Fliege machen

  • Grafit
  • Erschienen: Januar 2011
  • 0
  • Dortmund: Grafit, 2011, Seiten: 288, Originalsprache
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Sabine Bongenberg
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2011

Alles, aber kein Fliegengewicht

Als der Obdachlose Fliege in Lila Zieglers Stammkneipe herumpöbelt, ist keiner der Besucher böse darüber, als der endlich an die frische Luft befördert wird. Grundsätzlich würde sich eigentlich auch niemand daran stören, dass Fliege anschließend nicht mehr gesehen wird, wäre da nicht sein ständiger vierbeiniger Wegbegleiter Mücke, der nur vorläufig in der Bahnhofskneipe zurückgelassen wurde. Aber da der Hund ja seinem Herrchen zurück gegeben werden muss (und mit Vorliebe auf den Teppich pinkelt) startet eine Suchaktion, die Lila und ihren Freund und "Mehr-oder-weniger"-Partner Danner in die Ausreißer und Obdachlosenszene führt. Lila kennt diese Szene noch aus persönlicher Erfahrung und wird hier unverhofft mit Erinnerungen an ihren persönlichen Werdegang und ihre familiären Konflikte konfrontiert. Als ob das nicht genug wäre, muss sie im Zuge ihrer Suche immer weiter in das Chaos und die Gefühlswelt der obdachlosen Ausreißer einsteigen und dabei feststellen, dass die Bahn, die in diese Szene führt, schlüpfrig ist und nicht immer einen Ausstieg bietet. Denn der gesuchte Fliege wird nach eiskalten Nächten erschlagen im Park aufgefunden und auch für die anderen Jugendlichen scheint sich kaum eine Rettung anzubieten. Aber Lila wäre nicht Lila würde sie diese Dinge auf sich beruhen lassen und wenn auch für Fliege jede Hilfe zu spät kam, vielleicht besteht ja noch Hoffnung für die Anderen.

 

Da wo das Herz noch zählt, nicht das große Geld
(Herbert Grönemeyer "Bochum")

 

Lucie Flebbe greift in ihrem dritten Buch "Fliege machen" wieder auf bewährte – aber damit noch lange nicht langweilige oder abgegriffene – Zutaten zurück. Ort der Handlung ist wieder der Kohlenpott bzw. näherhin Bochum und dessen sympathische aber auch eigenwillige Ureinwohner oder auch die jüngst Zugezogenen. Der Autorin ist es dabei gelungen, ein warmherziges Bild ihrer Protagonisten zu erschaffen, das – bei allen Fehlern und Schwächen – nicht boshaft oder arrogant und - bei allen freundlichen Wesensseiten – nicht moralisiert. Als Beispiel soll hier einmal der Kneipier Molle erwähnt werden, dessen großes Herz für Penner und Hunde seinen Mitstreitern und teilweise auch dem Leser zugegebenermaßen gehörig auf die Nerven gehen kann. Dennoch müssen sich beide zum Schluss zu der Erkenntnis aufraffen, dass die freundliche Philosophie des Gastwirtes die Richtige ist und dass der Weg zu Armut, Obdachlosig- und Hoffnungslosigkeit kürzer als gedacht sein kann. Hier soll auch lobend erwähnt werden, dass Flebbe Molle auf seine ihm eigene kurze und schroffe Art die Ursache für seine Haltung erklären lässt und sich seine Entwicklung auch mit diesen wenigen Worten erschließt.

"Wärest du eher gekommen, wäre der Socken gar nicht erst eingewachsen"

Neben ihren Protagonisten widmet sich Flebbe genauso interessiert und engagiert ihrem neuen Problemfeld: Den Obdachlosen und den Ausreißern. Im Zuge ihrer Ermittlungsarbeiten muss sich die Heldin Lila weit in diese Szene hinein wagen und allein ihrem bisherigen Werdegang und ihrer Entwicklung in diesem und in den letzten Büchern ist es zu verdanken, dass dieses Eindringen nicht als unglaubwürdig und konstruiert empfunden wird. Es ist kaum anzunehmen, dass der normale Mittelschichtler die Strapazen der Winternächte der Obdachlosen ertragen könnte, doch hat die Heldin zwischen diesen Welten eine Brücke geschlagen, da sie beide erlebt und überwunden hat. Diese Glaubhaftigkeit ist jedoch auch auf die besondere Leistung der Autorin zurückzuführen, die beiden Lebensformen Raum lässt. Weder die eine noch die andere wird idealisiert noch vollkommen verteufelt. Der Vergleich der beiden Welten erfolgt vielmehr in schlichten Alltagsszenen und hier ist es dann dem Leser überlassen, eine Bewertung zu treffen.

 

Ich hatte plötzlich das irritierende Gefühl, alles um mich herum bewegte sich im Zeitraffer, viel schneller als ich. Die Menschen wussten, wohin sie wollten, alle kannten ihren Weg. Kaum jemand verschwendete mal einen Blick nach rechts oder links. Ich stand mitten im Gewimmel und schien doch unsichtbar zu sein.

 

Gleich und gleich erschlägt sich gern?

In diese Problematik eingewoben wird der Mord an dem Obdachlosen Fliege, der sich zunächst als Streit unter "Brüdern" darstellt, aber dennoch im Leser immer mehr Zweifel weckt, dass sich bei dem Ermordeten tatsächlich alles so darstellte wie es auf den ersten Blick wirkt. Flebbe führt den Leser im Zuge der Ermittlungen zur Geschichte eines persönlichen Niederganges und eines Absturzes. Dennoch wird die eigentliche Tragödie nicht durch diejenigen herbeigeführt, die sich am Rande der Gesellschaft aufhalten, auch wenn diese nicht schuldlos sind. Verantwortlich sind vielmehr viele und in unterschiedlichem Maße und ebenso verfolgen auch viele im Hinblick auf die sozial Unterlegenen ihren eigenen Motive.

Und wo ist der Krimi?

Bei aller Sozialkritik soll allerdings auch nicht vergessen werden, dass Fliege machen einen durchaus rationalen und nachvollziehbaren Krimi-Plot vorzuzeigen hat. Die Akteure werden nachvollziehbar von Spur zu Spur geführt, wobei erfreulicherweise auch die Polizei an der Handlung beteiligt ist und nicht nur wie in vielen anderen Werken unbeteiligt, ahnungslos und unfähig zum Zusehen verurteilt ist. Als einziges Manko dieses Romans könnte man allenfalls anmerken, dass die Lösung des Mordfalls plötzlich und schon fast hektisch präsentiert und der Leser vom Showdown quasi überrollt wird. Hier wäre sicherlich etwas mehr Ruhe wünschenswert gewesen und auch dass ein winziges Indiz alle Dinge zum Rollen bringt, erscheint zu konstruiert. Andererseits - bestimmt lässt sich mit ausführlicher Suche in jeder Suppe ein Haar finden und damit sollen auch diese nebensächlichen Aspekte neben diesem spannenden Krimi zurück treten. Alles in allem – als Krimi kein Fliegen- sondern ein Schwergewicht.

Fliege machen

Lucie Flebbe, Grafit

Fliege machen

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