Film:
„Psycho“ – 1960

Krimi-Couch Spezial von Marcel Scharrenbroich

„Der beste Freund eines Mannes ist seine Mutter.“ - Norman Bates

Äääääh, ja… welch Sonnenscheinchen aus so einer zweifelhaften Ansicht heranwächst, kann man sowohl im 1959 erschienenen Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Robert Bloch (1917 – 1994) nachlesen, welcher sich für seinen Hauptcharakter an den realen Taten des Serienmörders und Leichenschänders Ed Gein orientierte, als auch live und in Schwarz-Weiß bewundern… in einem wegweisenden Thriller, der alle bisherigen Genre-Konventionen auf den Kopf stellte und gleich mehrere Tabus brach: „PSYCHO“

Die junge, attraktive Marion Crane (Janet Leigh) träumt von einem besseren Leben. Zum Schäferstündchen trifft sie sich mit ihrem Liebhaber Sam Loomis (John Gavin) in einem Hotelzimmer in Phoenix. An eine ersehnte Hochzeit ist dabei noch nicht zu denken, was der finanziellen Lage des Pärchens geschuldet ist. Das bodenständige Leben, welches Marion sich erträumt, liegt somit noch in weiter Ferne. Um an dieser Situation etwas zu ändern, greift die junge Frau zu drastischen Maßnahmen. An ihrem Arbeitsplatz wird die Sekretärin von ihrem Vorgesetzten damit beauftragt, 40.000 Dollar zur Bank zu bringen und nutzt spontan die Gunst der Stunde. Sie nimmt das Geld, setzt sich in ihr Auto und fährt los… Sie unterschlägt die (aus heutiger Sicht überschaubare) Summe, meldet sich krank und verlässt die Stadt.

Auf ihrem Weg ins Ungewisse wird die nun kriminelle Marion von Schuld und Zweifeln geplagt. Nicht zuletzt, da ihr Boss sie zu Beginn ihrer Flucht noch am Steuer ihres Wagens gesehen hat. Um auf Nummer sicher zu gehen, tauscht die sichtlich nervöse und paranoide Frau ihren Wagen an einer Tankstelle gegen ein neues Gefährt ein. Im nächtlichen Regen blickt sie immer wieder in den Rückspiegel, ob sich nicht eventuell der misstrauische Polizist, der Marions auffälliges Verhalten bereits an der Tankstelle skeptisch registrierte, an ihre Fersen geheftet hat. War ihre Entscheidung die Richtige? Da ihr übermüdet beinahe die Augen zufallen, beschließt sie, in einem abseits der Hauptstraße gelegenen Motel Unterschlupf zu suchen. Das einladende Schild zeigt an: es sind noch Zimmer frei.

Man könnte nun meinen, dass es ein glücklicher Zufall ist, dass es Marion gerade in dieses unterbelegte Motel führt, zumal der Betreiber ein schüchternes Kerlchen ist, das auf den ersten Blick einen sehr sympathischen Eindruck macht. Aber weit gefehlt… denn der gute Norman, der sich in dem höhergelegenen viktorianischen Anwesen scheinbar rührend um seine kranke Frau Mutter kümmert, hat da ein ganz besonderes Problem… oder zwei… Speziell für attraktive Damen scheint er nicht das richtige Händchen zu haben… und Mutter ist von weiblicher Gesellschaft auch nicht gerade begeistert.

Hinter verschlossenen Türen

Alfred Hitchcock hat mit „Psycho“ das Thriller-Genre revolutioniert… ja, sogar nachhaltig geprägt, neu definiert. Nach rund 60 Jahren lasse ich auch nicht gerade unvorbereitet die Katze aus dem Sack, wenn ich sage, dass es absolut neu (und für viele Zuschauer auch schockierend) war, dass der Regisseur seine Hauptdarstellerin nach knapp der Hälfte des Films über die (wortwörtliche) Klinge springen ließ.

Die Badezimmer-Szene in „Psycho“ ist ikonisch, wurde hundertfach kopiert und in unzähligen Filmen und Serien als Hommage adaptiert. Die schockierende Sequenz, in der Marion Crane unter der Dusche steht, nachdem sie unbemerkt von Norman Bates durch ein Guckloch in der Wand aus dem Nebenzimmer beobachtet wurde, schrieb Geschichte und brach Tabus. Die nackte Silhouette der Hauptfigur hinter dem halbdurchsichtigen Duschvorhang und das Zeigen einer Toilettenspülung sorgten für Empörung, was mit fast 60 Jahren Abstand nur belächelt werden kann. Die Reinheit und Intimität des stillen Örtchens so provokant und offen zu zeigen, kam vielen Zuschauern als Einbruch in die Privatsphäre gleich. Und genau DA wollte Hitchcock sein Publikum treffen… in ihrer Sicherheit! Ihrem Allerheiligsten. Dort, wo jeder zurückgezogen für sich allein ist. In „Psycho“ brach er diese Sicherheit brutal auf und führte den Zuschauern vor Augen, dass sie NIRGENDWO sicher waren. Dass das, was nun folgen sollte, mit gängigen Konventionen brechen würde. Von nun an konnte alles passieren… und als die Umrisse einer alten Frau durch den Duschvorhang aus Marions Sicht zu erahnen waren, tat es das auch!

Bernard Herrmanns legendäre, grell-kreischende Streicher deuteten das drohende Unheil bereits musikalisch an. Eine Hand zog ruckartig den Vorhang beiseite und ein langes Messer funkelte in der anderen Hand der im Schatten stehenden Figur auf, bereit erbarmungslos zuzustechen. Es folgte eine meisterhafte Schnittorgie, die aus den unterschiedlichsten Kameraperspektiven die letzten Sekunden von Marion Crane einleitete. In 78 Einstellungen und mit 52 Schnitten stellte Hitchcock den Todeskampf der panischen Frau dar. Der Höhepunkt einer dreiminütigen Albtraumsequenz, die Filmgeschichte schrieb. Regisseur Martin Scorsese („Taxi Driver“, „Good Fellas“, „Departed“) nutzte Hitchcocks Schnitt-Stakkato für sein Boxer-Drama „Wie ein wilder Stier“ aus dem Jahr 1980, in dem er die Schläge, die auf Robert De Niros Charakter Jake LaMotta einprasseln, exakt so inszenierte, wie die Messerattacke auf Marion Crane. Weit mehr als ein bloßes Abkupfern, sondern mehr eine Hommage an die Technik des Altmeisters und zugleich eine Würdigung Hitchcocks Schaffens. „Psycho“-Hauptdarstellerin Janet Leigh (1927 - 2004) gestand einmal, dass sie es seit den Dreharbeiten vermieden hatte wo es nur ging, wieder in eine Dusche zu steigen und stattdessen ein Bad vorgezogen hat… wer kann es ihr verübeln?

Obwohl Alfred Hitchcock 1960 bereits ein gefragter und erfolgreicher Regisseur war, der mit hohen Budgets seine Filme realisierte, war „Psycho“ eine Low-Budget-Produktion. Vornehmlich mit der Crew seiner TV-Serie „Alfred Hitchcock präsentiert“ gedreht, realisierte er das Projekt für gerade einmal 800.000 Dollar. Der Farbfilm war längst eingeführt und die meisten Produktionen strahlten in farbenprächtigem Technicolor, doch der Regisseur setzte auf klassisches Schwarz-Weiß. Ein Grund war die - für damalige Verhältnisse - hohe Brutalität… an zweiter Stelle stand natürlich der finanzielle Aspekt. Auch beim Orchester wurde eingespart und man entschied sich, nur Streichinstrumente zu nutzen. Eine gute Entscheidung, wie man heute weiß.

Wer mehr über die Entstehung von „Psycho“ erfahren möchte, sollte sich unbedingt den Spielfilm „Hitchcock“ aus dem Jahr 2012 anschauen. Mit den Stars Anthony Hopkins, Helen Mirren, Scarlett Johansson, Toni Collette, Jessica Biel, Danny Huston, James D’Arcy, Ralph Macchio und Kurtwood Smith gespickt, wurde die Biografie „Alfred Hitchcock and the Making of Psycho“ von Stephen Rebello adaptiert, die blendend unterhält und einen anderen, intimeren Blick auf den großen Regisseur und sein Privatleben gewährt.

Mit Janet Leigh, die vor „Psycho“ bereits an der Seite von Stewart Granger das Mantel-und-Degen-Abenteuer „Scaramouche, der galante Marquis“ drehte, in Orson Welles‘ „Im Zeichen des Bösen“ brillierte und gemeinsam mit ihrem Ehemann Tony Curtis in Richard Fleischers „Die Wikinger“ als Morgana vor der Kamera stand, hatte Hitchcock bereits eine erfahrene Hauptdarstellerin im Boot. Da die Mutter der Schauspielerin Jamie Lee Curtis (die gemeinsam mit ihrer Tochter auch in „Halloween: H20“ zu sehen war. Jenem Genre-Franchise, das Jamie Lee 1978 zu internationaler Bekanntheit verhalf.) jedoch nach der Hälfte das Zeitliche segnete, stand mit Vera Miles noch eine zweite Hollywood-Diva parat, die in den John Ford-Klassikern „Der schwarze Falke“ und „Der Mann, der Liberty Valance erschoß“ neben John Wayne, James Stewart und Lee Marvin zum Star aufstieg. Miles schlüpfte in die Rolle von Marion Cranes Schwester Lila, die sich mit deren Geliebten Sam Loomis zusammentat, um das Verschwinden der jungen Frau aufzuklären.

Doch so, wie in fast jedem Thriller, steigt und fällt die Atmosphäre mit einem charismatischen Antagonisten. Diesen fand der Regisseur in Schauspieler Anthony Perkins (1932 – 1992), der zuvor hauptsächlich in TV-Produktionen auftrat und sich optisch sehr vom Charakter der Romanvorlage, in der Norman Bates als dick und unansehnlich beschrieben wird, unterscheidet. Die Rolle des schüchternen Motel-Betreibers, der Mutti ganz gerne mal ausgestopft ans Fenster setzt und auch hin und wieder in ihrem Fummel durch die Hallen des Herrenhauses rennt, war dem gebürtigem New Yorker auf den schlaksigen Leib geschrieben. Sein unscheinbares, bisweilen unbeholfenes und charmantes Auftreten sorgte dafür, dass sein diabolisches Grinsen und der damit verbundene Wahnsinn in den Augen noch effektiver war. Die Rolle des Norman Bates war DIE Rolle, auf die Perkins Zeit seines Lebens abonniert war. Zwar spielte er auch andere Charaktere und war so im Star-Ensemble von Sidney Lumets Krimi-Klassiker „Mord im Orient-Express“ zu sehen, war Teil der Crew in Disneys düsterem Sci-Fi-Streifen „Das schwarze Loch“, wo er mit Größen wie Maximilian Schell, Yvette Mimieux und Ernest Borgnine drehte und gab den Terroristen in „Sprengkommando Atlantik“, als Gegenpart von Ex-Bond Roger Moore. Dennoch… der schlanke Schatten von Norman Bates ließ sich nicht so leicht abschütteln. So eine ikonische Rolle ist zugleich Fluch und Segen für jeden Schauspieler, der nicht mehr aus einer Nische herauskommt, sobald der Zuschauer diesen AUSSCHLIESSLICH mit einem dargestellten Charakter verbindet. Meist ist es schwer dort wieder Fuß zu fassen, da Regisseure sich häufig nicht trauen, einen Schauspieler entgegen seines Rollen-Klischees zu besetzen… siehe Macaulay Culkin (den ewigen „Kevin“), Rowan „Mr. Bean“ Atkinson oder „Luke Skywalker“ Mark Hamill, der sich zumindest ein zweites Standbein als „Joker“-Synchronsprecher aufbauen konnte und bald auch Killerpuppe „Chucky“ in der Neuinterpretation von „Child’s Play“ seine markante Stimme leihen wird. Die Liste der gebrandmarkten Schauspieler ist lang und Ausnahmen wie Jim Carrey - der mit „The Majestic“, „Vergiss mein nicht!“ und „Number 23“ gezeigt hat, dass er mehr kann, als nur den Clown mit dem Gummigesicht mimen – muss man mit der Lupe suchen, doch Anthony Perkins machte das Beste aus dieser Situation. Anstatt verbittert die Rolle, die ihn unverwechselbar in der Filmlandschaft zementiert hat, zu verfluchen, arrangierte er sich mit Norman Bates und schlüpfte drei weitere Male in dessen Haut… und Mamis Garderobe. Obwohl natürlich keine der Fortsetzungen an das große Original (und ich sage bewusst „Original“ und werde mich hüten, „Psycho“ als „Teil 1“ zu bezeichnen, da Hitch mich wohl sonst ewig und drei Tage aus dem Grab heraus heimsuchen würde…) heranreicht, haben durchaus alle Ableger ihre Daseinsberechtigung, da sie den Klassiker nicht nur plump imitieren. 1992 steckte Anthony Hopkins sogar in den Vorbereitungen für einen weiteren Film, verstarb jedoch im Alter von nur 60 Jahren an einer Lungenentzündung.

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Cover und Fotos: © TURBINE Medien
Foto "Alfred Hitchcock": © istock.com/PictureLake

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