Solide, geradlinige Unterhaltung mit einem bewährten Team.
Art Mayer, Ermittler beim Bundeskriminalamt, hat sich schon lange um die kleine Milla gekümmert, die mit ihrer alten Großmutter unter ihm wohnt. Die Kleine ist die Tochter von Dana Karasch, einer alten Bekanntschaft des Ermittlers, die plötzlich verschwand und deren Schicksal ihn nie richtig losließ. Mittlerweile sind aber alle Spuren, die zu Danas Schicksal führen könntet, erkaltet und langsam ist die Frage nach ihrem Verbleib in den Hintergrund getreten. Dennoch unternimmt Mayer einen letzten Vorstoß bei einem alten Freund, der mittlerweile in die höchsten politischen Kreise aufgestiegen ist.
Danach überschlagen sich die Ereignisse: Als seine Kollegin Nele Tschaikowski Milla von der Schule abholen bemerkt sie, dass ein Fremder das Kind filmt und sofort die Flucht ergreift, als sie ihn anspricht. Wenig später erhält Mayer eine mysteriöse Nachricht von einem unbekannten Absender, der ihm die Frage stellt, ob er weiterhin nach Dana Karasch sucht und ihm die Koordinaten einer Stelle südlich von Berlin übersendet. Mayer und Tschaikowski gehen diesem Hinweis nach und finden sich in einer verlassenen Wohnwagensiedlung wieder. Offensichtlich hatte Karasch hier längere Zeit mit ihrer Familie gelebt. Hier finden sie zwar noch immer keine neue Spur der Verschwundenen, dafür aber die Leiche eines gefesselten Mannes. Handelt es sich bei dem Getöteten, der sich als Dr. Richard Dressel seines Zeichens Richter am Kammergericht Berlin entpuppt, um ein Mordopfer, das zufällig in Danas altem Zuhause ermordet wurde? Art Mayer kann an solche Zufälle nicht glauben und beginnt mit Tschaikowski zu ermitteln.
Viel Gepäck
Marc Raabe thematisiert in seinem dritten Roman um den eigenwilligen Ermittler Art Mayer und seine Kollegin Nele Tschaikowski das Verschwinden einer alten Freundin, das in den Vorgängerbanden schon mehrfach angerissen wurde. Die Geschichte wird in zwei Handlungssträngen erzählt. Sie widmet sich einerseits den Untersuchungen zu dem Verschwinden der Frau und dem möglicherweise damit verbundenen Mord an Richard Dressel, andererseits wird in Rückblenden aus Karaschs Leben erzählt. Als fast 18jährige musste sie erleben, dass ihr kleiner Bruder Rocco spurlos verschwand und trug die Erinnerungen an die dramatischen Ereignisse, die dieses Verschwinden mit sich brachten, zeitlebens mit sich herum.
Raabe führt die Leser*innen straff und zielgerichtet durch die Handlung. Art Mayer und Nele Tschaikowski sind ein gut eingespieltes Team und allein das bietet interessanten Lesestoff. Allerdings menschelt es im gut geölten Getriebe. Nele scheint immer mehr ihre Familienplanung in Frage zu stellen und auch wenn das heute so oft und gerne zitierte Wort "Regretting Motherhood" noch nicht gefallen ist, hatte ich den Eindruck, als ginge die Reise in die Richtung.
Art Mayer ist auf seine Art schon immer ein eigensinniger Eigenbrötler gewesen, aber auch er trägt mittlerweile sehr viel Gepäck mit sich herum. Nicht nur, dass er immer noch an seiner letzten Affaire zu knabbern hat, liegt ihm auch das Schicksal der kleinen Nele am Herzen. Hier kam ich aber nicht umhin mich zu fragen, wie lange noch das Eingreifen eines Jugendamtes als Auftakt zu einer Oliver-Twist-ähnlichen Odyssee durch Kinderheime dargestellt wird. Anders konnte ich mir nämlich nicht erklären, warum der Autor seinen Helden denken lässt, dass das Leben mit einer Großmutter, die in die Demenz abgleitet, immer noch besser sei als das in einer freundlichen Pflegefamilie. Denn die soll es tatsächlich geben.
Die Nacht hat ein Ende
Von diesen persönlichen Nickligkeiten abgesehen, ist Marc Raabe ein spannender Krimi gelungen, der insbesondere mit der Widerborstigkeit und dem Eigensinn seiner Helden spielt. Auf sich selbst gestellt, treiben sie die Handlung energisch weiter und so kann zum Schluss nicht nur das Rätsel um Dana Karasch sondern auch noch weiterer berührender Vermisstenfälle geklärt werden. Marc Raabe gelingt es hier, alle losen Stränge zu verknüpfen und auch die persönlichen Herausforderungen, die sich den Ermittlern stellen, zu einem guten Ende zu führen. Ob das einen langen Bestand hat steht zwar auf einem anderen Blatt, aber das wird uns der nächste Band lehren, der mit dem Namen "Im Morgengrauen" dem Muster der Tageszeiten folgt und im Frühjahr 2026 erscheinen soll.
Fazit
Art Mayer, der eigenbrötlerische, zuckerkranke Ermittler und seine Kollegin Nele Tschaikowski arbeiten auf ihre eigene und manchmal unorthodoxe Art an ihrem neuen Fall. Nicht alles ist hundertprozentig gelungen - aber eines ist es auf jeden Fall: Es ist nie langweilig.

Marc Raabe, Ullstein
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