Das verlorene Gesicht

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 2001
  • 37
  • New York: Bantam, 1998, Titel: 'The Face of Deception', Seiten: 354, Originalsprache
  • München: Ullstein, 2001, Seiten: 459, Übersetzt: Norbert Möllemann
  • Augsburg: Weltbild, 2003, Seiten: 459
Das verlorene Gesicht
Das verlorene Gesicht
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Michael Drewniok
1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2003

Schädelschacher & Quinceyismen

Eve Duncan hat einen ebenso wichtigen wie nervenaufreibenden Job: Für das "Nationale Zentrum für verschwundene und missbrauchte Kinder" in Arlington im US- Staat Virginia ist sie als Spezialistin für computersimulierte Alterungsprozesse tätig. Ihre speziellen Fachkenntnisse ermöglichen es außerdem, über einem Totenschädel das verschwundene Gesicht eines Opfers quasi neu erstehen zu lassen. Diese Mischung aus Wissenschaft und Kunst wird von der Justiz und den Polizeibehörden oft in Anspruch genommen, so dass Eve sich über Arbeitsmangel nie beklagen kann. Andererseits hat sie sich ohnehin in einen Workaholic verwandelt, nachdem ihre kleine Tochter einem geistesgestörten Kindesmörder zum Opfer fiel.

John Logan ist ein amerikanischer Selfmade-Millionär wie aus dem Bilderbuch. Er verdient sein Geld in der Hardware-Branche. Seit längerem schon nutzt er sein Vermögen und seinen Einfluss, um in der Politik seines Landes mitzumischen. Dabei ist er einem Komplott auf die Spur gekommen, das ganz oben in der US-Hierarchie anzusiedeln ist und die Person des Präsidenten selbst in ein sehr schiefes Licht rückt. Wer regiert die letzte Großmacht dieses Planeten wirklich?

Ein verbrannter Schädel, auf undurchsichtigen Wegen in den Besitz Logans gekommen, entwickelt sich zum Schlüssel der gesamten Affäre. Wer ihn zu Lebzeiten auf seinen Schultern trug, soll Eve Duncan herausfinden. Ist es tatsächlich John F. Kennedy Kopf, der seit Jahrzehnten nicht dort liegt, wo er hingehört, wie Logan zunächst behauptet? Eve ist skeptisch, und das zu Recht: In der Gegenwart liegt der sprichwörtliche Hund begraben, und damit das so bleibt, schickt James Timwick, der korrupte und mächtige Chef des US-Geheimdienstes, Logan und seinen Mitstreitern den eiskalten Killer Albert Fiske auf den Hals.

Es entspinnt sich ein mörderisches Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Gejagten ihrem Häscher und seinen Schergen immer wieder knapp entwischen. Die potenziellen Zeugen, denen Logan und Eve die Wahrheit über den umkämpften Schädel entlocken könnten, haben dieses Glück allerdings nicht. Die Lage spitzt sich allmählich zu, als sich herausstellt, dass Timwick selbst gar nicht der Kopf der Verschwörung ist. Die Spur des Todes führt direkt bis ins Weiße Haus, und diejenigen, die an ihrem Ende die Fäden in der Hand halten, gedenken nicht, sich die Macht entgleiten zu lassen - koste es, was es wolle ...

Iris Johansen ist ein Name, der bei Ihrem Rezensenten ein rotes Alarmlämpchen sehr hell aufleuchten lässt, seit ihm von dieser Autorin vor gar nicht so langer Zeit ein Roman in die Finger geraten ist, der so gnadenlos trashig war, dass er a) durch die Faszination des Grauens schon (fast) wieder unterhalten konnte, und b) seinen schockierten Leser immerhin zu einem Verriss inspirierte, den dieser bescheiden zu einer seiner besten Buchbesprechungen überhaupt erklärt. (Wer's wagt, schaue an anderem Ort auf dieser Plattform unter "Und dann der Tod" nach.)

Warum also die neuerliche Lektüre? Im milden Licht kontinuierlich gewachsener Altersweisheit ist Ihr Rezensent zu dem Schluss gekommen, Iris Johansen noch einen zweiten Blick zu gönnen. Sie als drittklassige Möchtegern-Thrillerette abzutun, wäre einfach, ist aber objektiv eigentlich nicht zu rechtfertigen, denn Johansen ist inzwischen überaus erfolgreich, kann auf ein kopfstarkes Publikum zählen und ist von daher eine Größe, die von der Kritik nicht einfach abgetan werden kann.

Tatsächlich kann "Das verlorene Gesicht" den katastrophalen Eindruck, den "Und dann der Tod" (zumindest bei Ihrem Rezensenten) hinterlassen hat, deutlich relativieren. Allerdings bedeutet dies hier trotzdem höchstens die Aufwertung von Bockmist zu Vorgartendünger, wie gleich vorauszuschicken ist.

Beginnen wir mit einem Schlaglicht auf die Figuren der Handlung, denn hier hatte Johansen in "Und dann der Tod" bekanntlich am intensivsten gesündigt. Siehe da: Eve Duncan ist eine Heldin, der man nicht schon auf Seite 2 den Hals umdrehen möchte. Zwar findet sie zwischendurch immer wieder einmal die Gelegenheit, die Säge an den Nervensträngen der Leserschaft anzusetzen; störend wirkt auch ihr ausgeprägter Drang, in Momenten größter Gefahr stets direkt auf Killer, Erpresser und ähnlich unerfreuliche Zeitgenossen zuzulaufen, um diese - wohl durch gutes Zureden oder Totschwatzen - von ihrem Tun abzubringen oder ihnen wenigstens ihre Verachtung ins Gesicht zu schleudern. Glücklicherweise wirft sich stets ein aufopferungswilliger Gefährte in die Feuerlinie, was Eve dann die Chance bietet, einmal mehr über die unamerikanische Grausamkeit der modernen Welt zu wettern. Aber insgesamt funktioniert diese Eve Duncan als Hauptperson, und sie hat einen interessanten Job, auf den die Autorin ausführlich eingeht, auch wenn sie hier und da gar zu didaktisch repetiert, was sie nach ausführlicher Recherche über das Thema weiß.

Um Eve Duncan herum gruppiert Johansen eine Reihe sehr vertraut wirkender Charaktere, die man auch "Knallchargen" nennen könnte. Wie in "Und dann der Tod" haben wir da wieder einen geheimnisvoll-gefährlich-faszinierenden Regierungsbeamten und einen eindimensional-psychopathischen Killer. Dazu kommt als uramerikanische Heldengestalt der reiche Selfmade-Mann mit dem goldenen Herzen, der privat in Ordnung bringt, was die chronisch unfähige Öffentliche Hand zu versaubeuteln pflegt, sowie eine Kollektion profillos bleibenden Kanonenfutters, das im Verlauf der Handlung malerisch zu Tode kommt, um für Thriller-Schock und Dramatik zu sorgen. Immerhin: Der hausbackenen Heldin eine einst cracksüchtige Mutter anzudichten, ist ein Einfall, den man hier nicht erwartet hätte.

Wenn Johansen nur auf die Handlung an sich genauso viel Hirnschmalz verwendet hätte ... Erstaunt und irritiert hält der Leser (oder die Leserin) einen Roman in der Hand, dessen Geschichte gerade bis zur Seite 200 reicht. Dann hat die Autorin ihr Pulver verschossen; die Katze ist aus dem Sack, das Rätsel des Schädels gelüftet, die Maske den Bösen vom Gesicht gerissen. Was noch folgt, ist ein 250-seitiges Zeilenschinden, das nirgendwohin führt, sondern unbarmherzig ins früh vorgegebenen Finale mündet.

Gibt es etwas Langweiligeres als eine Verfolgungsjagd, die sich stets im Kreise dreht? Sicherlich: eine dilettantisch inszenierte Verfolgungsjagd, die sich im Kreise dreht ... Selbst das thrillerunkundige Publikum merkt bald, dass die von Johansen erdachte Verschwörung so niemals realisiert werden könnte. Realitätsnähe lässt sich zwar den meisten modernen Thrillern nicht unterstellen (man lese nur einen Dirk Pitt-Roman von Clive Cussler ...); sie ist auch nicht zwingend erforderlich. Das Unwahrscheinliche muss jedoch schlüssig und schlagfertig in Worte gegossen werden, um überzeugen zu können - und hier muss Iris Johansen eindeutig passen. Hilflos flüchtet sie sich faule Tricks, ist ungelenk und zimperlich in den Action-Szenen, versucht sich an einer platt umgesetzten Liebe-auf-der-Flucht-Geschichte und verärgert mit kalkuliert rührseligen, imaginären Dialogen zwischen Mutter und ermordeter Tochter.

Einen peinlichen und höchst selbstentlarvenden Schlussstrich zieht Johansen in ihrem wirklich ungewöhnlichen Nachwort: Hier gibt sie zu, das selbst gewählte Thema völlig verfehlt zu haben. Geplant war der Thriller einer Frau, die von einem schmerzlichen persönlichen Verlust aus der Bahn geworfen wurde und nun versucht, das Leben neu zu finden. Man muss der Autorin uneingeschränkt Recht geben: Dieser Aspekt wird aufwändig eingeführt, um dann für die eigentliche Handlung völlig ohne Belang zu bleiben bzw. zu einer weiteren Seifenopernblase zu degenerieren.

Also versucht es Johansen mit exakt demselben Ansatz eben noch einmal: Eve Duncan kehrt zurück in einem weiteren Thriller um eine Frau, die von einem schmerzlichen persönlichen Verlust aus der Bahn geworfen wurde und nun versucht, das Leben neu zu finden ... ("The Killing Game", 1999; dt. "Im Profil des Todes", geb. 1999, kart. 2002, wieder bei Ullstein) Soviel Dreistigkeit verdient beinahe Bewunderung - aber eben nur beinahe!

Was bleibt, ist ein höchst mittelmäßiger, breit ausgewalzter, "Frau-in-Gefahr"-Thriller, bei dem der Leser oder offensichtlich eher die Leserin so richtig schön mitleiden kann. Ist dies der Knackpunkt, der Ihrem Rezensenten zu schaffen macht - seine Unfähigkeit, sich mental in dieses Genre einzufinden, seine Intoleranz dem Gedanken gegenüber, dass hier die Emotion und weniger Spannung oder Logik im Vordergrund stehen? Aber muss denn nicht auch Schmalz sorgfältig zubereitet werden, damit es nicht ranzig schmeckt? Die weiter oben aufgelisteten Mängel stellen - obwohl in sarkastische Worte gekleidet - objektiv konstatierbare Schwachpunkte dar, die sich nicht einfach mit dem Etikett "Frauen-Thriller" übertünchen lassen. Dies ist die Überzeugung Ihres Rezensenten, die er an dieser Stelle aber gern zur Diskussion stellt.

Das verlorene Gesicht

Iris Johansen, Ullstein

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