Dirk Kurbjuweit

05.2020 Carola Krauße-Reim im Gespräch mit Dirk Kurbjuweit, Autor von "Haarmann".

Ich bin ein durch und durch politischer Mensch.

Krimi-Couch:
Mit „Haarmann“ widmen Sie sich einem der bekanntesten Serientäter Deutschlands. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

Dirk Kurbjuweit:
Meine Großmutter hat hin und wieder zu mir gesagt: Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt der Haarmann mit dem Hackebeilchen. Insofern war er mir früh vertraut. Später habe ich den Produzenten des Films „Der Totmacher“ kennengelernt, und wir sind Freunde geworden. Wir haben viel über seinen Film und über Haarmann gesprochen. So wuchs die Idee zu diesem Buch in meinem Kopf.

Krimi-Couch:
Kommissar Lahnstein ist eine fiktive Person. Wie viel vom damals ermittelnden Kommissar Heinrich Rätz steckt in ihm?

Dirk Kurbjuweit:
Nichts. Lahnstein ist eine reine Erfindung, mein Geschöpf sozusagen.

Krimi-Couch:
„Haarmann“ ist eine True-Crime-Story. Wie sah Ihre Recherche aus und, wie lange hat sie gedauert? Waren noch Akten zugänglich oder mussten Sie sich auf Sekundärliteratur verlassen?

Dirk Kurbjuweit:
Ich kann solche Recherchen nur nebenbei machen, da ich Redakteur beim SPIEGEL bin. Es hat sich sicherlich über ein Jahr gezogen. Ich habe vor allem die „Haarmann-Protokolle“ gelesen, ein Buch mit seinen Vernehmungen, dazu den Prozessbericht von Theodor Lessing. Vor allem aber habe ich Zeitungsausschnitte und politisch-historische Bücher über jene Zeit gelesen.

Krimi-Couch:
Sie legen bildungsfernen Menschen die Begriffe „Boxcalf“, „Breeches“ und „Sweater“ in den Mund – und das im Jahr 1923. Wie realistisch ist das, wenn selbst heute für viele diese Begriffe nicht geläufig sind?

Dirk Kurbjuweit:
Ich denke, dass das damals geläufigere Worte waren, als sie es heute sind. Sie stammen aus dem Buch von Lessing und den Protokollen. Die Angehörigen der Opfer haben sie zum Teil selbst verwendet.

Krimi-Couch:
Warum verzichten Sie auf die Kennzeichnung der wörtlichen Rede? Für mich war es dadurch anfänglich schwierig, zwischen Gesprochenem und Gedachtem zu unterscheiden.

Dirk Kurbjuweit:
Ich mag Anführungszeichen nicht. Sie sehen nicht gut aus, stören meines Erachtens eher den Lesefluss.

Krimi-Couch:
Die Homosexualität spielt im Fall Haarmann eine große Rolle. In Ihrem Buch lassen Sie sogar Lahnstein an seiner sexuellen Orientierung zweifeln. Dennoch spielt der ehemalige Geliebte Haarmanns, Hans Grans, der im Prozess als Mittäter verurteilt wurde, nur eine untergeordnete Rolle in „Haarmann“. Wird hier nicht ein großes Stück Authentizität aus der Geschichte genommen?

Dirk Kurbjuweit:
In meinen Augen war Haarmann ein Einzeltäter. Das Todesurteil gegen Hans Grans wurde später ja auch zurückgenommen. Grans mag einiges gewusst, geahnt haben, aber er war an den Taten nicht beteiligt. Ob er aus Habsucht zu Morden angestiftet hat, ist denkbar, aber nicht belegt. Er spielt im Buch ja durchaus eine Rolle, aber ich wollte mich auf den Täter konzentrieren, auf Haarmann.

Krimi-Couch:
Sie bringen sehr viel politischen und gesellschaftlichen Hintergrund in die Geschichte ein. Warum war Ihnen das so wichtig und woher haben Sie Kenntnis von diesen, teilweise sehr persönlichen Ansichten?

Dirk Kurbjuweit:
Ich bin ein durch und durch politischer Mensch. Mich interessieren an Haarmann nicht nur seine Motive und Taten, sondern auch die Jahre, in denen dies geschehen ist, die junge Weimarer Republik, die Verelendung und Verrohung vieler Menschen nach dem Weltkrieg und der Spanischen Grippe. Haarmanns Taten sind auch aus dieser Zeit zu erklären, vor allem aber die Tatsache, dass er so lange unentdeckt blieb. Kenntnisse habe ich durch exzessive Lektüre. Die Weimarer Republik interessiert mich auch jenseits von Haarmann.

Krimi-Couch:
Der Versailler Vertrag hat Deutschland nach dem ersten Weltkrieg destabilisiert. Die Folge waren politischer Unmut in der Bevölkerung, aufkommender Antisemitismus und Rechtsradikalisierung. Vor diesen Problemen steht unsere Gesellschaft auch heute. Macht das „Haarmann“ zu einem aktuellen Buch, im Hinblick auf seine gesellschaftspolitischen Schilderungen und was können wir aus der Geschichte der Zeit nach dem ersten Weltkrieg lernen?

Dirk Kurbjuweit:
Vergleiche zwischen den 20er Jahren von damals und heute sind schwierig. Aber es gibt einige Parallelen, jedenfalls bis zu der Zeit vor Corona. Wir leben, anders als die Deutschen von damals, in einer reifen Demokratie. Gleichwohl war sie zuletzt herausgefordert von Rechtsextremismus und politischer Unsicherheit. Die AfD ist eine Partei, die der Historiker Heinrich August Winkler mit der nationalistischen DNVP von damals vergleicht. Wir haben einige Anschläge rechter Terroristen erlebt, in Halle, in Hanau, in Kassel. Da kommen dann schon unangenehme Gedanken auf. Könnte es wieder so werden wie damals?

Es sind Anfänge. Und die Lehre von damals ist, dass sich eine Demokratie früh wehren muss, sonst ist ihr Kern bedroht. Keine Toleranz gegenüber den Feinden der Intoleranz.

Das Interview führte Carola Krauße-Reim im Mai 2020.
Foto: © Susanne Schleyer, autorenarchiv.de

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