Uwe Wilhelm

08.2020 Krimi-Couch-Chefredakteuer Andreas Kurth hat Uwe Wilhelm im Interview Fragen zum neuen Thriller "Die Frau mit den zwei Gesichtern" gestellt.

"Häusliche Gewalt, Vergewaltigung, Entführung, Frauenhandel gehören zur alltäglichen Erfahrungswelt von Frauen. Dieser Terror findet so häufig statt, dass wir nicht mehr aufschreien, wenn wir in der Zeitung davon lesen, gerade so als sei es zum Kulturgut geworden."

Krimi-Couch:
Was ist für Sie als Autor die größere Herausforderung, ein rasantes Drehbuch oder der spannende und hintergründige Kriminalroman?

Uwe Wilhelm:
Die Anforderungen sind in beiden Formaten unterschiedlich und doch ähnlich hoch. Für den Drehbuchautor besteht die Herausforderung zusätzlich aber auch noch darin, einen Text zu verteidigen, sobald nacheinander die Producerin und der Produzent, der Redakteur und die Redaktionsleiterin, (beim Kinofilm noch der Co-Produzent, der Verleiher, die Förderinstitution) der Regisseur und manchmal auch noch ein Star das Drehbuch lesen. Im künstlerischen Härtefall lesen also neun Personen ein Drehbuch und sehen neun verschiedene Filme. Man kann sich vorstellen, welche Änderungsvorschläge, Ideen, Hinweise auf das Werk einstürzen, woraufhin sich der Autor (in dem Falle ich) am Ende fragt: Ist das noch mein Drehbuch? Oder schon längst ein fauler Kompromiss? Der Kriminalroman dagegen kennt nur den Lektor oder die Lektorin als Instanz, bevor das Werk ins Licht der Öffentlichkeit kommt. Das ist natürlich auch eine große Herausforderung, weil ich mich im Falle des Misserfolges nicht hinter dem Regisseur oder Produzenten in Deckung bringen kann. Ich stehe alleine für das Werk ein. Für seine künstlerische Qualität und seinen ökonomischen Erfolg. Letztlich bin ich aber froh und sehr glücklich, mich 2015 für den Roman entschieden zu haben.

Krimi-Couch:
Noa Stern ist eine Jüdin aus dem Libanon, die in Berlin als Bodyguard für weibliche Klientinnen arbeitet, und noch eine soziale Ader hat. Gibt es ein reales Vorbild - oder wie kommt man auf eine solche Figur?

Uwe Wilhelm:
Es gibt mehrere Vorbilder. Und nicht jedes Vorbild ist weiblich, und nicht jedes ist real. Ich habe die Essenzen von mir bekannten Menschen, Figuren aus Filmen und anderen Romanen in Noa Stern vereint. Dazu gehören auch noch der Sozialarbeiter, die Rechtsanwältin, die Frauenärztin, der Hauptkommissar, mit denen ich hier im Wedding sprechen konnte. Aus all diesen Vorbildern ist eine Figur entstanden, die im deutschen Krimi wiederum kein Vorbild hat, aber in Berlin-Wedding so illustre ist, wie die Menschen, die hier leben. Mehr als 48 Prozent der Bewohner im Wedding haben einen Migrationshintergrund. Das heißt, hier treffen sehr unterschiedliche Kulturen aufeinander, und präsentieren dadurch eine Art Abbild der Konflikte, die weltweit herrschen. Angefangen bei der Frau mit dem Niqab (Schleier, der nur die Augen freilässt), über traumatisierte Geflüchtete, die auf dem Bürgersteig betteln und schlafen, junge Männer, die der Enge der Drei-Zimmer-Wohnung entfliehen, indem sie den Mercedes zu einem zweiten Wohnzimmer machen, über Drogenhandel, Frauenhandel, mafiöse Strukturen, Armut zeigt der Wedding wie kaum ein anderes Viertel in Berlin, welche Not, Gefahr und Herausforderung auf eine Figur wie Noa Stern wartet. Das war für mich die Herausforderung und der Anlass, solch einen Charakter zu entwerfen.

Krimi-Couch:
Eine Trilogie um eine ziemlich spezielle Staatsanwältin, jetzt die toughe Noa Stern. Haben Sie eine Vorliebe für weibliche Protagonistinnen? Und wenn ja, woher kommt das?

Uwe Wilhelm:
Auch in den beiden Romanen, die ich unter dem Pseudonym Lucas Grimm geschrieben habe, sind Frauen wenn nicht die Hauptfiguren, so aber doch die wichtigsten Charaktere. Meine „Fixierung" auf weibliche Charaktere hat nun zum einen mit meiner familiären Gewalterfahrung zu tun, zum anderen will ich (soweit mir das als Mann, der Frauenwelten beschreibt, möglich ist) einen weiblichen Blick auf Verbrechen, Not, Unterdrückung, Familie, Wehrhaftigkeit werfen. Häusliche Gewalt, Vergewaltigung, Entführung, Frauenhandel gehören zur alltäglichen Erfahrungswelt von Frauen. Dieser Terror findet so häufig statt, dass wir nicht mehr aufschreien, wenn wir in der Zeitung davon lesen, gerade so als sei es zum Kulturgut geworden. In meinen Romanen sind es deshalb Frauen, die sich aus ihrem Elend befreien wollen und müssen, dabei auf die Unterstützung aber nicht auf die Rettung durch Männer hoffen können. Daher sind die Geschichten auch nahe an einen Realismus angebunden, handeln nicht von toughen Ermittlern, sondern erzählen von Frauen, die in ihrer Verletzlichkeit und Sensibilität über sich hinauswachsen müssen, um den Bedrohungen entgegentreten zu können.

Krimi-Couch:
Clan-Kriminalität als Ober-Thema ist ja immer aktuell, insbesondere in Berlin. Durch die Kombination mit der jüdischen Protagonistin wird das ja noch dynamischer im Buch. Wie tief sind Sie da in die Recherche eingestiegen, um diesen Hintergrund zu konstruieren?

Uwe Wilhelm:
Es gab für mich interessante und auch überraschende Erkenntnisse nicht nur zum Thema "Jüdin innerhalb einer muslimischen und machistischen Community", sondern auch zu den „Problemen“, mit denen Clans sich auseinandersetzen müssen. Zum einen ist Rassismus, oder besser gesagt, Antisemitismus kein großes Thema in den Argumentationen der Clans. Eine Jüdin ruft kein besonderes Interesse hervor. Eine Personenschützerin, die den Clans in die Quere kommt, schon eher. Gleichgültig, welcher Religion sie angehört. Ein Anwalt, der direkt aus einer der Familien kommt, hat mir erzählt, dass die Clans sich viel mehr mit den Themen Konkurrenz, Globalisierung, Bedrohung durch Banden aus anderen Staaten auseinandersetzen müssen. Viel davon ist ja in den Roman eingeflossen, wenn zwei Familien überlegen, wie sie sich vereinigen können, um sich gegen Gebietsansprüche von Banden aus Nigeria, dem Irak, aber auch gegen die vietnamesischen und chinesischen Strukturen durchsetzen können. Für die Arbeit, die Noa Stern als weiblicher Bodyguard macht, habe ich natürlich mit Leuten gesprochen, die im Personenschutz unterwegs sind. Für Noas Entscheidung, sich ausschließlich Klientinnen zuzuwenden, ist allerdings eine sehr tapfere und mutige Anwältin verantwortlich, die mir von unzähligen Notfällen aus ihrer Praxis berichtet hat.

Krimi-Couch:
Ist die Hauptstadt als Kulisse für Drehbücher oder Krimis eigentlich ein besonders dankbares Setting? Nach meiner Wahrnehmung spielen immer mehr Romane deutscher Autoren in Berlin.

Uwe Wilhelm:
Interessant. Ich dachte, dass es hauptsächlich die deutschen Regionen sind, die den Hintergrund für die Geschichten abgeben. Allgäu, Niederbayern, Stuttgart, Ostfriesland etc. Durch die Frage neugierig geworden, habe ich auf Wikipedia knapp 60 Regionen gefunden, die für mehr als 100 Schriftsteller Handlungsorte darstellen. Dennoch gibt es sicher auch eine Faszination für Berlin, weil die Stadt eine Art Reagenzglas ist für die Konflikte, die hier früher als anderswo auf uns zukommen. In Berlin verdichten sich die Biographien sehr unterschiedlicher Menschen zu großen und kleinen Tragödien. Hier treffen Kriminalität, Geheimdienste, Politiker, Unternehmer, der Mann und die Frau von nebenan, die autonome Linke, die Demonstranten mit ihren sehr unterschiedlichen Anliegen, aufeinander. Ein ideales Reservoir für Krimi und Thriller.

Krimi-Couch:
Noa Stern wird auf dem Buchrücken als Heldin für eine neue Generation angepriesen. Was macht sie denn so besonders in ihren Augen?

Uwe Wilhelm:
Ich habe bereits Noas Ausrichtung rein auf Klientinnen erwähnt. Hinzu kommt, dass sie die Ermächtigung ihrer Klientinnen befördert, sie ermuntert, anhält auch zwingt, das Schicksal nicht als gottgegeben, sondern veränderbar zu begreifen. Wenn Noa von einer Gruppe Namens „Nemesis“ erzählt, die auf außergerichtlichem Weg (man nennt es auch Selbstjustiz) Männer attackiert und die Verbrechen, die jene Männer an Frauen begangen haben, rächt, begibt Noa sich in eine Welt, die bisher vor allem männlichen Ermittlern, Detektiven etc. vorbehalten war. Noa handelt, wie man es von Frauen nicht gewohnt ist. Man könnte es so beschreiben: Noa nimmt die Wahl der Waffen an. Sie ist nicht verständnisvoll, duldend, leidend, sondern eine harte Kämpferin für die Sache der Frauen, die zu ihr ins Büro kommen.

Krimi-Couch:
“Die Frau mit den zwei Gesichtern” war offensichtlich nur der Auftakt. Wann werden wir den nächsten Fall von Noa Stern verfolgen können? Und mögen sie schon ein wenig verraten?

Uwe Wilhelm:
Über den nächsten Fall der Noa Stern sprechen wir zur Zeit. Sicherlich wird die Entscheidung auch davon abhängen, wie gut der erste Band sich verkauft. Aber einen Plot gibt es bereits, und er erzählt von einer jungen Frau, die aus dem linksradikalen Milieu aussteigen will, brisante Informationen anbietet, zwischen die Räder von Justiz, Presse und ausländischen Interessen gerät und mit dem Tode bedroht wird.

Das Interview führte Andreas Kurth im August 2020.
Foto: © Bernd Brundert

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