Schattenschnitt

  • Grafit
  • Erschienen: Januar 2016
  • 0
  • Dortmund: Grafit, 2016, Seiten: 315, Originalsprache
Schattenschnitt
Schattenschnitt
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Jörg Kijanski
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2016

Unterhaltsam wie immer, aber auch ungewohnt ernst

Auf einer großen Party lernt Vijay kurz die bekannte Dokumentarfilmerin Pina Gilardi kennen, die allerdings zuletzt vor zehn Jahren mit einer Dokumentation über die Lebenssituation HIV-infizierter Menschen in Indien erfolgreich war. Am Rande der Party beobachtet Vijay, wie Gilardi in ein Gespräch mit einer seltsam vermummten Gestalt verwickelt ist. Als sich zu fortgeschrittener Stunde Miranda und Vijay auf den Heimweg machen, tauchen Gilardi und der seltsame Kapuzenträger auf der viel belebten Langstraße erneut in ihrem Blickfeld auf. Sekunden später bricht die Filmemacherin zusammen und ihr Begleiter verschwindet. Am nächsten Morgen bittet José seinen Freund Vijay zur Wohnung Gilardis, die offensichtlich noch in der Nacht durchsucht wurde. Greta, die Freundin Gilardis, wurde von dem Einbrecher überrascht und niedergeschlagen. Derweil liegt die Künstlerin im Koma. Greta beauftragt Vijay, dem geheimnisvollen Geschehen auf den Grund zu gehen. Sollte Gilardis neue Arbeit mit dem Angriff zu tun haben? Gerade erst kehrte sie aus Indien zurück, wo sie eine Fortsetzung ihres damaligen Erfolges drehen wollte ...

HIV, Medikamententests, Hijras und die Slums von Dharavi

Schattenschnitt ist bereits der sechste Roman mit dem kultigen indischen Privatdetektiv Vijay Kumar und dessen skurrilem Umfeld. Allen voran ist hier natürlich die bereits genannte Miranda zu erwähnen, die einst aus Brasilien in die Schweiz kam und damals noch Gustavo hieß. Vijay stößt sich bereitwillig in die Ermittlungen, dabei müsste er sich dringend um sein Privatleben kümmern.

 

"Wie groß ist die Not?"
"Riesig. Sie soll verheiratet werden, will das aber nicht."
"Die jungen Leute heutzutage sehen überall Probleme, wo gar keine sind."
"Ma, wir haben nicht mehr 1947. Nicht nur das Land ist unabhängig, die Leute möchten es endlich ebenfalls sein."

 

Jahrelang lag ihm seine Mutter in den Ohren, er müsse endlich eine Frau finden, doch nun, da er mit Manju zusammenlebt, fällt ihm die Decke auf den Kopf. Die Zwei-Zimmer-Wohnung ist alles andere als geräumig und dient noch dazu als Büro. So soll ein Ausflug nach Schaffhausen das private Glück wieder einrenken, doch dort bahnt sich ein tragisches Ereignis an. Jasvinder, die fünfzehnjährige Tochter von Dr. Shah aus Mumbai, soll gegen ihren Willen heiraten und droht sich in den Rheinfall zu stürzen. So wird Vijay gegen seinen Willen auch noch in das Privatleben der Familie hineingezogen.

Nachdem weitere Morde geschehen wird Vijay zunehmend klar, dass in den Filmarbeiten der Gilardi die Lösung der aktuellen Vorfälle zu finden sein muss. Eine Schweizer Firma entwickelte ein vielversprechendes Medikament zur Bekämpfung von HIV. Um dessen Erfolgsaussichten zu testen, wurden anscheinend Freiwillige gesucht und in den Elendsvierteln von Mumbai gefunden. Da Vijay in Zürich nicht weiterkommt, fliegt er kurzerhand nach Mumbai, wo Gilardi erst kürzlich Aufnahmen mit drei Hijras drehte. Hijras, das dritte Geschlecht in Indien, genießen kaum gesellschaftliches Ansehen und leben meist unter ärmlichen Verhältnissen.

 

"Wir haben Riesenprobleme mit dem Strom, der andauernd ausfällt, und es gibt keine richtige Kanalisation, wie man unschwer riechen kann. Auf tausendfünfhundert Leute kommt eine Toilette und im Monsum arbeiten manche Slumbewohner in knietiefem Wasser. Aber jährlich werden hier siebenhundert Millionen Euro umgesetzt, manche Arbeiter verdienen sogar mehr als die hundert Euro im Monat, die als indisches Durchschnittseinkommen gelten."

 

Gleiches gilt für die Teilnehmer an den Medizintests, doch sie haben kaum eine Wahl. Da sie sich weder Medikamente leisten können noch versichert sind, müssen sie nach dem rettenden Strohhalm greifen. Andernfalls sterben sie ohnehin. So ist gerade dieser Teil der ansonsten gewohnt unterhaltsam-lustig erzählten Geschichte selbst für Sunil Mann ungewohnt ernsthaft, was der Erzählung jedoch keineswegs schadet. Im Gegenteil, der kritische Einblick in Dharavi, einen gerade einmal zwei Quadratkilometer großen Slum, in dem rund eine Millionen Menschen "leben", ist bedrückend und eindringlich. Der durchaus spannende Kriminalfall gewinnt durch die intensiven Einblicke in die unbekannte Welt Mumbais. Hier die Nobelquartiere mit Grundstückspreisen wie in Manhattan, dort unvorstellbares Elend, in dem sich eine zehnköpfige Familie sechs Quadratmeter teilen.

 

"Man brauchte auch gar nicht mehr selbst zu denken, denn das wurde ja online für einen erledigt. Dass dabei nicht selten eine zynische Vorauswahl getroffen wurde, verkam zur Nebensache. Anschläge in Paris waren auf solchen Plattformen bedauernswerter als diejenigen in Istanbul, Syrien drängender als Eritrea, ertrunkene Kinder im Mittelmeer aufwühlender als verhungerte in Somalia."

 

Vijay Kumar ist ein ungewöhnlicher Protagonist und Sunil Mann ein großer Erzähler. Auch der neue Fall, in dem die verschiedenen Handlungsstränge letztlich gekonnt zusammengeführt werden, überzeugt durchgehend und macht auf weitere Fälle neugierig. Darauf einen Amrut.

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Sunil Mann, Grafit

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