Dunkelheit, nimm meine Hand

  • Ullstein, Berlin
  • Erschienen: Januar 2000
  • 29
  • New York: Morrow, 1996, Titel: 'Darkness, take My Hand', Seiten: 336, Originalsprache
  • München: Ullstein, Berlin, 2000, Titel: 'Absender unbekannt', Seiten: 478, Übersetzt: Andrea Fischer
  • München: Ullstein, 2003, Titel: 'Absender unbekannt', Seiten: 477, Übersetzt: Andrea Fischer
  • Berlin: Ullstein, 2004, Titel: 'Absender unbekannt', Seiten: 477, Übersetzt: Andrea Fischer
  • Zürich: Diogenes, 2017, Seiten: 509, Übersetzt: Peter Torberg
Dunkelheit, nimm meine Hand
Dunkelheit, nimm meine Hand
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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2003

Blinde Wut und kalte Rache

Ein neuer Fall für Patrick Kenzie und Angela Gennaro, die in der neuenglischen Großstadt Boston gemeinsam eine Privatdetektei betreiben: Die bekannte Psychologin Diandra Warren wollte einer Studentin helfen, die von ihrem Liebhaber drangsaliert wurde. Leider stellte sich der Grobian als rechte Hand des Chefs der irischen Mafia und als Psychopath heraus, der Warren signalisierte, sich an ihr oder ihrem Sohn Jason für die Einmischung bitter rächen zu wollen.

Wider besseres Wissen nehmen sich Kenzie und Gennaro der heiklen Angelegenheit an. Glücklicherweise besitzt ein alter Freund, der Waffenhändler Bubba Rogowski, gute Kontakte zur Unterwelt und vermittelt den Detektiven eine "Audienz" bei "Fat Freddy" Constantine, dem Paten und Oberhaupt der gesamten Bostoner Mafia. Dabei stellt sich heraus, dass diese mit der Drohung sicherlich nichts zu tun hat. So beginnen Gennaro und ihr Partner, Jason Warren zu beschatten, um so sicher zu stellen, dass er nicht in Gefahr gerät. Das ist ein frustrierendes und langweiliges Geschäft.

Auf offener Straße gekreuzigt

Kenzie ist ohnehin abgelenkt. Da ist zum einen die Beziehung mit der Ärztin Grace Cole, die zunehmend intensiver wird. Aufmerksam verfolgt Kenzie daneben die polizeilichen Ermittlungen in einem bizarren Mordfall, dem Kara Rider, eine alte Schulfreundin, zum Opfer gefallen ist: Sie wurde auf offener Straße buchstäblich gekreuzigt. Kenzie zapft seine Quellen an und muss erfahren, dass dieser grausame Mord beileibe kein Einzelfall ist.

Schon vor vielen Jahren wurde ein Mann auf diese Weise umgebracht - und auch ihn kannte Kenzie aus seiner Jugend! Es wird sogar noch befremdlicher: Als Kenzie einen befreundeten Polizisten bittet festzustellen, ob in den vergangenen Jahren womöglich noch andere Kreuzigungsmorde in der Stadt begangen wurden, sticht er ahnungslos in ein Wespennest: Vor beinahe einem Vierteljahrhundert hielt ein Serienmörder die Polizei in Atem, der in Sachen Bestialität dem klassischen Jack the Ripper leicht das Wasser reichen konnte. Alex Hardiman, der psychopathische Sohn eines verdienten Polizeibeamten, wurde damals als Täter festgenommen und zu einer Lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, obwohl er seine Schuld niemals offiziell zugab. Da es anschließend keine Morde mehr gab, war für die Behörden der Fall abgeschlossen.

Verwirrspiel mit Todesfolge

Aber die Ruhe erweist sich als trügerisch. Kenzie wird von der Polizei und dem FBI verhört: Boston wird nach mehr als zwanzig Jahren offensichtlich erneut von jenem Serienmörder heimgesucht, nach der er sich kürzlich erkundigt hat. Die angebliche Studentin, die ihn und Gennaro über Diandra Warren auf eine falsche Spur gelockt hat, entpuppt sich als die gekreuzigte Kara Rider. Dann verschwindet Jason Warren - und wird wenig später buchstäblich in Stücke gehackt aufgefunden.

Kenzies Leben entwickelt sich zu einem Albtraum, denn ein scheinbar allwissender Mörder hat sich zum Ziel gesetzt, sein Leben zu zerstören - und er tut dies systematisch und mit unfassbarer Gewalt, die Kenzie sehr bald an die Grenze seiner Belastbarkeit führen - und dann ein gutes Stück darüber hinaus ...

Lehanes Romane sind seltene Juwelen

Die Kenzie/Gennaro-Romane des wie seine Figuren in Boston lebenden und arbeitenden Schriftstellers Dennis Lehane gehören zu den seltenen Juwelen, die sich in dem Berg tauben Gesteins verbergen, den Tausende meist überflüssiger Neuerscheinungen auf dem deutschen Thriller-Buchmarkt bilden. Leider geraten sie dadurch in Gefahr, übersehen bzw. nur von den wenigen echten Kennern oder zufällig entdeckt zu werden - und das ist schade, denn Lehanes Romane gehören definitiv zum Besten, was das Genre zur Zeit bietet.

Dabei wartet Lehane auf den ersten Blick mit einem Plot auf, den seine Leser schon in zahllosen anderen Thrillern gelesen (oder in Kino und TV gesehen) haben. Taffe Detektive traten schon früher als Duo auf, und auch gemischtgeschlechtliche Pärchen, die mit den üblichen zwischenmenschlichen Problem(ch)en zu kämpfen haben, stellen keine bahnbrechende Neuheit dar - von dämonisch-faszinierenden Serienmördern ganz zu schweigen. Aber Kenzie und Gennaro, die nur Freunde sein wollen und sich mit dieser Illusion seit Jahren das Leben schwer machen, sind mehr als die Protagonisten einer Krimi-Seifenoper. Beide haben durchaus ihr eigenes Leben und private Probleme, und Beide sind auch nicht per Gebot des allmächtigen Publikums zu ewiger Zweisamkeit verdammt. Wie Lehane zudem im vorliegenden Roman deutlich macht, sind seine Helden nicht sakrosankt; er wird sie (vielleicht!) nicht umbringen, gibt aber den Fans von Kenzie und Gennaro viele gute Gründe, um ihre Idole zu zittern.

Pausenlose, geschickt und stetig geschürte Spannung

Wenn es etwas wirklich Neues gibt in den Kenzie/Gennaro-Romanen, dann ist es die Dimension, die Lehane hier dem Verbrechen verleiht. Nicht nur ein, sondern gleich vier Serienmörder lässt er Boston unsicher machen, und dann bindet er sie ein in ein mehrere Jahrzehnte umspannendes, teuflisch-kompliziertes Komplott, das in seiner Unwirklichkeit aus einem Comic stammen könnte. Das Verblüffende ist die bestechende Folgerichtigkeit, mit der Lehane Steinchen für Steinchen zum Mosaik einer ungeheuerlichen Rache zusammenträgt. Beim Lesen wird sich niemand die Unwahrscheinlichkeit der Handlung vor Augen führen. Statt dessen regiert pausenlose, geschickt und stetig geschürte Spannung, lässt Lehane die Story immer wieder Haken schlagen und hält sein Publikum mit immer neuen Überraschungen in Atem.

Ungewöhnlich ist Lehanes Kunstgriff, seine Figuren stellvertretend über das Wesen der Gewalt und ihre Auswirkungen auf die Menschen reflektieren zu lassen. Kenzie und Gennaro müssen nicht nur in diesem - ihrem dritten - Fall langsam und schmerzlich lernen, dass sie der allgegenwärtigen Gewalt ihrer Kindheit nur scheinbar entronnen sind. Praktisch jeden Tag können sie ihre alten Freunde aus der Schulzeit auf der Straße treffen, wo sie ihr Leben als Drogensüchtige fristen, kriminell oder sogar verrückt geworden sind. Katie Gennaro zieht die Notbremse und will aussteigen, doch zu spät; wie Kenzie holt sie die Gewalt ein.

Kenzie erlebt sein persönliches Waterloo; er muss nicht nur erfahren, dass sein ohnehin gefürchteter und gehasster Vater der Anführer eines blutrünstigen Lynchmobs gewesen ist, sondern verliert gleich mehrere Freunde in Glynns teuflischem Schachspiel und muss schließlich erkennen, dass er die Grenze zwischen Recht und Unrecht längst überschritten hat. Kein Wunder also, dass er in Depressionen fällt, obwohl sein geistiger Vater letztlich doch wieder einen kleinen Lichtstrahl in Gestalt der zurückkehrenden Angie Gennaro auf sein Leben fallen lässt.

Lässt dem Leser das Hören und Sehen vergehen

Lehane lässt seine gar nicht heldenhaften Hauptpersonen glücklicherweise nicht gar zu offensichtlich mit ihren inneren Dämonen ringen, obwohl er manchmal doch ein wenig zu tief in sentimentalen Klischees watet. Vielleicht wirkt dies aber auch einfach nur aufgrund des Kontrastes zur düsteren, nicht an drastischen Szenen sparenden Thrillerhandlung so.

 

"Er landete auf den Knien, und einen Augenblick fragte ich mich, ob er wirklich tot war. Das rostrote Haar stand in Flammen, der Kopf fiel nach links, während ein Auge von den Flammen erfaßt wurde. Das andere blickte mich durch die Hitzewellen immer noch an, die Pupillen schienen amüsiert zu lachen."

 

Nein, Dennis Lehane geht nicht zimperlich zu Werke. Wem dies zu heftig oder politisch unkorrekt sein sollte, greife lieber zu einem behaglichen englischen Landhaus-Krimi. Dem wagemutigen Leser steht jedoch ein Lesevergnügen ins Haus, das ihm (oder ihr) Hören und Sehen vergehen lassen wird wie kaum ein anderer Thriller der letzten Zeit!

Dunkelheit, nimm meine Hand

Dennis Lehane, Ullstein, Berlin

Dunkelheit, nimm meine Hand

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