Gedenke mein

  • List
  • Erschienen: Januar 2016
  • 10
  • Berlin: List, 2016, Seiten: 368, Originalsprache
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Sabine Bongenberg
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2015

Glaubhafte Charaktere mit kleinen Abstrichen

Es ist der absolute Alptraum aller Eltern: Ihr Kind verschwindet spurlos, alle Spuren verlieren sich im Nichts und neben der großen Lücke, die dieser Verlust immer wieder ausmacht, bleiben immer weiter die quälenden Fragen: Lebt mein Kind noch? Geht es ihm gut? Wo wird es festgehalten? Kaum denkbar, dass nach einem derartigen Einschnitt einmal wieder eine Rückkehr in ein "normales" Leben machbar ist. Kaum denkbar auch, dass ein so gequälter Elternteil - sei es nun Mutter oder Vater - in der Lage ist, sich aus der verbissenen Suche nach seiner Tochter oder seinem Sohn zu lösen.

Diese Entdeckung macht auch Kriminalhauptkommisarin Gina Angelucci, die durchaus erfolgreich die ungeklärten Altfälle ("Cold Cases") des Kommissariats München bearbeitet. Sie wird von Petra Weber, der Mutter eines vor Jahren verschwundenen kleinen Mädchens dazu gedrängt, die Untersuchungen in diesem Altfall noch einmal zu überarbeiten und das nicht mehr Erwartete tritt ein: Gina wird tatsächlich fündig! Offensichtlich haben ihre Kollegen seinerzeit nicht ihr Bestes gegeben, um diesen Fall aufzuklären. Die Ermittlerin stößt im Zuge ihrer neuen Untersuchungen auf verschiedene Ungereimtheiten, die ein völlig neues Licht auf die bisher scheinbar klaren Tatumstände werfen.

Inge Löhnig hat mir ihrem neuen Buch um den seit mehreren Bänden erfolgreich ermittelnden Tino Dühnfort den Focus auf seine Verlobte Gina Angelucci gelegt. Diese wird mit dem erfolgreichen Abschluss eines Falls unvermittelt in die Handlung eingeführt und somit erhält der Leser schon den ersten Eindruck über die Arbeitsweise und die Ideale der Heldin. Sie stellt die Suche nach der Gerechtigkeit über die eigenen Wünsche in ihrem Leben und ist dazu bereit Opfer zu bringen. Diese Vorstellung macht Gina grundsätzlich sympathisch und glaubwürdig. Leider gibt es aber auch Bereiche, wo Inge Löhnig die Gutmenschen-Züge ihrer Heldin zu sehr auf die Spitze treibt. So ist nicht nachvollziehbar, warum diese ihre vermutlich kaum noch zu verbergende Schwangerschaft im Kollegenkreis eisern verschweigt, um ihre Ermittlungen weiter voranzutreiben oder warum wichtige persönliche Termine hintenan gestellt werden, weil dafür einfach wegen der Arbeit keine Zeit bleibt. Derartige Züge hinterlassen aber mit ihrer immer wieder kehrenden Regelmäßigkeit nicht mehr den Eindruck des "heldenhaften", sondern erscheinen zunehmend leichtfertig.

Neben diesen Mankos ist es Löhnig aber gelungen einen glaubwürdigen Roman zu schaffen. Erwähnt werden soll hier insbesondere, dass sich die Autorin über die Fragen der polizeilichen Arbeit nicht einfach hinwegsetzt, wie es sonst in vielen Krimis an der Tagesordnung ist. So werden Fragen der Zuständigkeit geklärt und auch die generellen Probleme, die sich zum Beispiel der Frage der Finanzierbarkeit von weiteren Untersuchungen widmen, werden nicht außer Acht gelassen. Mit diesen Mitteln gelingt es Löhnig ihrem Roman zusätzliche Glaubwürdigkeit zu verleihen. Gelungen ist auch die Darstellung der verschiedenen Charaktere, die durch persönliche Schicksale geformt werden. So ist beispielsweise Petra Weber, die Mutter der verschwundenen Marie nicht als leidende Heilige charakterisiert. Sie ist vielmehr als Person beschrieben, die mit ihrer Verbissenheit und der Wahnhaftigkeit ihrer alles im Leben bestimmenden Suche nicht mehr einen einfachen Charakter ausmacht. Diese Darstellung dürfte sich realen Personen, die ein derartiges Schicksal erleiden müssen, sehr gut annähern. Wer sein Leben nur noch einer zentralen Frage widmet, dessen Umfeld dürfte sich tatsächlich alsbald stark ausdünnen, denn vermutlich können Freunde und Bekannte irgendwann dieses alles bestimmende Thema nicht mehr ertragen.

Löhnig zeigt in ihrem Roman aber auch auf, dass nicht nur die Familie eines verschwundenen Kindes zum Opfer wird, sondern sie beschreibt auch, wie die Personen, die in den Dunstkreis der Ermittlungen geraten, stigmatisiert werden können. Sie zeichnet realitätsnah, wie schnell sich der Volkszorn gegen einen möglichen Täter auf- und entladen kann. Sicherlich kann sich jeder vorstellen, dass ein bestrafter "Kinderschänder" in der Haft heftigen Ressentiments seiner Mitgefangenen ausgesetzt ist und steht diesen Umständen möglicherweise achselzuckend gegenüber. Dennoch bleibt hier die Frage, ob Quälereien eines Menschen - wenn er auch vielleicht Unvorstellbares begangen hat - so gerechtfertigt werden können. Unvorstellbar wird diese Frage, sofern der Verdacht besteht, dass eine Person zu Unrecht verurteilt wurde. Bei der Person des Erich Terbek, der so in den Strudel der Ermittlungen um das Verschwinden der kleinen Marie hinein gezogen wird, wird auch dieser Aspekt dargestellt. Leider stellt auch die Auflösung seines Schicksals in diesem Buch eine Schwachstelle dar. Sicherlich ist nachvollziehbar, dass die Autorin das Schicksal ihrer vielleicht tragischsten Person wieder ins Lot bringen wollte, dennoch ist die Auflösung um ihn insgesamt mehr als gut gemeint und sehr dick aufgetragen.

Neben diesen kleinen Mankos, die aber insgesamt nur die persönlichen Aspekte der Personen und nicht die Handlung des Buches betreffen, ist Löhnig ein realitätsnahes und spannendes Buch gelungen. Als Manko kann allenfalls festgehalten werden, dass das Schicksal der verschwundenen Marie mittlerweile nicht mehr zu den bisher unerhörten Fällen gehört. Diese Einschränkung ist aber sicherlich nicht dem Buch Löhnigs zuzuschreiben, sondern gehört zu den tragischen Realitäten unseres Zeitalters.

Gedenke mein

Inge Löhnig, List

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