Das Verbrechen von Guildford

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1977
  • 1
  • London: Collins, 1935, Titel: 'Crime at Guildford', Seiten: 315, Originalsprache
  • München: Heyne, 1977, Seiten: 139, Übersetzt: Josef Hyzdal von Miserony
  • New York: Harper, 1957, Seiten: 183, Originalsprache
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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonJul 2011

Transkontinentale Gangsterjagd Anno 1935

Die Firma "Norne Limited" in London steckt in finanziellen Schwierigkeiten. In diesen Jahren nach der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 läuft das Diamantengeschäft nur stockend. Generaldirektor Claude W. Norne, die Direktoren Reginald Sloley und Anthony Ricardo, Berater Sir Ralph Osenden sowie Schriftführer Henry Sheen treffen sich am Wochenende zu einer heimlichen Krisensitzung in Nornes Landhaus, das bei Guildford aber abgelegen in der Grafschaft Surrey liegt. Zu ihnen soll später Buchprüfer Charles Minter stoßen, doch dieser ist krank. Er kommt zwar noch, lässt sich aber für den Abend entschuldigen. Am nächsten Morgen liegt er tot im Gästebett – er wurde betäubt und dann erstickt.

Der nächste Schock erwartet die Herren am nächsten Montag: In London hat jemand den Firmensafe geplündert, in dem die letzten Wertreserven lagerten: Diamanten im Wert von 500.000 Pfund! Dieser Diebstahl erfordert den Einsatz von Scotland Yard. Inspektor Joseph French übernimmt den Fall mit dem ihm eigenen Sinn für Systematik.

Beides ist wichtig, denn die Alibis aller verdächtigen Firmenmitarbeiter, die sich Zugang zum Safe verschaffen könnten, sind wasserdicht. Dies gilt auch für die Wochenend-Gesellschaft in Guildford: Niemand kann Minter umgebracht haben. Trotzdem vermutet French, dass Diamantenraub und Mord zusammenhängen. Er muss die schwache Stelle in den Alibis finden, denn von der Schuld einer der fünf Männer ist er überzeugt.

Bis er eine erste Lücke findet, muss er viele Enttäuschungen und sarkastische Kommentare seitens seines Vorgesetzten, Superintendent Fenning, einstecken. Doch French gibt wie üblich nicht nach. Er enthüllt schließlich ein Verbrechen, das nur durch die moderne Technik des Jahres 1935 möglich wurde. Die Ermittlungen, die in England begannen, münden schließlich in eine aufregende Verfolgungsjagd per Schiff und Lokomotive, die über vier Länder geht, bis der Gerechtigkeit endlich Genüge getan werden kann.

In der Präzision liegt Spannung

Obwohl im Finale ausgiebig gereist und verfolgt wird, bleibt "Das Verbrechen von Guildford" ein typischer Kriminalroman von Freeman Wills Crofts: Der Plot ist wie ein Schweizer Uhrwerk konstruiert und hält jeder Belastungsprobe stand, die Handlung folgt ihm mit unerbittlicher Folgerichtigkeit. Gefühle sind dem Geschehen nur am Rande dienlich und bleiben deshalb unwichtig. Mit jeder Zeile widmet sich der Verfasser ausschließlich dem ´Fall´.

Viele Leser, die einen ´richtigen´ Krimi gar nicht mehr kennen, sondern mit jenem Mischmasch aus Seifenoper und Verbrechen aufgewachsen sind, der heute gemeinhin als solcher gilt, werden diesen Roman womöglich schwer zugänglich finden: Das Privatleben seiner Figuren bleibt ausgespart. Crofts erzählt seine komplexe Geschichte stattdessen so ökonomisch, wie er es für seine Pflicht hält. "Das Verbrechen von Guildford" wirkt im Zeitalter der Schwätzer-Krimis wie die Essenz eines Romans, der heute wahrscheinlich auf 500 Seiten ausgewalzt würde.

Das Crofts sich dies sich und uns erspart, sichert seinem Werk einen Unterhaltungswert, den man schnell zu schätzen lernt: Man kann eine Geschichte tatsächlich ohne Ablenkungen in ihr Finale bringen. Dem zu folgen erfordert höchstens Konzentration, denn selbstzweckhafte Nebenhandlungen, biografische Rückblenden oder gefühlsduselige Einschübe, denen der Leser im Halbschlaf folgen oder die er notfalls überspringen kann, gibt es bei Crofts nicht. Daher heißt es aufpassen, denn schon ein Halbsatz kann eine wichtige Information beinhalten.

Stolz auf die korrekte Darstellung

Obwohl "Das Verbrechen von Guildford" ausdrücklich als Rätsel-Krimi konzipiert ist und den Leser auffordert, sich an den Ermittlungen zu beteiligen, fehlt doch das Element jener Gemütlichkeit, das einen "Whodunit" zusätzlich in einen "Cozy" verwandelt. Zwar spielt die Handlung u. a. im abgeschiedenen Landhaus des Generaldirektors Norne, doch es ist kein Museum einer versinkenden Vergangenheit, sondern das Heim eines Mannes, der gänzlich im Hier & Jetzt beheimatet ist.

Crofts legt seine Krimis quasi dokumentarisch an. Exzentrische Edelmänner, knorrige Ex-Soldaten, dummschlaues Landvolk und all die anderen kauzigen Gestalten, die ebenfalls unverzichtbar für einen echten "Cozy" sind, wird man deshalb vergeblich suchen. Selbstverständlich sind Crofts´ Polizisten auch in der Provinz keine geistig einspurigen Erfüllungsgehilfen, sondern French tatkräftig im Denken und Handeln unterstützende Kollegen. Wenn French weibliche Hausangestellte befragt, verwandeln sich diese nicht in kopflose Hühner, sondern stehen ihm ruhig Rede und Antwort.

French ist kein Genie und kein Ein-Mann-Ermittler, sondern ein Teamspieler. Immer wieder schildert ihn Crofts im Gedankenaustausch mit Superintendent Fenning, der ebenfalls nicht den üblichen Klischees einer "Sir-John-von-Scotland-Yard"-Figur folgt. Fenning mag French manchmal frotzeln, aber er ist ein Vorgesetzter, der sich nützlich in die Ermittlungen einbringt.

Action nach Stoppuhr

Als der Arm des Gesetzes gerade zuschnappen will, haben sich die Übeltäter mit der Beute aus dem Staub gemacht. French lässt ihnen Leine, denn er will sich zu den gestohlenen Diamanten führen lassen. Während die Verbrecher ahnungslos ihrem Ziel entgegen reisen, wird ihre Verfolgung mit enormem logistischen Aufwand in die Wege geleitet.

Crofts hatte bis 1929 als Ingenieur für die "Belfast Counties Railway" gearbeitet und kannte den Alltagsbetrieb der zeitgenössischen Eisenbahn bis ins Details. Selbstverständlich ließ er French & Co. nicht einfach einen Zug auf offener Strecke anhalten. Statt einer wilden Verfolgungsjagd entspinnt sich ein komplizierter Drahtseilakt, der das Wissen und die Kombination von Zugfahrplänen in England und drei Ländern des Kontinents erfordert. Würde man sich heute die Mühe machen, Crofts´ penibel vermerkte Zeitangaben nachzuprüfen, käme man wahrscheinlich zu dem Schluss, dass sie in toto der Realität entsprächen.

Was womöglich langweilig klingt, ist tatsächlich fesselnd. Im 21. Jahrhundert ist es sowohl exotisch als auch schwer nachvollziehbar, mit welchen Problemen einst eine Jagd über große Entfernungen verbunden war. Doch French und seine Kollegen kennen es gar nicht anders. Sie meistern deshalb das Jonglieren mit Abfahrts- und Ankunftszeiten (das nebenbei eine pünktlich fahrende Eisenbahn erfordert, von der wir heute nur noch träumen können).

Fair Play gehört zum Kriminalroman

Selbstverständlich hat sich Crofts ebenso intensiv Gedanken über die Realisierung eines an sich unmöglichen Diamantendiebstahls gemacht. Genrekonform listet er auf, was eine solche Tat eigentlich verhindert. Dem Verbleib des allerletzten Safe-Schlüssels geht French in Vertretung des Lesers nach. Nach menschlichem Ermessen gibt es kein Schlupfloch, zumal auch die Alibis aller Verdächtigen eine Beteiligung ausschließen.

Das Geschick eines Krimi-Autors zeigt sich u. a. darin, den so aufgetürmten Faktenberg mit kleinen, vom Leser leicht zu übersehenden Risse zu versehen. Irgendwann kommt der Ermittler an eine solche Stelle, die ihm den gewünschten Ansatzpunkt bietet. Es beginnt eine Erosion im Zeitraffertempo, denn jetzt beginnt besagter Ermittler damit, den Berg abzutragen. Was buchstäblich felsenfest gefügt wirkte, beginnt zu bröckeln.

Das perfekte Verbrechen gibt es im "Whodunit" nicht. Die möglichst überraschungsreiche Aufklärung sämtlicher Rätsel ist ein Versprechen an den Leser. Deshalb findet Crofts doch eine Methode, den so umsichtig gegen Gaunertücke gesicherten Safe zu öffnen, ohne auf Magie zurückgreifen zu müssen. Als Ingenieur hat er sich einen Trick ausgedacht, der zeitgenössische High-Tech nutzt. Seine Lösung stellt den Leser zufrieden. Ein kunstvoll verzwirbelter Plotfaden ist sauber geglättet worden.

Bis zur Lektüre des nächsten Crofts-Krimis sollte man sich aber ein wenig Zeit lassen: Sie sind sämtlich so sauber konstruiert, dass sie leicht mechanisch wirken. Hält man sich an diesen Rat, darf man sich über das Talent eines Verfassers freuen, der exakt liefert, was er anbietet: Krimi-Unterhaltung in ihrer essenziellen Form. 

Das Verbrechen von Guildford

Freeman Wills Crofts, Heyne

Das Verbrechen von Guildford

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