Die Last des Beweises

  • Piper
  • Erschienen: Januar 1993
  • 2
  • London: Victor Gollancz, 1944, Titel: 'The weight of the evidence', Seiten: 167, Originalsprache
  • München; Zürich: Piper, 1993, Seiten: 257, Übersetzt: Joachim Kalka
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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2021

Meteoriteneinschlag in Professor-Schädel

Nesfield, eine mittelgroße, gesichtslose Stadt in der englischen Provinz, kann auch durch die hier beheimatete Universität keinen überregionalen Ruf beanspruchen. An dieser Institution studieren keine zukünftigen Gelehrten, Künstler (oder Politiker); die Ausbildung ist eher praxisorientiert und stellt naturwissenschaftliche und technische Fächer in den Vordergrund, obwohl auch Geisteswissenschaften gelehrt werden.

In einem Punkt geht es in Nesfield allerdings wie an jeder (englischen) Universität zu: Die Dozenten streiten und intrigieren. Feindschaften werden nicht immer unter Einhaltung akademischer Feinheiten ausgetragen. Auf den unbeliebten Biochemiker Professor Pluckrose ging beispielsweise ein Meteorit nieder, der (nicht nur) seinen Schädel zerschmetterte.

Da der Stein nicht vom Himmel, sondern aus einem Turmfenster fiel bzw. geworfen wurde, ermittelt Inspektor Hobhouse von der örtlichen Polizei gemeinsam mit einem Kollegen von Scotland Yard. Inspektor Appleby profitiert von seiner studentischen Vergangenheit, während Hobhouse hilflos vor eine Gruppe Tatverdächtiger steht, die versponnene Spekulation (und Lügen) so geschickt in gewichtige Worte fassen, dass diese erst einmal ‚entschlüsselt‘ werden müssen.

Appleby lässt sich nicht täuschen und erkennt bald, dass die weltfremde Elfenbeinturm-Gelassenheit der Dozenten nur vorgetäuscht ist. Für viele gab es gute Gründe Pluckrose zu hassen. (Den für ihn tödlichen Meteoriten hat er übrigens selbst an sich gebracht.) Es muss eine Vorgeschichte geben, in die womöglich mehr als ein ‚Kollege‘ verwickelt ist, aber die entzieht sich zumindest dem bodenständig-ungeduldigen Hobhouse, während Appleby ohne Hast und scheinbar ohne rechten Fokus, tatsächlich aber listig und unbarmherzig den ‚Nesfield-Code‘ knackt …

Elfenbeinturm mit morschem Fundament

Die Universität als Stätte der Gelehrsamkeit und gleichzeitig Schlangengrube: Michael Innes (alias Professor John Innes Stewart) war weder der erste noch der einzige Dozent, der Kriminalromane schrieb und den Stoff dafür im Arbeitsumfeld fand. Sein Blick hinter die Kulissen dürfte nicht ohne unterhaltsame Übertreibung sein, spiegelt aber trotzdem wider, dass es auch dort, wo das Leben angeblich der Schöpfung und der Vermittlung von Wissen quasi geweiht ist, überaus menschlich zugeht.

Selbst die Würde jahrhundertealter Existenz erweist sich in Nesfield als Illusion. Die Dozenten wissen genau, dass sie an einer Universität ohne Ruf lehren; die akademische Musik spielt in Oxford oder Cambridge. Umso verbissener imitiert man die Vorbilder, gibt sich einerseits weihevoll akademisch und andererseits uninteressiert an Ruhm oder weltlichen Gütern, während man tatsächlich sehnsüchtig auf eine Dozentenstelle an einer der ‚besseren‘ Universitäten schielt. Auch sonst wird untereinander gestritten; oft um Kleinigkeiten, was die gereizte Stimmung unterstreicht.

Die älteren Dozenten machen sich keine Illusionen, die jüngeren tendieren zum Zynismus. Auch die Studenten wissen Bescheid. Sie streben keine akademischen Karriere an, die sich in Nesfield nicht starten lässt, sondern wünschen eine zeitgemäße Ausbildung. Die Welt ändert sich rasant, ein zweiter Weltkrieg steht bevor, die „klassische Bildung“ verliert an Bedeutung. Naturwissenschaftlern und Technikern wird die Zukunft gehören.

Die Vergangenheit bäumt sich auf

Ausgerechnet in dieser Ära des Umbruchs spielt sich ein gänzlich klassischer Kriminalfall ab. Innes ahnt und berücksichtigt die Moderne und weicht auch der politischen Realität nicht aus: In Europa wüten die Nazis, und es wird zum Krieg mit England kommen. Dennoch präsentiert er uns einen britischen „Whodunit“ wie aus dem Lehrbuch. Schon der auslösende Mord ist vor allem ein bizarres Rätsel. Warum wurde das Opfer mit einem Meteoriten umgebracht, der - umständlicher geht es kaum - gezielt aus dem Fenster eines hohen Turmes geworfen werden musste?

Selbstverständlich verbirgt sich dahinter eine ‚logische‘ Erklärung, die im Finale enthüllt wird. Bis es soweit ist, vergehen viele Seiten einer Ermittlung, die Appleby und seinen (universitätsfremden) Kollegen Hobhouse unter Verdächtige führt, für die Wortgewalt ein alltägliches Arbeitsinstrument darstellt. Klar ist, dass sich der Schuldige unter den vorgestellten Personen verbirgt, die Innes sämtlich so kauzig, aber intelligent vorstellt, dass sich selbst ausführliche/seitenlange Verhöre vergnüglich lesen, weil Innes den universitären Fachjargon sowohl beherrscht als auch parodiert,

Die verstaubte, um sich und ihre Differenzen kreisende Schar verdächtiger Dozenten kann sich nicht auf Dauer verbergen. Hinter frommer Ehrwürdigkeit lockt Appleby die Wahrheit ans Licht. Er hat - anders als Hobhouse - den notwendigen ‚Stallgeruch‘ und kann es mit den Gelehrten aufnehmen, wenn diese ihr Wissen spielerisch - und verschleiernd - einsetzen, um sich vor Mordverdacht oder unschöner Aufdeckung anderer, meist ‚moralischer‘ Vergehen zu schützen. Um dies zu genießen, muss man als Leser/in allerdings bereit sein, sich an Innes‘ Gängelband und deshalb auf sehr gewundenen Pfaden der kriminalistischen Auflösung zu nähern. Abschweifung bzw. das sich selbst genügende Spiel mit dem Wort, dem Zitat, der Überzeichnung ist eine Spezialität des Verfassers, die ihm in diesem Punkt nicht so freundlich gesonnene Kritiker stets vorgeworfen haben.

Die Realität hinter dem ‚Spiel‘

Selbstverständlich kann man Innes für sein Frauenbild zausen, das freilich einer in Sachen Gleichberechtigung deutlich anders aufgestellten Vergangenheit angehört - und keineswegs so einseitig ist, wie es dieser Aphorismus suggerieren mag: „Der erste Tag [einer Ermittlung], so hatte man Appleby beigebracht, dient dazu, der ganzen Sache einen deutlichen Umriss zu geben. Und den zweiten Tag verwendet man darauf, sich gründlich unter den Frauen umzusehen. Gut möglich, dass Sie dann schon am dritten Tag wieder im Morgenzug nach London sitzen können …“ (S. 70) Wie es sich gehört, schlägt Innes diesen Weg nicht ein.

Im Grunde ist Innes kein Gegner (akademischer) Gleichstellung. Auch in dieser Beziehung hatte er die Zeichen der neuen Zeit erkannt: Nicht das Geschlecht, sondern das Wissen wird zukünftig im Vordergrund stehen. Innes räumt der Frau eine selbstbestimmte Position ein und karikiert sogar das ‚klassische‘, von der Zeit eingeholte Ideal der britischen Frau, die vor allem „weiblich“ bleibt, indem er eine der in St. Caecilia der tugendhaft-bigotten Miss Godkins und ihren Lektionen in ‚damenhaftem‘ Benehmen ausgelieferten Schülerinnen seufzen lässt: „Wissen Sie, … manchmal ist es einfach fürchterlich, eine Frau zu sein.“ (S. 203)

Obwohl es lange so aussieht, als ließe sich Appleby von den verdächtigen Gelehrten an der Nase herumführen - ein Vorwurf, den Kollege Hobhouse mehrfach höflich anklingen lässt -, gräbt er sich wie ein Maulwurf durch einen zähen Lehm aus Täuschung, Irrtum und Unwissen zur Wahrheit durch. Selbst der entlarvte Täter gibt abschließend zu, dass er Applebys Entscheidung, statt einer Gelehrten- eine Polizistenlaufbahn einzuschlagen, verstehen kann. Appleby ist auf seine Weise Wissenschaftler geblieben: Er löst ein Problem, indem er sich allseits offen auf den Fall einlässt, während Hobhouse sich starr auf die Dienstvorschriften stützt und deshalb ins Leere läuft.

Die Auflösung des Mordrätsels gleicht einem mehrfachen Salto: Innes präsentiert nicht nur eine, sondern drei völlig plausible Fallgeschichten, mit denen er seine Leser gut getimt überrascht, wo es bisher gemächlich voranging. Man muss sich allerdings konzentrieren, denn diverse Ereignisse, die bisher Element des Falls zu sein schienen, werden final herausdividiert und anderen, zufällig zeitgleichen Geschehnissen zugeordnet. Innes arbeitet mit (genregenehmigten) Tricks, unterm Strich geht die Rechnung auf,  sämtliche Fragen sind beantwortet. Auf dem Weg dorthin wurde man vorzüglich, wenn auch nicht stringent (sowie fabelhaft übersetzt) unterhalten.

Fazit:

Band 9 der Appleby-Serie ist ein zeitloser Genuss - ein klassisch-britischer „Whodunit“, aber vor allem ein geistvolles Spiel in und mit einem Milieu, das der Verfasser genau kennt und deshalb umso brillanter parodieren kann. Wer ‚Action‘ liebt, wird mit diesen Krimi, der seine Spannung fast gänzlich aus Wortspielen zieht, nicht warm, doch wer sich auf den ‚Innes-Stil‘ einlässt darf eine Lektüre-Belohnung erwarten!

Die Last des Beweises

Michael Innes, Piper

Die Last des Beweises

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