Neue Hoffnung für die Toten

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 1988
  • 9
  • New York: St. Martin’s, 1985, Titel: 'New Hope for the Dead', Originalsprache
  • Frankfurt am Main; Berlin: Ullstein, 1988, Titel: 'Auch die Toten dürfen hoffen', Seiten: 223, Übersetzt: Rainer Schmidt
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1994, Titel: 'Auch die Toten dürfen hoffen', Seiten: 251
  • Berlin: Alexander, 2002, Seiten: 304
  • Berlin: Alexander, 2015, Seiten: 323, Übersetzt: Reiner Schmidt, Bemerkung: durchgesehen und mit einem Nachwort versehen von Jochen Stremmel
Neue Hoffnung für die Toten
Neue Hoffnung für die Toten
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Thomas Kürten
94°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2003

Meisterhaft!

Hat der 19-jährige Junkie Jerry Hickey, der in einem der schöneren Vororte Miamis mit der Ex-Frau seines Stiefvaters zusammen wohnte, sich selbst den goldenen Schuss verpasst? Oder war es doch ein perfider Mord an einem kleinen Dealer, der sich ein bisschen zu viel in die eigene Tasche gewirtschaftet hat? Eigentlich egal. Es kräht eh kein Hahn danach und Sergeant Hoke Moseley hat ganz andere Probleme, als sich auf die Ermittlungen in diesem uninteressanten Fall zu stürzen. "Neue Hoffnung für die Toten" unterscheidet sich da von seinem Vorgänger "Miami Blues", der noch deutliche Ansätze eines klassischen Hard Boiled hatte: Es ist eine ungewöhnlich kraftvolle Abrechnung mit einer Gesellschaft auf Abwegen.

Charles Willeford wurde von seinem Verleger aufgefordert, nach dem unerwarteten Erfolg von "Miami Blues" einen weiteren Roman um den verschrobenen Ermittler vom Miami PD zu schreiben. Es entstand ein Roman mit dem Arbeitstitel "Grimhaven", der in den Augen seines Agenten von einer übertriebenen Brutalität geprägt war (Moseley sollte darin seine beiden pubertierenden Töchter umbringen) und deshalb nie einem Verlag zur Veröffentlichung vorgelegt wurde. Willeford erinnerte sich daraufhin an einen ersten Entwurf eines älteren Romans mit Hoke Moseley und verknüpfte die besten Elemente beider Erzählungen. Heraus kam mit "Neue Hoffnung für die Toten" ein ganz großer Roman der amerikanischen Gegenwartsliteratur.

Wie das Leben so spielt.

Moseley hat Arrangements getroffen, die ihm ein relativ sorgloses Leben ermöglichen. Zwar muss er seiner Ex-Frau seit 10 Jahren jeden zweiten Gehaltsscheck für deren Unterhalt aushändigen, aber er wohnt mietfrei in einem heruntergekommenen Hotel draußen in Miami Beach, das von Kubanern und Rentnern dauerhaft bewohnt wird. So kann er mit dem wenigen ihm verbleibenden Geld halbwegs über die Runden kommen. Doch dann passieren mehrere Ereignisse, die seinen Alltag komplett aus der Bahn werfen:

  • Der Polizeichef verfügt, dass alle Beamte der Miami PD innerhalb der Stadtgrenzen von Miami zu wohnen haben, um kurzfristig einsatzbereit zu sein. Somit ist Hoke aufgefordert, sich nach einer neuen Bleibe umzusehen.
  • Hokes Töchter stehen auf einmal in der Lobby des Hotels in Miami Beach. Ihre Mutter ist zu einem Football-Star nach Kalifornien gezogen. Außerdem ist sie der Meinung, über 10 Jahre lang genug für die Erziehung der beiden Kinder getan zu haben und nun ist eben Hoke mal an der Reihe.
  • Hokes Partnerin bei der Polizei ist Ellita Sanchez. Die unverheiratete Kubanerin ist plötzlich schwanger geworden, weswegen ihr Vater sie kurzerhand aus dem elterlichen Haus geworfen hat.
  • Hokes Chef Captain Brownley ist scharf auf einen neuen Titel, weswegen er Hoke, Ellita und Hokes alten Partner Bill Henderson darauf ansetzt, von 50 "kalten" Fällen nach Jahren so viele wie möglich aufzuklären. Brownley erhofft sich dadurch, dass der Polizeichef dann nicht mehr an seiner Beförderung vorbei kann.

Wie man sich schon denken kann, hat Hoke Moseley seine ganz eigene Art, mit diesem Katastrophen umzugehen. Er ist ständig klamm, hat einen Hang zur Selbstjustiz und erhöhten Samenstau. So angetrieben macht er sich zunächst auf die Suche nach einem Nebenjob als "House-Sitter", wo er die Häuser von Urlaubern und Ausgewanderten gegen Entgelt für ein paar Wochen bewohnen kann. Aber hier verscherzt er sich schnell die Sympathien. Eine neue Chance sieht er in der attraktiven Stiefmutter des toten Junkies, die offenbar hinter ihm her ist. Sie hat ja jetzt ein großes Haus, in dem auch noch Platz für seine Töchter wäre. So einfach können Lösungen sein - sind sie aber dann doch nicht.

Der amerikanischste Kriminalroman

Es ist einfach meisterhaft, wie Willeford diese Vielzahl von komplexen Handlungssträngen zusammen bringt. Er tut das mit einer spielerischen Leichtigkeit, dass anderen Autoren schwindelig davon werden kann. Stets tiefgründig, genau, detailliert und authentisch agieren seine Charaktere, er variiert dabei das Erzähltempo nach belieben und packt komplexe Gedankengänge in einfache Sätze. Sein absurder Humor ist dabei das Salz in der Suppe, womit er seinen Romanen und insbesondere "Neue Hoffnung für die Toten" den unverkennbaren Willeford-Stempel aufsetzt.

So ist Hoke Moseley stets auf einer Gratwanderung zwischen dem peniblen Erbsenzähler-Polizisten ("Wo ist ihre Dienstmütze?") und dem zwielichtigen Machtmissbraucher, der das Gesetz nach eigenem Gutdünken dehnt. Der Autor hat den gesamten Charakter Moseleys so ausgelegt, dass er eigentlich zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Sympathiepunkte beim Leser gewinnen kann. Und dennoch ist man meilenweit davon entfernt, Hoke zu hassen oder ihn gar zu verabscheuen, weil Willeford seine Geschichte mit einem steten Augenzwinkern zu erzählen scheint. Andere Charaktere haben eher das Zeug zum Arschloch, aber auch hier schlachtet der Autor die Ansätze zu diversen Klischees nicht aus. Hoke ist Hoke - intelligent und naiv, einfühlsam und brutal zugleich. Und so wirken seine ersten Überlegungen, was er mit seinen Mädchen machen kann, auch ganz natürlich: die beiden Teenager müssen eine Arbeit finden, damit sie was zum Haushalt beisteuern können. Grandios auch, wie der spröde Hoke seine Töchter sexuell aufklären will. Es wirkt absurd und doch weiß man, dass es genau so in Tausenden von Familien passiert.

Der American Way of Life - oft hat man ihn beschworen. Willeford hat mit "Neue Hoffnung für die Toten" gnadenlos mit ihm abgerechnet. Er beleuchtet die Schieflagen in der Gesellschaft mit einer lockeren Gnadenlosigkeit, die wohl unnachahmlich bleiben wird. Rechtshüter leben am Existenzminimum, während ein Drogenanwalt in Saus und Braus lebt. Egoismus und Egozentrik bestimmen den Alltag der Menschen, Kinder werden herum geschoben wie Gegenstände und für den eigenen Vorteil scheint jedes Mittel recht. Der tiefe gesellschaftliche Riss zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen wird durch gegenseitige Vorbehalte, Isolation, Ghettoisierung, mangelnde Integration und fehlende kulturelle Einfühlbereitschaft zwar nur unterschwellig thematisiert, ist aber genauso ein Themenschwerpunkt in diesem Roman. Wenn ein Autor beinahe auf jeder Seite derartige Akzente setzen kann, diese aber vom Leser schon fast nicht mehr wahrgenommen werden können, lässt auch das auf die hohe schriftstellerische Qualität und erzählerische Dichte des Romans Rückschlüsse ziehen.

Und das große Kunststück Willefords: trotz seines hohen Niveaus ist "Neue Hoffnung für die Toten" ein Roman für den Mainstream. Er lässt sich als gut unterhaltende Abendlektüre ebenso locker lesen, wie man ihn auch als tiefgründige Gesellschaftskritik mit spitzem Bleistift studieren kann. Die ganz normale Gewalt in Florida, das ganz normale Zusammenleben in einem Vielvölkerstaat, ein angeborener Hang zum Egoismus, ein ganz normaler American Way of Life. Und ein ganz außergewöhnlich amerikanischer Roman der Spitzenklasse.

Neue Hoffnung für die Toten

Charles Willeford, Ullstein

Neue Hoffnung für die Toten

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