100 Jahre Hercule Poirot

von Dr. Michael Drewniok

Kleine graue Zellen lösen große Kriminalfälle

Ein trügerisch wunderlicher Mann

Sein Name ist Programm sowie eine beabsichtigte Täuschung, denn Hercule Poirot ist alles andere als der antike Herkules, der seine Gegner mit purer Körperkraft zur Strecke bringt. Stattdessen erscheint ein kleines, muskelfreies Männchen schon fortgeschrittenen Alters mit überproportional großem, deutlich eiförmigem Schädel und einem Gesicht, das durch eine notorisch blasierte Miene und einen manisch gepflegten (und wie das Resthaar schwarz gefärbten) Schnurrbart dominiert wird. Darüber hinaus ist Poirot stets makellos sauber und elegant gekleidet, wobei ihn Wetter und Klima nicht scheren; Hitze oder Kälte sind für ihn keine Gründe, in Nach-Lässigkeit zu verfallen. Zur Nachtruhe begibt er sich erst nach sorgfältiger Sicherung sämtlichen Kopfhaars. Ansonsten schätzt Poirot lukullische Genüsse, was zum Kummer des Ästheten seinen Bauch betont.

Zum Herkules wird Poirot, sobald er seine „kleinen grauen Zellen“ - so nennt er sein Hirn - in Gang setzt. 1947 entstanden mit „The Labours of Hercules“ („Die Arbeiten des Herkules”) sogar zwölf Kurzgeschichten, in denen sich der Detektiv scheinbar unmöglichen Aufgaben stellte, die er wie sein antiker Namensvetter einfallsreich löste.

Die Exzentrik ist gewollt, und sie ergab Sinn, als Agatha Christie (1890-1976) nach dem Ende des Ersten Weltkriegs beschloss eine Karriere als Schriftstellerin zu starten. Diese Formulierung wird bewusst gewählt, denn Christie war einerseits talentiert und motiviert, aber andererseits nüchtern und professionell genug, dies als Laufbahn zu planen, um dem Erfolg auf die Sprünge zu helfen. Für ihren ersten Roman, den sie bereits 1916 verfasst hatte, der aber erst vier Jahre später unter dem Titel „The Mysterious Affair at Styles“ („Das fehlende Glied in der Kette“) erschien (und Poirot in die Kriminalliteratur katapultierte), studierte Christie die Krimi-Literatur ihrer Zeit genau.

Von den Besten gelernt

Man vergisst leicht, dass sie, die so lange lebte, als Autorin aktiv und bis heute quasi präsent blieb, die Zeitgenossin großer Verfasser wie Arthur Conan Doyle (1859-1930), Freeman Wills Croft (1879-1957) oder Dorothy L. Sayers (1893-1957) war. Obwohl sie ihren eigenen Weg einschlug, lernte Christie von Sherlock Holmes, Inspektor French oder Lord Peter Wimsey. Ein Kriminalist zeichnet sich demnach durch ein auffälliges Erscheinungsbild und einen unverwechselbaren Charakter aus. Diese Mischung verbirgt die intellektuelle Schärfe des Detektivs, auf den seine Mitmenschen (sowie die Verdächtigen) irritiert reagieren, ihn nicht ernstnehmen und somit unterschätzen, während er - noch waren weibliche Ermittler in der Unterzahl - ihre ‚Schutzschirme‘ aus Täuschungen und Lügen durchschaut. Auf dem Buchmarkt garantiert eine solche Figur einen hohen Wiedererkennungswert, was sie serientauglich macht.

Poirot ist ein Produkt seiner Ära bzw. einer überaus hierarchisch strukturierten Gesellschaft. Sozialer Status war angeboren und quasi heilig. Polizisten u. a. Ordnungshüter standen auf einer Stufe mit jenen Dienstboten, die in „vornehmen Häusern“ dafür sorgten, dass sich Lords und Ladys die Hände nicht mit profaner Haushaltsarbeit schmutzig machen mussten. Als gewöhnlicher Beamter wäre Poirot als Ermittler, der sich gern dort (und unter den Verdächtigen) einquartierte, wo ein Verbrechen begangen wurde, kein ‚würdiger‘ Gast, dem sich ein Gentleman oder eine Lady anvertraut hätte. Christie schildert ihn deshalb klug als Außenseiter, der zwar seltsam, aber kultiviert ist und sich deshalb frei in und zwischen allen Gesellschaftskreisen bewegen kann.

Sie erfand dabei einen „running gag“, der Poirot immer in frustrierte Rage bringt: Die ebenso versnobten wie ahnungslosen Engländer halten ihn für einen Franzosen, obwohl Poirot in Belgien geboren wurde, durchaus stolz darauf ist sowie auf ein Vorleben im Dienst der lokalen Polizei zurückblicken kann - natürlich nicht als ‚gewöhnlicher‘ Polizist, sondern im gehobenen Dienst und während des „Großen Krieges“ als Mitarbeiter des Geheimdienstes. ‚Daheim‘ war Poirot so erfolgreich, dass ihm seine düpierten Gegner Rache schworen, weshalb es ratsam erschien, den Kontinent zu verlassen, um sich jenseits des hoffentlich schützenden Ärmelkanals in England anzusiedeln. Belgier ist Poirot aber auch, weil im Ersten Weltkrieg Flüchtlinge aus diesem Land in einem Lager nahe Torquay - damals Christies Wohnort - untergebracht waren.

Denken und handeln, aber keineswegs anstrengen!

Als Christie uns Poirot in „Das fehlende Glied in der Kette“ erstmals vorstellt, schreiben wir das Jahr 1917. Er ist gerade in England eingetroffen und denkt über den Ruhestand nach, ist also schon im fortgeschrittenen Alter, was Christie später stillschweigend korrigierte und weitgehend ignorierte, als Poirot seinen Wert als Serienfigur unter Beweis gestellt hatte. Er erlebt Abenteuer auch jenseits der Insel und hat keine altersbedingten Probleme, die Strapazen expeditionsähnlicher (Ermittlungs-) Reisen in heiße („Murder in Mesopotamia“, 1936; dt. „Mord in Mesopotamien“, „Death on the Nile”, 1937; dt. „Tod auf dem Nil“) oder kalte („Murder on the Orient Express“, 1934; dt. „Mord im Orient-Express“) Auslandsregionen zu meistern.

Von (überflüssiger) Bewegung oder gar Eile hält Poirot nichts. Er ist ein typischer „armchair detective“, der gern in aller Ruhe nachdenkt und den „kleinen grauen Zellen“ die Arbeit überlässt. Nichtsdestotrotz ist er - allerdings klagend - durchaus bereit, sich beispielsweise einem Flugzeug anzuvertrauen, wenn es für einen Fall erforderlich ist („Death in the Clouds“, 1935; dt. „Tod in den Wolken“). Unerwartet mobil (wohl in Erinnerung an seine Jahre im belgischen Geheimdienst) zeigt sich Poirot 1927 in „The Big Four“ (dt. „Die Großen Vier“), als es darum geht, einen gefährlichen, weltweit aktiven Agentenring auffliegen zu lassen.

Wie die meisten seiner ‚Kollegen‘ betrachtet Poirot die Verbrecherjagd als intellektuelle Herausforderung. Zwar gibt er sich entrüstet, wenn beispielsweise ein Mord begangen wurde, den er als heimtückisch beurteilt, doch dieser Zorn speist höchstens eine freudige Entschlossenheit sich mit dem Gegner zu messen. Da er daraus nie einen Hehl macht, entwickelt sich ein Wettkampf, der Poirot mehrfach in Lebensgefahr bringt, wenn dem ins Visier genommenen Übeltäter schwant, dass der Detektive ihm immer näher kommt. Seine eigentliche Belohnung - über Honorargeld spricht der Gentleman nicht - streicht der durchaus eitle Poirot ein, wenn er sämtliche Personen, die in den Fall verwickelt sind, und die notorisch im Dunkeln tappende Polizei zur finalen Zusammenkunft lädt. Dort erläutert er seinem Publikum (und uns Lesern) haarklein, wie und wer die Tat begangen und wie schlau er, Poirot, trotz oder gerade wegen zeitweiliger Irrtümer gehandelt hat.

Geist statt Gefühl - mit Abstrichen

Ebenfalls ganz im Geiste eines genialen Ermittlers ist für Poirot die Arbeit getan, wenn der oder die Schuldige entlarvt wurde. Die unangenehm unmittelbare Aufgabe der Verhaftung überlässt Poirot gern der Polizei. Dass Mörder in England gehängt werden, verdrängt er; seine Hände bleiben sauber. Poirot ist anders als beispielsweise Lord Peter Wimsey, der an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gerät, wenn er weiß, dass der Henker gerade eines ‚seiner‘ Opfer zum Galgen führt. Eine bequeme Alternative bietet der auch von Christie gern genutzte Selbstmord des Täters, der damit sich, der Familie, den Freunden sowie der Gesellschaft die Schande des Stricks erspart. Manchmal maßt sich Poirot an zu richten - oder eben nicht: War ein Mord aus seiner Sicht ‚gerechtfertigt‘, lässt er die Täter möglicherweise entwischen („Mord im Orient-Express“), und am Ende seiner Laufbahn/seines Lebens wird er um der (bzw. um seiner) Gerechtigkeit willen selbst zum Mörder („Curtain: Poirot’s Last Case“, 1975; dt. „Vorhang“).

An Poirots Seite ist kein Platz für eine Frau. Ob ihn überhaupt amouröse Gefühle heimsuchen, ließ Christie offen. Zwar ist es der Mord an Emily Inglethorp, der ihn veranlasst, erstmals in England detektivisch tätig zu werden („Das fehlende Glied in der Kette“), doch sie war verheiratet und eine Gönnerin, die ihm den Neuanfang auf der Insel ermöglichte, weshalb Poirot ihren Mörder eher aus Dankbarkeit entlarvte. Nichtsdestotrotz hat auch Hercule Poirot seine Irene Adler - die russische Gräfin und Glücksritterin Vera Rossakoff, die sich nach der Oktoberrevolution als (Doppel-) Agentin und Juwelendiebin betätigt. Mehrfach kreuzt sie Poirots Weg (im Roman „Die Großen Vier“ sowie in den Kurzgeschichten „The Double Clue“, 1923; dt. „Ein Indiz zuviel“ und „The Capture of Cerberus“, 1947; dt. „Die Gefangennahme des Zerberus“) und kann dabei nicht nur seine Anerkennung als intelligente Gegnerin, sondern auch sein Herz gewinnen. Freilich schweigt sich Christie über eine möglicherweise ‚heiße Phase‘ dieser Beziehung aus.

Auch als Freund ist Poirot kompliziert. In den vielen Jahren seiner Ermittlungen arbeitet er mit Männern zusammen, die er lernt zu schätzen - und auszunutzen. Für den freundlichen, aber nicht gerade mit Geisteskraft geschlagenen Captain Arthur Hastings - der auch als Ich-Erzähler mehrerer Poirot-Abenteuer fungiert - und den ebenfalls beflissenen, aber kooperationsbereiten Scotland-Yard-Chefinspektor James Japp empfindet Poirot sicherlich freundschaftliche Gefühle, was ihn aber nicht daran hindert, sie dort im Dunkeln tappen zu lassen, wo er, Poirot, längst weiß, wer die jeweilige Übeltat auf welche Weise begangen hat. Dies ist ein im Genre bewährter Kunstgriff: In der klassischen Kriminalliteratur sind ‚Watsons‘ üblich. Sie verfolgen in Vertretung der Leser die Ermittlungen und stellen viele Fragen, die der geniale Detektiv ebenso augenverdrehend wie geschmeichelt beantwortet.

Konsequenter Tod …

In der Regel ‚überleben‘ erfolgreiche Serienfiguren den Tod ihrer geistigen Väter oder Mütter. Nach einem letzten Roman verschwinden sie munter im literarischen Walhalla und bleiben irdisch in den Neuauflagen präsent. Nur selten ‚sterben‘ sie, was verständlich ist: Wieso sollte ein/e Autor/in die Gans schlachten, die goldene Eier legt? (Es kommt vor; so hat Arthur Conan Doyle Sherlock Holmes in den Fällen des Reichenbachs umkommen lassen, als er seiner überdrüssig war. Später ließ er ihn reumütig - und lukrativ - wiederauferstehen.)

Agatha Christie blieb die kalkulierende Planerin, als sie über Poirots Schicksal bestimmte. In den 1940er Jahren war sie auf der Höhe ihrer Schaffenskraft, schrieb Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Außerdem sorgte sie für ihr Alter vor. Christie ging davon aus, eines Tages nicht mehr schreiben zu können. Deshalb verfasste sie zwei Romane, die sie in ihre Schublade legte und für den Tag X hortete. Buch Nr. 1 war der 1940 entstandene Miss-Marple-Roman „Sleeping Murder“ (erschienen 1976; dt. „Ruhe unsanft“).

Nr. 2 war „Vorhang“: Der durch Arthritis verkrüppelte und von Schmerzen geplagte Poirot kehrt nach Styles zurück, wo er einst seinen ersten Fall („Das fehlende Glied in der Kette“) gelöst hat. Geschwächt kann er nicht mehr zur gewohnten Form auflaufen, weshalb der von ihm entworfene Plan zur Entlarvung eines geschickten Mörders fehlschlägt und Poirot schließlich zur Selbstjustiz greift. Er stirbt kurz darauf und hinterlässt dem ebenfalls involvierten Captain Hastings einen Brief, in dem er seine Tat gesteht sowie seine Motive und den Fall erläutert.

… und lukrative Wiederkehr des Hercule Poirot

Damit endete die Ära Poirot mit einem Paukenschlag; der ‚Tod‘ des Detektivs wurde 1975 sogar auf der Titelseite der „New York Times“ gemeldet. Mehrere Jahrzehnte blieb Poirot zumindest literarisch so tot, wie Christie es vorgesehen hatte. Je länger die Autorin in ihrem Grab ruhte, desto unruhiger wurden jene, die von den Rechten und Tantiemen profitierten, die auch nach Christies Tod fortbestanden bzw. flossen - freilich nicht ewig: Irgendwann läuft jedes Copyright aus; eine unerfreuliche Erkenntnis, der sich u. a. die Erben von Arthur Conan Doyle und Edgar Wallace stellen mussten. In den USA sind einige frühe Christie-Romane und Storys bereits ‚frei‘ („public domain“). In Großbritannien können die Erben - aktuell vertreten durch Christies Enkel Mathew Prichard - bis 2046 die Hand aufhalten. Innerhalb dieser gesetzlichen Frist holt der „Agatha Christie Ltd. Trust“ heraus, was herauszuholen ist. Deshalb heuerte man u. a. eine Autorin an, die neue Poirot-Geschichten schreibt.

Die Wahl fiel auf die 1971 geborene Sophie Hannah, die das erforderliche handwerkliche Geschick bereits unter Beweis gestellt hatte. Seit 2006 veröffentlicht Hannah u. a. die Culver-Valley-Crime-Serie, in deren Mittelpunkt die Polizisten Detective Constable Simon Waterhouse und Sergeant Charlie Zailer stehen. 2014 erschien unter lautem Rühren der Werbetrommeln „The Monogram Murders. The New Hercule Poirot Mystery“ (dt. „Die Monogramm-Morde“).

Hannah versuchte einerseits den klassischen Christie-Poirot zu bewahren, den sie andererseits ‚gegenwartsadäquater‘ gestaltete. Es entstand - jedenfalls (aber nicht nur) nach Ansicht dieses Verfassers - ein mit Poirot-Insider-Wissen gespickter, aber steifer und im Plot nicht immer logischer Historienkrimi. Das Leser-Publikum urteilte in ausreichender Kopfzahl anders, weshalb bisher drei weitere ‚neue‘ Poirot-Romane folgten - Nr. 4 erschien im Jubiläumsjahr 2020 -, in denen Hannah die Figur besser in den Griff bekam. Nichtdestotrotz ist dieser Poirot - wen wundert’s? -  Hannahs Poirot.

Monsieur Poirot beweist Medientauglichkeit

Agatha Christies Professionalität als Autorin wird durch ein ausgeprägtes Interesse für Märkte und Medien jenseits des gedruckten Wortes unterstrichen. Ihre Liebe zum Theater war sogar älter als ihr Bemühen, sich als Schriftstellerin einen Namen zu machen. Schon 1908 versuchte sich Christie an einem Theaterstück. Zwanzig Jahre später war es Poirot, der sie zur Bühne zurückbrachte. Der englische Dramaturg Michael Morton (1864-1931) unternahm es 1928 als erster, den schon berühmten Detektiv auf jene sprichwörtlichen Bretter zu bringen, die für Theater-Aficionados die Welt bedeuten. Als Vorlage wählte er Christies zwei Jahre zuvor erschienenen Roman „The Murder of Roger Ackroyd“ (dt. „Roger Ackroyd und sein Mörder“/ „Alibi“). In die Rolle des Poirot schlüpfte der junge Charles Laughton (1899-1962), der später zu einem der besten Filmschauspieler seiner Zeit aufstieg.

Das Stück wurde 250-mal aufgeführt, war also durchaus erfolgreich. Christies Zustimmung fand es nicht. Sie ärgerte sich über Poirot-fremde Eigenheiten; so hatte Morton den Detektiv deutlich verjüngt, und er zeigte deutliches Interesse an hübschen Frauen (was das Talent des homosexuellen Laughton unterstreicht). Christie war oft enttäuscht davon, was Theater, Film und Fernsehen aus ihren Figuren machten; bekannt wurde vor allem ihre Unzufriedenheit mit Margaret Rutherford als Miss Marple. (Letztlich schloss sie damit ihren Frieden.) „Alibi“ veranlasste Christie zu einem eigenen Theaterstück, in dem Poirot so auftreten sollte, wie sie ihn erschaffen hatte. „Black Coffee“ debütierte 1930 mit Francis L. Sullivan (1903-1956) in der Titelrolle, der nach Christies Ansicht höchstens zu hoch gewachsen für Poirot war.

Mit „Black Coffee“ hatte Christie erfolgreich Theaterblut geleckt. Sie schrieb nicht nur mehr als 60 Kriminalromane, sondern auch zwanzig Bühnenstücke, wobei sie viel Zeit in diesen Bereich ihrer Karriere investierte. Aus ihrer Feder stammt auch „The Mouse Trap“, zwischen 1952 und 2020 ohne Unterbrechung im Londoner West End aufgeführt! (Noch bevor Sophie Hannah ‚neue‘ Poirot-Geschichten verfasste, schrieb der Autor Charles Osborne „Black Coffee“ 1998 zu einem ‚normalen‘ Roman um, der unter diesem Titel auch in Deutschland erschien.)

Poirot für die Ohren

Etwa zeitgleich mit dem noch stummen Film entwickelte sich das Radio. Da es seine Sendungen auf dem Luftweg übertrug, erreichte es in einer TV- und internetfreien Ära wesentlich mehr Menschen als Kino und Theater. Zu Publikumsrennern wurden Hörspiele, die auf bereits existierenden Roman- oder Story-Vorlagen basierten oder eigens für das Radio entstanden. Oft waren sie aufwändig produziert, und bekannte Stars traten vor die Mikrofone, um sich auf diese Weise etwas hinzuzuverdienen.

Hercule Poirot debütierte „on air“ 1937 mit dem BBC-Hörspiel „Yellow Iris“ (dt. „Lasst Blumen sprechen“). Christie hatte die Story mit dem Blick auf diese Adaption geschrieben, d. h. Schauplätze und Figuren beschränkt, um das Medium nicht zu überfordern. Zwei Jahre später griff in den USA niemand Geringerer als Orson Welles den Roman „Alibi“ für die Reihe „Campbell Playhouse“ (auf CBS) auf; der junge, schon berühmte Autor und Schauspieler - er war u. a. die treibende Kraft hinter dem 1938 Aufsehen (und Panik) erregenden Hörspiel „The War of the Worlds“ (dt. „Krieg der Welten“ - übernahm persönlich die Poirot-Rolle.

Poirot blieb im Radio präsent. Erwähnt sei beispielhaft eine 13-teilige Serie halbstündiger Hörspiele, die 1945 entstanden und den Detektiv von London nach New York umsiedelten. Agatha Christie selbst sprach einen Kommentar zum Serienstart ein. Zwischen 1985 und 2007 (und damit etwa zeitgleich mit der ebenfalls über Jahrzehnte laufenden TV-Serie „Agatha Christie's Poirot“) strahlte BBC Radio 4 27 Hörspiele nach Poirot-Romanen und Storys aus. Für Kontinuität sorgten nicht nur der seit Episode 3 den Poirot sprechende John Moffat (1922-2012), sondern auch Autor Michael Bakewell und Regisseurin Enyd Williams.

Sprung auf die Leinwand

1928 wurde erstmals ein Christie-Werk verfilmt. „The Passing of Mr. Quinn“ basierte auf einer Erzählung aus dem Jahre 1924. Abermals war die Autorin mit dem Ergebnis unzufrieden. Dies galt auch für Poirots ersten Tonfilmauftritt drei Jahre später - kein Wunder, nutzte doch Regisseur Leslie S. Hiscott als Vorlage das Stück von Morton. Auch Austin Trevor (1897-1978) als Poirot fand Christies Zustimmung nicht. Für die Twickenham Film Studios war der Film erfolgreich genug, um noch 1931 „Black Coffee“ und 1934 „Lord Edgware Dies“ (nach dem Roman „Dreizehn bei Tisch“ von 1933) - ebenfalls mit Trevor - nachzuschieben.

Christies Misstrauen in die Filmwelt bestätigte sich Anfang der 1960er Jahre gleich mehrfach. Zwischen 1961 und 1965 entstanden nicht nur vier Miss-Marple-Filme mit der von ihr keineswegs favorisierten Margaret Rutherford (s. o.), sondern 1966 auch „The Alphabet Murders“ (dt. „Die Morde des Herrn ABC“) mit dem Amerikaner (!) Tony Randall (1920-2004), der Poirot nicht einmal äußerlich ähnelte und sich durch eine (ungeachtet der Vorlagenferne übrigens sehr unterhaltsame) Krimi-Komödie blödelte (in der sich Rutherford kurz als Miss Marple blicken ließ; eine ‚echte‘ Poirot-Parodie bot 1976 James Coco als „Milo Perrier“ in der Krimi-Komödie „Murder by Death“; dt. „Eine Leiche zum Dessert“).

Obwohl die Filme Christies Börse klingeln ließen, fremdelte sie weiterhin mit den Leinwand-Poirots. Zwei Jahre vor ihrem Tod erlebte sie noch den Start einer ganzen Reihe aufwändig gefilmter und bis in die Nebenrollen mit alten und jüngeren Stars besetzten Poirot-Filme. „Mord im Orient-Express“ präsentierte mit Albert Finney (1936-2019) einen großartigen Poirot - genial, pompös, eingebildet, steif oder eher gefangen in selbst auferlegten Konventionen. An seiner Seite spielten u. a. Lauren Bacall, Martin Balsam, Ingrid Bergmann, Jacqueline Bisset, Jean-Pierre Cassel, Sean Connery, John Gielgud, Vanessa Redgrave, Anthony Perkins, Michael York und Richard Widmark - ein Who’s Who des anglo-amerikanischen Kinos (und ein unnötiger Auftrieb unterforderter Stars), das Regisseur Sidney Lumet formvollendet, d. h. erlesen nostalgisch in Szene setzte.

Christie war tot, als Peter Ustinov (1921-2004) in „Death on the Nile“(dt. „Tod auf dem Nil) 1978 die Poirot-Rolle weniger übernahm als an sich riss. Was er daraus machte, hätte der Autorin vermutlich erneut nicht gefallen, aber Ustinov schuf einen überaus publikumsbeliebten Poirot und verkörperte ihn bis 1988 in zwei weiteren Kino- sowie drei Fernsehfilmen; das Konzept der starbesetzten Nebenrollen blieb dabei gewahrt. Kenneth Branagh übernahm es 2017 in der von ihm inszenierten Neuverfilmung von „Mord im Orient-Express“; er spielte außerdem den Poirot. Nachdem der von der Kritik verhalten aufgenommene Film bei einem Budget von 55 Mio. Dollar knapp das Siebenfache dieser Summe einspielte, war Christie zurück im Kino-Geschäft. 2019 realisierte wieder Branagh als Regisseur und Poirot-Darsteller das Remake von „Tod auf dem Nil“. Es kam im Poirot-Jubiläumsjahr 2020 in die Kinos.

Poirot im Fernsehen

Ausgerechnet in Deutschland wurde das noch junge Fernsehen erstmals auf Christie bzw. Poirot aufmerksam. Im Rahmen der siebenteiligen Serie „Die Galerie der großen Detektive“ (1954/55) entstand für den Südwestfunk (SWF) 1955 die Episode „Hercule Poirot klärt den Mord im Orient-Express auf“. Die Titelrolle übernahm Heini Göbel. (1973 verfilmte das ZDF „Black Coffee“ mit Horst Bollmann als Poirot.)

Erst 1962 schaffte es Poirot erneut ins Fernsehen; wieder nicht in England, sondern in den USA. Für den Sender CBS gab Martin Gabel den Detektiv in einer Adaption der Story „The Disappearance of Mr. Davenheim“ (entstanden 1923; dt. „Das Verschwinden des Mr. Davenheim“). Eigentlich sollte dies der Start einer Poirot-Serie werden, die aufgrund der geringen Zuschauerresonanz nicht zustande kam.

Das englische Fernsehen hatte sich in Sachen Poirot lange zurückgehalten. Als es die Figur aufgriff, geschah dies mit Sorgfalt und Gründlichkeit. Den Anfang machte Peter Ustinov, der Poirot 1978 und 1982 bereits auf der Leinwand gespielt hatte (und dies 1988 wiederholte). 1985 und 1986 entstanden in britisch-US-amerikanischer Co-Produktion drei TV-Spielfilme: „Thirteen at Dinner“ (dt. „Mord à la Carte”), „Murder in Three Acts“ (dt. „Tödliche Parties“) und „Death Man's Folly“ (dt. „Mord mit verteilten Rollen“).

1989 wurde David Suchet Hercule Poirot. Bis 2013 verkörperte er die Rolle 70 Mal,  womit die meisten Romane (33) und Kurzgeschichten (59) umgesetzt wurden. Um die Produktionskosten unter Kontrolle zu halten, spielten sämtliche Episoden in den 1930er Jahren, weshalb die Kulissen einheitlich gestaltet werden konnten. Randfiguren wie Captain Hastings, Chief Inspector Japp und Miss Lemon (Poirots Sekretärin) erschienen wesentlich häufiger als in Christies Vorlagen. Nach 24 Jahren endete die Reihe ‚ordnungsgemäß‘ mit der Verfilmung des letzten Poirot-Romans „Vorhang“.

Für das US-Fernsehen entstand 2001 eine weitere Version von „Mord im Orient-Express“. Unter der Regie des aus Deutschland stammenden Carl Schenkel trat Alfred Molina in Poirots Fußstapfen. Die Handlung wurde in die moderne Gegenwart verlegt, das Ergebnis als mittelmäßig kritisiert, wobei die Entscheidung, ausgerechnet Poirot in eine Liebesgeschichte zu verwickeln, eine besondere Rüge verdiente.

Die „Morde des Herrn ABC“ wurde 2018 für BBC One mit John Malkovich als Hercule Poirot neu verfilmt. Gänzlich anders als in der komödiantischen Version von 1966 gab Malkovich in dieser dreiteiligen Mini-Serie einen vom Leben gebeutelten, an sich und seinen Fähigkeiten zweifelnden Poirot in einer Handlung mit generell düsteren Untertönen.

1920/2020: der allgegenwärtige M. Poirot

Ausgerechnet der so ‚typisch‘ belgische bzw. englische Poirot tauchte in den TV-Programmen von Ländern auf, mit denen man ihn nie in Verbindung brächte: in Spanien, Russland oder Japan (hier als Realfilm sowie Anime). Ein Blick auf diesen Poirot würde an dieser Stelle zu weit führen. Dies gilt auch für den ‚digitalen‘ Poirot, denn der Detektiv ermittelt längst auch im PC-Game (beispielsweise 2007 in „The Evil Under the Sun“) und ist auch online nicht mehr wegzudenken.

Poirot löst neue Fällen, tritt vor die Kamera und wird ohne Zweifel auch nach dem Jubiläumsjahr 2020 multimedial präsent bleiben. Agatha Christie hat sich nicht grundlos den Kopf zerbrochen. Ihr gelang das seltene Kunststück, einen modernen populärkulturellen Mythos zu schaffen und über mehr als ein halbes Jahrhundert zu begleiten. Sie musste Poirot nicht am Leben erhalten, er verselbstständigte sich, überlebte seine Schöpferin und wird weiterhin ermitteln, so lange wir fasziniert den „kleinen grauen Zellen“ bei ihrer Arbeit zuschauen wollen!

(Wieder einmal begnüge ich mich mit dem Hinweis auf das Internet, in dem die zahlreichen Quellen sprudeln, aus dem sich die hier zusammengetragenen Informationen speisen. Genannt werden muss www.agathachristie.com [„The Home of Agatha Christie“], denn hier lassen sich essenzielle Fakten finden, die eine weitere Recherche in Gang bringen. Eventuelle Irrtümer sind wie üblich dem Verfasser anzulasten.)

"100 Jahre Hercule Poirot" von Dr. Michael Drewniok
Titel-Motiv: © istock.com / bizoo_n

Dr. Drewnioks
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