Ein kerngesunder Tod

  • Scherz
  • Erschienen: Januar 1999
  • 1
  • Oslo: Aschehoug, 1995, Titel: 'En kjernesunn død', Seiten: 398, Originalsprache
  • Bern; München; Wien: Scherz, 1999, Seiten: 319, Übersetzt: Gabriele Haefs
  • Frankfurt am Main: Fischer, 2015, Seiten: 320
Ein kerngesunder Tod
Ein kerngesunder Tod
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2003

Auch im Norden purzeln die schreibenden Talente nicht wie die Lemminge von den Eisbergen

Der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert. Immerhin muss ihn nicht Anne-kin Halvorsen, Kommissarin bei der Polizei-Hauptwache im norwegischen Trondheim, sondern die gerade 15 Jahre alt gewordene Leistungsschwimmerin Gry Berg einschlagen. Als sich Halvorsen, die früher selbst aktiv geschwommen ist, der Gesundheit willen endlich zur Rückkehr ins Wasserbecken der ehrwürdigen Bade- und Schwimmanstalt der Stadt aufraffen kann, findet sie dort das hoffnungsvolle Nachwuchstalent tot auf dem Beckengrund treibend.

Der Schock wirft die Kommissarin zunächst so aus dem Gleichgewicht, dass ihr Vorgesetzter, der gern allzu fürsorgliche Hauptkommissar Sundt, sie zur Erholung für ein verlängertes Wochenende in einem Wintersportort an der schwedisch- norwegischen Grenze schickt. Aber auch dort herrscht große Aufregung, nachdem gerade ein prominenter Ski-Langläufer nach einem grandiosen Wettlauf auf der Zielgerade tot zusammenbrach.

Noch entdeckt niemand die Verbindung zwischen den beiden Vorfällen. Wieder zurück im Dienst, wird Anne-kin Halvorsen routinemäßig mit den Ermittlungen im Fall Gry Berg betraut. In der letzten Zeit mehren sich in Trondheim die Hinweise darauf, dass in großem Stil Anabolika und andere illegale Muskelpräparate an Jugendliche verkauft werden. Line Stølen, die Trainerin Gry Bergs, streitet energisch ab, ihren Schützling auch chemisch zur Höchstleistung gebracht zu haben. Tatsächlich bleibt die Obduktion ohne Befund. Doch bei den Ermittlungen läuft die Polizei trotzdem auffällig gegen eine Wand des Schweigens. Sport ist an der Wende zum 21. Jahrhundert kein Wettkampf mehr, sondern ein Medienereignis, bei dem enorme Geldsummen auf dem Spiel stehen. Nur Gewinner können damit rechnen, ihr Stück dieses Kuchens zu ergattern. Daher ist die Versuchung groß, dem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen. In diesem Fall hat man es damit offenbar übertrieben, doch wer "man" ist, können Anne- kin Halvorsen und ihre Polizei-Kollegen lange nicht feststellen.

Da entdeckt die Kommissarin ein merkwürdiges Andenken aus dem kurzen Wintersport-Wochenende: In ihr Gepäck ist eine mysteriöse Kassette geraten, bespielt mit einer raffinierten, geradezu hypnotischen "Du musst siegen!"-Lektion: "Audio- Doping" auf allerhöchstem psychologischen und technischen Niveau, den bestehenden Gesetzen völlig enthoben und daher doppelt gefährlich. Diese Kassetten sind in Sportlerkreisen der letzte Schrei. Eine Kopie wird auch bei Line Stølen gefunden, die damit Gry Berg in einen Trainingsrausch getrieben hat, der ihren Körper schließlich in den Kollaps trieb. Aber "Audio-Doping" lässt sich medizinisch nicht nachweisen, und die Trainerin bleibt unbehelligt.

Die erzürnten Beamten der Mordkommission lassen jetzt nicht mehr locken und dringen tief in die verdrehte Welt des modernen Leistungssportes ein, wo sie einer regelrechten Mafia auf die Spur kommen - einer Mafia, die auf das Stillschweigen der Beteiligten rechnen kann, solange die Zahl der strahlenden Sieger die der Doping-Toten überschreitet. Erst ein weiterer Zufall sorgt dafür, dass den Schuldigen das Handwerk gelegt werden kann: Der Drahtzieher des organisierten Dopings in Trondheim entpuppt sich gleichzeitig als Zuhälter, für den Kommissarin Halvorsens alte Freundin Eli als Gelegenheits-Prostituierte tätig ist. Als dieser Karl Oscar Benjaminsen nun plant, seine muskelaufbauenden Gifte in der Schule von Elis Sohn zu verdealen, droht diese, ihn auffliegen zu lassen. Sie wird von Benjaminsen erschlagen, kann aber vor ihrem Tod noch Anne-kin den Namen ihres Mörders telefonisch bekanntgeben. So kann dieser in seiner Wohnung gestellt werden, noch bevor er dazu kommt, die Beweise für die Untat zu vernichten - oder für seinen groß angelegten Drogen- und Dopingmittel-Ring, unter dessen Mitgliedern Anne-kin Halvorsen wenig überrascht auch Line Stølen entdeckt.

Der große Triumph der Polizei erweist sich als Pyrrhus-Sieg. Zwar werden die festgenommenen Schuldigen ihrer gerechten Strafe zugeführt, doch an ihre Stelle treten umgehend andere mit noch raffinierteren Methoden, den menschlichen Körper zu manipulieren. Der Dopingtod gilt den Gladiatoren des 21. Jahrhunderts, der Sport- Industrie und letztlich auch den Zuschauern als Berufsrisiko, und bestraft werden nur jene, die so dumm sind, sich erwischen zu lassen, so Anne-kin Halvorsens (und Kim Småges) bitteres Resumee.

Nie strahlten die Nordlichter so hell wie heute hinab in die polarferneren Gefilde Kontinental-Europas. Wenn wir Henning Mankell für sonst nichts zu danken haben, dann doch für seine Rolle als Fackelträger einer Literaturszene, die trotz der winterkalten hohen Breitengrade höchst lebendig ist und Exotik und willkommene Abwechslung selbst in ein so abgegriffenes Genre wie den Kriminalroman zurückbringt. Im Gefolge Kommissar Wallanders sprengt seit einigen Jahren eine Vielzahl mit Robbenspeck und Aquavit groß gezogener Kriminalisten das enge Ghetto ihrer skandinavischen Heimat und stellt sich mit großem Erfolg ihren südlichen Nachbarn vor.

Natürlich stellt sich dabei rasch heraus, dass auch im Norden die schreibenden Talente nicht wie die Lemminge von den Eisbergen purzeln. Kim Småge gehört aber zu den erfreulichen Entdeckungen. Natürlich hat sie den Kriminalroman - und hier das "police procedural" - nicht neu erfunden, aber sie variiert die bekannten Motive und Charaktere, die zudem von der noch frischen Kulisse Trondheim profitieren, einfallsreich genug, um ihr Publikum zu fesseln.

Daher verzeiht man ihr auch den skurrilen Einfall vom Hightech-Doping, das durch die Ohren geht - ein Konzept, das man der Verfasserin beim besten Willen und trotz des Aufwandes, mit dem sie uns überzeugen möchte, nicht abnimmt. Der Plot als solcher rankt sich glücklicherweise um das Phänomen des Dopings im modernen Leistungssport an sich, das zur Zeit jedenfalls immer noch primär die Chemiker beschäftigt. Hier hat Småge ordentlich recherchiert und übertreibt es höchstens ein bisschen mit ihrem Eifer, die Kommissarin Halvorsen plötzlich auf Schritt und Tritt mit anabolikagestopften Gantern und Gänsen zu konfrontieren.

Viel Raum wird auch den privaten Problemen der Heldin gewidmet, die wie im skandinavischen und somit gesellschaftskritischen Thriller üblich nicht selten das Leid der ganzen Welt auf ihren schmalen Schultern zu tragen scheint. Vater zwangsverrentet, da Norwegen in wirtschaftlicher Rezession; freundlicher Nachbar von der Ausländer-Polizei gejagt; beste Freundin Freizeit-Nutte; Polizei-Kollegen aufgrund ständiger Einsparungen überlastet; kleiner Bruder Nachwuchs-Säufer und Pillenfreak; Lebensgefährte unsicherer Kandidat mit Peter Pan-Komplex - Nackenschläge für die arme Kommissarin lassen nie lange auf sich warten.

Ein kerngesunder Tod

Kim Småge, Scherz

Ein kerngesunder Tod

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