Kopflos

  • Random House
  • Erschienen: Januar 2010
  • 3
  • London: Century/Arrow, 2009, Titel: 'Darkness Rising', Seiten: 391, Originalsprache
  • New York: Random House, 2010, Titel: 'Vienna Secrets', Seiten: 385
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2009

Geht der Golem in Wien um?

Im Jahre 1903 ist Wien die Hauptstadt der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Die Probleme eines Vielvölkerstaates, der eher zur Einheit gezwungen als harmonisch zusammengewachsen ist, spiegeln sich in der Donau-Metropole deutlich wieder. Konservative Kräfte fürchten eine ´Überfremdung´ durch ´fremde Rassen´. Wie üblich trifft es vor allem die jüdische Bevölkerung. Mit Billigung des skrupellosen, offen antisemitischen Bürgermeisters Karl Lueger arbeiten diese Kreise an diskriminierenden ´Reformen´, um die Juden aus führenden Positionen zu verdrängen.

Der junge Arzt Max Liebermann kämpft aktuell gegen eine Intrige, die ihn seine Stellung im Allgemeinen Krankenhaus kosten soll. Er kann deshalb seinem Freund, dem Kriminalinspektor Oskar Rheinhardt, nur eingeschränkt hilfreich als Berater zur Seite stehen, als dieser mit einer Serie bizarrer Morde konfrontiert wird: Die Opfer liegen stets neben einer mittelalterlichen Pestsäule, und ihnen wurden die Köpfe mit roher Körperkraft vom Rumpf gerissen.

Da es zunächst einen katholischen Geistlichen und dann den prominenten Stadtrat Burke Faust trifft, steht Rheinhardt unter besonders heftigem Aufklärungsdruck. Die kopflos gestorbenen Männer waren ausgesprochene Antisemiten, was den Verdacht nahelegt, dass sich ein jüdischer Mörder ihrer entledigt hat. Angeblich wusste der chassidische Rabbi Barash, ein fanatischer Prediger, dass die Bluttaten geschehen würden.

Die Lage spitzt sich zu, und Pogromstimmung liegt in der Wiener Luft. Hinter den Kulissen zieht der ehrgeizige Stadtrat Schmidt seine Fäden. Er will Bürgermeister werden, indem er sich als tatkräftiger Antisemit profiliert. Sollten weitere Morde geschehen, ist es nur eine Frage der Zeit, wann die ersten Unruhen ausbrechen …

Politik & Psychologie

Mit der Entscheidung, das Wien der Jahre vor dem I. Weltkrieg als Schauplatz zu wählen, traf Frank Tallis eine außerordentlich glückliche Wahl. Fern der immer noch gern kolportierten Heurigen-Seligkeit konzentriert er sich auf Wien als angeblichen Schmelztiegel Europas. Tatsächlich funktionierte das städtische Zusammenleben eher schlecht als recht. Zu unterschiedlich waren kulturelle Herkunft und politische Ziele der Wiener, um mehr als einen oberflächlichen und brüchigen Frieden zu gewährleisten.

Die gar nicht verschleierte Diskriminierung seitens einer politisch konservativen, toleranzarm christlich orientierten Oberschicht traf keineswegs nur die Wiener Juden. Sie wurden allerdings zum exemplarischen Feindbild, was Autor Tallis mit der Figur des jüdischen Arztes Max Liebermann quasi dokumentiert.

Wien ist für den praktizierenden Psychologen Tallis auch als Geburtsort ´seiner´ Wissenschaft interessant. Immer wieder lässt er Liebermann den Weg von Sigmund Freud (1856-1939), Begründer der Psychoanalyse, und seiner Kollegen (und Konkurrenten) kreuzen. Verquickt mit dem populären Genre des Kriminalromans, kann Tallis das schwierige und auch komplizierte Ringen um die Entstehung dieser Psychoanalyse unterhaltsam dramatisieren.

Kulturhauptstadt und Pulverfass

Die Liebermann-Reihe ist somit niemals ´nur´ Krimi, sondern die Handlung stets Teil der realhistorischen Vergangenheit, die einerseits den Alltag der Hauptfiguren prägt, während sie andererseits den Hintergrund von Verbrechen bildet, die sich so nur in dem geschilderten Umfeld abspielen können.

Mit Kopflos stößt Tallis tief in das schmutzige Geschäft der Wiener Kommunalpolitik vor. Der historische Karl Lueger (1844-1910) war ein opportunistischer Machtmensch, der schlau die Vorurteile seiner Wähler ausnutzte, um sich ab 1897 in seinem Amt zu halten. Er verwandelte Wien in sein privates Königreich, zeigte sich freigiebig mit der Vergabe von Ämtern und Privilegien an jene, die ihn unterstützten, und bedrängte jene, die nicht mitzogen oder gar seine Korruption verurteilten.

Tallis thematisiert die Dualität einer Stadt, die einerseits als Zentrum von Kunst und Wissenschaft berühmt ist, während gleichzeitig Diskriminierung und Verfolgung selbstverständlicher Alltag sind. Ohne diese gute - weil im Roman verständlich dargelegte - Schizophrenie wäre dieser vierte Fall von Max Liebermann und Oskar Rheinhardt gar nicht möglich.

Einmal Jude, immer Jude …?

Unerbittlich lässt Tallis den allgegenwärtigen Antisemitismus durchschimmern. Kaffeehaus-Kultur und Wiener-Walzer-Seligkeit stellen nur eine dünne Tünche dar. "Die Juden" verdrängen angeblich die ´richtigen´ Wiener. Sie sollen am besten weg oder wenigstens politisch, wirtschaftlich und kulturell ausgeschaltet werden. So dürfen beispielsweise jüdische Autoren oder Komponisten nicht damit rechnen, dass ihre Theaterstücke oder Opern in den ´großen´ Häusern der Stadt aufgeführt werden.

Die Juden haben sich selbst an die Benachteiligungen gewöhnt. Sie hoffen vor allem, dass es nicht schlimmer bzw. so schlimm wie in Russland wird, wo allein zwischen 1903 und 1906 mehr als 2000 Juden umgebracht werden. Sehr menschlich haben die ´kultivierten´ Wiener Juden sich in ihrer Nische eingerichtet und wollen in Ruhe gelassen sowie allmählich integriert werden.

Der Riss geht damit auch durch die jüdische Gemeinde. Weder die zahlreichen jüdischen Emigranten noch die ostjüdischen Chassiden gedenken, ihre fremdartig wirkende Eigenständigkeit aufzugeben. Sie sind bereits optisch als "Juden" erkennbar und bündeln die Ablehnung durch antisemitisch eingestellte Bürger. Aber auch die ´modernen´ Juden – in Kopflos abermals verkörpert durch Max Liebermann, den seinen Glauben schon lange nicht mehr praktiziert – spüren wenig Gemeinsamkeit mit den Chassiden oder lehnen ihre kompromissarme Glaubensstrenge sogar ab.

Ein offensiv seltsamer Fall

Aktive Antisemiten fallen einem Mörder zum Opfer, der vom Verfasser für jene Leser, die an einer allzu authentisch literarisierten Vergangenheit keinen Gefallen finden, aufregend mysteriös gezeichnet wird. Tallis scheut nicht davor zurück, sich der Elemente des Schauerromans zu bedienen. Zwar drückt er sich möglichst lange davor, seinen Namen fallen zu lassen – dies geschieht erst auf Seite 277! –, doch der mythenkundige Leser wird anhand der (nicht unbedingt elegant) eingestreuten Hinweise schnell darauf kommen, dass Tallis den Golem umgehen lässt. Der besteht aus Lehm und wurde angeblich – es ist nur eine von mehreren Versionen dieser Geschichte – 1580 vom Prager Rabbiner Judah Löw (1525-1609) ins künstliche Leben gerufen, um den Juden der Stadt beizustehen, die aufgrund falscher Anschuldigungen in lebensbedrohliche Bedrängnisse gerieten.

Tallis geht einen (logischen) Schritt weiter: Im fortschrittlichen 20. Jahrhundert schreitet der Wiener Golem zur aktiven Gegenwehr; er bringt die Feinde der Juden als Warnung direkt um und verschont letztlich auch Juden nicht, die skrupellos ihre eigenen Glaubensbrüder (oder -schwestern) ausnutzen.

Natürlich geht kein Monster aus Lehm in Wien um. Kopflos ist ein Kriminalroman ohne übernatürliche Elemente. Generell hätte Tallis auf diesen Aspekt eher verzichten oder ihn abschwächen sollen. Im Finale muss er sich mächtig anstrengen, um das Wie und Warum der groben Enthauptungen zu erklären. Wirklich überzeugend wirkt er dabei nicht.

Roman mit zahlreichen Exkursen

Während dem Verfasser die Rekonstruktion der Vergangenheit ebenso spielerisch wie meisterhaft gelingt, weist sein Werk als Roman diverse Schwächen auf. Oft mag oder kann Tallis sich nicht zwischen Krimi und Fallgeschichte entscheiden. Die Psychologie drängt sich dann wie in der Episode mit dem scheinschwangeren Handlungsreisenden aufdringlich in den Vordergrund, während das ohnehin langsame und oft vom Zufall regierte Krimi-Geschehen erst einmal pausiert.

Ähnlich ausgewalzt wirken Liebermanns Liebesqualen. Viele Seiten seines Tagesbuches füllt er mit Schilderungen seiner Verehrung der schönen aber kalten Amelia Lydgate. Das mäßige Tempo dieses Werbens mag den zeitgenössischen Konventionen geschuldet sein. Es hat jedenfalls nichts mit der aktuellen Handlung zu tun, sondern gehört zu den überlappenden Strängen, die Kopflos als Teil einer Serie ausweisen. Womöglich führt diese eigentümliche Love Story daher in einem späteren Band irgendwohin.

Dass die Liebermann-Romane auch in Deutschland erfolgreich sind, belegt ihr regelmäßiges Erscheinen. Mit Hilfe großzügiger Ränder und Zeilenabstände sowie durch das Beharren auf das Prinzip "Neues Kapitel – neue Seite" wird das an sich gar nicht so voluminöse Werk so aufgeblasen, dass ein großformatiges Paperback dabei entsteht; es kann hochpreisiger als ein Taschenbuch angeboten werden. Da die Leser dies mit sich machen lassen, mögen sie offensichtlich die an einen guten Kaffee erinnernde Mischung aus Historie, Wissenschaft und Krimi, die Frank Tallis ihnen bieten kann.

Kopflos

Frank Tallis, Random House

Kopflos

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