevillas dort.

Krimi-Couch: Zur Zeit arbeiten Sie an Teil drei der Javier-Falcón-Reihe. Wie sieht Ihr Alltag dabei aus?

Robert Wilson: Ich fange sehr früh an, stehe um 5.30 Uhr auf. Ich mache mir einen Tee und lese um die zehn Seiten eines Buches (nur selten ein Krimi) und dieser »Kick« wirft mein Gehirn an. Gerade lese ich Ian MacEwans Saturday, habe kurz davor Lionel Shrivers We Need to Talk about Kevin beendet. Den einzigen Thriller, den ich in letzter Zeit gelesen hatte, war Im Namen von Ismael von Giuseppe Genna.

Nachdem ich mein Hirn funktionsfähig habe, gehe ich die Arbeit des letzten Tages durch und führe daran einige Veränderungen durch. Danach fange ich mit der Arbeit des neuen Tags an.

Ich schreibe mit der Hand auf billigstem Kopierpapier und mit Bic-Kugelschreibern. Zwischendurch frühstücke ich, mache einen Spaziergang und eine weitere Pause für einen Kaffee. Ich arbeite bis mittags durch. Im Schnitt schaffe ich tausend Worte am Tag. Nachmittags halte ich Siesta bis etwa vier Uhr und danach, falls ich gerade ein neues Buch angefangen habe, lese ich mich ins Thema ein und mache mir meine Gedanken über die Arbeit des nächsten Tages.

Wenn ich ungefähr sechs Monate am ersten Entwurf geschrieben habe, setze ich ihn mit dem Computer um. Da ich eine neue Perspektive auf den ersten Entwurf habe und dieser bereits gut ausgearbeitet ist, kann ich noch viel ändern. Ich kürze, schreibe Dialoge um und würze den Plot. Damit möchte ich sicherstellen, dass alle weiteren Entwicklungen auf früheren Details glaubhaft basieren. Nachdem ich den ersten Entwurf dann fertig habe, bringe ich den ganzen Tag damit zu, den zweiten Entwurf mit dem Computer zu schreiben. Meine Frau liest ihn, gibt ihre Kommentare ab und ich mache einen neuen Entwurf. Dieser geht schließlich zu meiner Lektorin bei Harper Collins. Während des einen Monats, den meine Lektorin den Entwurf liest und kommentiert, mache ich mir ernsthafte Gedanken über das Buch. Ich gehe dann etwa einen Monat Wort für Wort durch, schreibe um, schneide heraus und füge meine eigenen Ideen und die meiner Lektorin ein. Wenn ich damit durch bin, lasse ich das Buch los.

»Zum Ende bin ich ein
Schatten meiner selbst
und von einem Toten
nicht zu unterscheiden.«

Für die Recherche benötige ich etwa fünf bis sechs Monate und für das Schreiben ungefähr ein Jahr. Ich arbeite jeden Tag, Wochenenden eingeschlossen. In den letzten drei Monaten des Schreibens arbeite ich zwischen zwölf und sechzehn Stunden pro Tag. Zum Ende bin ich ein Schatten meiner selbst und von einem Toten nicht zu unterscheiden.

Krimi-Couch: Können Sie uns schon etwas über Ihren neuen Roman verraten?

Robert Wilson: Eigentlich hatte ich nicht vor, ein Buch über Terrorismus zu schreiben. Aber gerade als mein letzter Vertrag auslief, passierten die Bombenanschläge in Madrid. Ich erkannte, dass wenn ich einen weiteren Falcón-Roman schriebe, ich in der perfekten Situation sein würde, den islamischen Terrorismus zu thematisieren: Ich habe bereits einen Kommissar als Helden, der herausgefunden hatte, dass er halb Spanier und halb Marokkaner ist und der dazu schon in »Die Toten von Santa Clara« Kontakt mit Geheimdiensten hatte. Und Andalusien ist wegen seiner Spanisch-Islamischen »Cross-Culture« ein einzigartiger Ort in Europa und Sevilla berühmt für seinen traditionellen Katholizismus und die Marienverehrung.

Auf jeden Fall wollte ich aus dem Roman nicht nur ein Buch über Terrorismus machen. Viele der Charaktere aus Der Blinde von Sevilla und Die Toten von Santa Clara tauchen wieder auf, sogar in einer noch vertiefteren Weise. Ich schaue mir dazu Terror in all seinen Formen an – womit ich eine weitaus persönlichere Ebene meine als den internationalen Terrorismus. Ungewöhnlich für mich: Ich habe – noch – keinen Titel für den Roman..

Krimi-Couch: Mr. Wilson, herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Lars Schafft im August 2005.

Dr. Drewnioks
mörderische Schattenseiten

Krimi-Couch Redakteur Dr. Michael Drewniok öffnet sein privates Bücherarchiv, das mittlerweile 11.000 Bände umfasst. Kommen Sie mit auf eine spannende und amüsante kleine Zeitreise, die mit viel nostalgischem Charme, skurrilen und amüsanten Anekdoten aufwartet. Willkommen bei „Dr. Drewnioks mörderische Schattenseiten“.

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