Seitenhieb

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 1988
  • 2
  • Berlin: Alexander, 2016, Seiten: 347, Bemerkung: durchgesehen und mit einem Nachwort von Jochen Stremmel
  • New York: St. Martin’s, 1987, Titel: 'Sideswipe', Originalsprache
  • Frankfurt am Main; Berlin: Ullstein, 1988, Seiten: 238, Übersetzt: Rainer Schmidt
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1996, Seiten: 279
  • Berlin: Alexander, 2003, Seiten: 340
Seitenhieb
Seitenhieb
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Thomas Kürten
74°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2003

Die unverfälschbar lakonische Willeford-Handschrift

Wie sag ich meinem Verleger, dass ich keinen Spaß an Serienromanen habe und lasse mir dennoch ein Hintertürchen auf?

Hoke Moseley - mit dieser Figur hatte Charles Willeford endlich die Aufmerksamkeit und Resonanz, die eigentlich schon seine frühen Romane verdient hätten. Es muss eine Hassliebe gewesen sein, denn Moseley ist sein erster und auch einziger Serienheld geblieben. Und selten merkt man einem Helden so sehr an, dass er eigentlich viel lieber alles andere als ein Held sein will, als im Falle von Hoke Moseley. Willeford - gepiesackt von der Hinterlistigkeit und der guten Marktkenntnis seines Verlegers - war aufgefordert, nach den erfolgreichen Miami Blues einen weiteren Roman mit Hoke Moseley zu verfassen. Zunächst verfasste er ein Manuskript mit dem Titel "Grimhaven", das aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen Autor und Agent nie veröffentlicht wurde. Willeford entnahm diesem Entwurf einige Motive, kombinierte sie mit einigen älteren Ideen und legte mit Neue Hoffnung für die Toten eine bitterböse Abrechnung mit der verkommenen amerikanischen Gesellschaft vor.

Ähnlich verfuhr er nach dem für ihn vielleicht überraschenden Erfolg vom zweiten Moseley-Roman dann bei Teil 3 der Serie. Erneut forderte sein Verlag von ihm eine Fortsetzung und abermals schlachtete er wieder Motive aus dem abgewiesenen Grimhaven aus. Er konzentriert dies in einem Handlungsstrang und kombiniert diesen mit der Geschichte eines Überfalls auf einen Supermarkt, den er fast 25 Jahre zuvor unter dem Titel "No Experience Necessary" ein erstes mal veröffentlichte. Schön, wenn ein Autor quasi endlich die alten Schätzchen aus seinem Nähkästchen holen und damit auch noch Erfolge verbuchen kann.

Hoke Moseley ausgebrannt

Der Roman knüpft fast nahtlos an "Neue Hoffnung für die Toten" an. Ellita Sanchez, die Kollegin, mit der er gerade zusammen gezogen war, um rein platonisch einen Haushalt gemeinsam zu führen, ist sogar noch immer schwanger. Eines morgens fühlt sich Hoke so matt, dass er sich einfach zu keiner Regung mehr verleiten lässt. Kurzerhand bringt ihn sein ehemaliger Partner Henderson zu seinem Vater, der mit seiner neuen Frau auf einer Insel ein paar Autostunden von Miami entfernt lebt. Der Arzt diagnostiziert bei Hoke ein Burnout-Syndrom und verordnet ihm viel Ruhe. Nach drei Tagen ist Hoke wieder ansprechbar und hat sich zu einer radikalen Vereinfachung seines Lebens entschlossen. Er will bei der Polizei kündigen und viel lieber für seinen Vater Appartements verwalten und mit dem geringsten Lebensstandard zufrieden sein. Hokes fester Wille ist, die Insel nie wieder im Leben verlassen zu müssen. Seine Töchter haben da keinen Platz, die will er wieder zur Mutter abschieben. Aber er muss erkennen, dass er vor seinem Leben nicht so einfach davon laufen kann.

Zeitgleich und nur wenige Meilen entfernt, wird Stanley Stankiewicz, ein rüstiger Rentner unter mehr als ungünstigen Umständen als vermeintlicher Pädophiler verhaftet. Im Knast lernt er den Psychopathen und Berufsverbrecher Troy Louden kennen. Da Stanley schnell wieder ehrenhaft aus dem Gefängnis entlassen wird, kann er Troy einen Gefallen tun. Als er aber bemerkt, dass seine Frau ihn sturmartig verlassen hat und sein Sohn - dieser Versager - auch nicht so recht an seine Unschuld zu glauben scheint, wird ihm klar, wie isoliert er plötzlich ist. Troy scheint der einzige zu sein, der ihn in diesem Moment Liebe und Fürsorge spüren lassen kann. Deshalb folgt er auch Troy nach Miami, wo dieser einem Freund helfen will - beim Überfall auf einen Supermarkt.

Gefangen in den Stricken des eigenen Genies

"Seitenhieb" reicht nicht an die Klasse seines Vorgängers heran, ist aber für sich genommen ein typischer und erneut bitterböser Kriminalroman aus der Feder Charles Willefords. Es ist nicht so sehr eine Abrechnung mit der Gesellschaft (obwohl auch dies wieder ein Thema ist) als vielmehr eine Verteufelung der Zwänge der eigenen Existenz. Hoke will sein Leben vereinfachen, einen Schlussstrich ziehen, alles Komplizierte wie Job und Familie hinter sich lassen. Aber er scheitert an diesem Versuch jämmerlich. Sein Ruf eilt ihm voraus, die Polizei auf Singer Island bittet ihn um Hilfe, seine jüngere Tochter zieht zu ihm, weil sich ja jemand um ihn kümmern muss. Parallelen zum Leben des Autors? Fühlt sich Willeford eventuell verfolgt von seiner Figur Hoke Moseley bzw. seinem Verleger, der immer wieder auf eine Fortsetzung drängt?

Als geradezu genial muss man da den Schachzug werten, dass Willeford nun bei "Seitenhieb" zum wiederholten mal Ideenrecycling betreibt. Ein Professor - Mieter eines der Appartements, die Hoke verwalten muss - muss bis zu einem bestimmten Termin einen Roman schreiben. Man lässt ihn nicht auf seinem eigenen Gebiet forschen, also nimmt er Forschungsurlaub (den kriegt man nach Dienstjahren zugeteilt) und schreibt, was die alten Herren sehen wollen. Willeford lässt die gleiche Figur wenig später Hoke gegenüber feststellen, dass Gedichte niemals vollendet, sondern lediglich irgendwann aufgegeben werden. Bezieht man diese beiden Erkenntnisse auf den Autor Willeford, dann kann man ahnen, dass Willeford den dritten Moseley wie eine Art schöpferische Auszeit betrachtet. Eine Gelegenheit, von Verlegern zurückgewiesene oder von Lektoren verfälschte Manuskripte selber noch einmal zu überarbeiten, abschnittsweise zu verbessern oder mit neuen Inhalten aufzuwerten.

Als Krimi ist "Seitenhieb" zweitklassig. Erst im letzten Viertel werden die beiden Handlungsstränge zusammen geführt. Bis dahin hat Hoke nur mit der Vereinfachung seines Lebens gekämpft, während Stanley unversehens und blauäugig in die Planung eines Überfalls gerutscht ist. Das Finale trägt die unverfälschbar lakonische Willeford-Handschrift, kann aber auch nicht mehr die Kastanien aus dem Feuer holen. Willeford hat mit Seitenhieb wieder einmal seine Agenten und Verleger an der Nase herum geführt - und wir können im Nachhinein mit ihm diesen stillen Triumph genüsslich belächeln.

Seitenhieb

Charles Willeford, Ullstein

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