Ein Toter meldet sich

  • Scherz
  • Erschienen: Januar 1964
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  • New York: Doubleday, 1960, Originalsprache
  • Bern: Scherz, 1964, Seiten: 186, Übersetzt: Maria Meinert, Bemerkung: Die schwarzen Kriminalromane; Nr. 220
  • Frankfurt am Main: Fischer, 2016, Seiten: 188, Übersetzt: Maria Meinert
Ein Toter meldet sich
Ein Toter meldet sich
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2007

Ungastliches Wirtshaus mit hoher Todesrate

Auf der Straße nach Lavender Hill, einem kleinen Vorort von London, wird der Fred Horace, der die Spelunke "Rettungsanker" führte, überfahren und tot aufgefunden. Der alte Mann hat ein seltsames Testament hinterlassen: James, sein Neffe, den er vor acht Jahren zuletzt sah, soll den "Rettungsanker" erben, wenn er die Gaststätte mindestens sechs Monate als Wirt führt. Der junge Mann, der als Kriminalreporter für ein Boulevardblatt arbeitet, lässt sich darauf ein.

Über der Gastwirtschaft gibt es zwei Wohnungen. Im 2. Stock lebt die Alkoholikerin Sandra Sutherland, die mit Onkel Horace verbandelt war. Als James ihr einen Besuch abstatten möchte, findet er sie tot in ihrem Bett. Die Gasleitung wurde manipuliert, Sandra ermordet. Das ruft Chefinspektor Gidleigh von Scotland Yard auf den Plan. Bedächtig beginnt er seine Ermittlung, bei der ihm der neugierige James mehrfach in die Quere kommt.

Der hat inzwischen den aufdringlichen James Whittaker kennen gelernt, der angeblich als Handlungsreisender tätig ist und unbedingt im "Rettungsanker" Logis nehmen wollte. James will klären, warum dies so ist. Ungebeten unterstützt wird er durch die neugierige Pfarrerstochter Felicia, die sich ebenfalls als Detektivin versuchen möchte.

Als James und Felicia den verdächtigen Mr. Whittaker per Auto beschatten, lockt der sie in die Docks von London. Er greift sich James, fragt ihn (erfolglos) über die Angelegenheiten des verstorbenen Onkels aus und lässt ihn gefangen zurück, um ungestört den "Rettungsanker" zu durchstöbern. James kann von Felicia befreit werden. Das Duo kehrt nach Lavender Green zurück. Unter dem Schlafzimmerfenster der verstorbenen Sandra Sutherland finden sie Whittaker, der gerade die Worte "Noch am Leben ..." hervorstoßen kann, bevor er stirbt. Er hatte versucht, sich dort Einlass zu verschaffen, und wurde von der Leiter gestoßen.

Was suchte Whittaker im "Rettungsanker", und wer hat ihn umgebracht? Diese Frage stellt sich auch Chefinspektor Whittaker. Die Zeit drängt, denn die nächtlichen Aktivitäten in und um das alte Gasthaus lassen keineswegs nach, und die nächste Leiche lässt nicht lange auf sich warten ...

Mords-Vergnügen in bekannten Kulissen

Nichts ist so altmodisch wie ein britischer Whodunit?-Krimi aus der klassischen Ära dieses Genres. Ein Toter meldet sich ist sogar noch angestaubter, denn als dieses Buch veröffentlicht wurde, ging es im Kriminalroman schon längst wesentlich härter und ungeschminkter zur Sache. Allerdings wohnt den Whodunits eine bemerkenswerte Zeitlosigkeit inne, wenn sie denn unter Beachtung der geltenden Regeln und von einem fähigen Autoren niedergeschrieben wurden.

Seldon Truss ist unter dieser Prämisse im Mittelfeld anzuordnen. Er gehört zu den zumindest in Deutschland vergessenen Krimi-Schriftstellern, obwohl sein einschlägiges Werk durchaus titelreich ist; allein die Serie um Chefinspektor Gidleigh von Scotland Yard, dessen 18. Abenteuer wir hier lesen, umfasst insgesamt 23 Bände.

Ein Toter meldet sich enthält alle Elemente, die der Freund des Whodunit so liebt. Die Kulisse ist quasi kein Ort von dieser Welt. In Lavender Hill scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Im Zentrum dieser reizvoll nostalgischen Kulisse erhebt sich der "Rettungsanker", eine mysteriöse Gastwirtschaft mit vielen, verwinkelten und schwer zugänglichen Räumen, in denen des Nachts Seltsames vorgeht: Whodunit und Mystery waren schon immer literarische Nachbarn.

Dass der erfahrene Leser den Ausgang der Geschichte schon etwas (zu) früh ahnt, liegt zum einen am aus heutiger Sicht recht durchsichtig gestrickten Plot mit seinen genretypisch 'fairen', aber eben ziemlich auffällig eingestreuten Hinweisen. Den Rest gibt ihm der ungeschickt gewählte deutsche Titel.

Die üblichen, unwirklichen Verdächtigen

Die formelhafte Gestaltung der Figuren muss ihren Teil dazu beitragen, dass die Geschehnisse länger als nötig ungeklärt bleiben. Onkel Freds großer Coup und die Attacken seiner Gegner sind von herzerfrischender Naivität. Um 1960 dürften sich echte Gauner über ihre jeweiligen Pläne amüsiert haben.

In Lavender Hill leben freilich in kriminalistischer Beziehung durchweg unbedarfte Zeitgenossen. Die Dorfprominenz repräsentiert der Pfarrer, der direkt dem 19. Jahrhundert entsprungen zu sein scheint. Er ignoriert die Gegenwart mit ihren gewandelten moralischen Grundsätzen völlig und vergräbt sich in seiner kleinen klerikalen Welt.

Nicht klüger, sondern nur neugieriger ist seine Tochter Felicia, die in unserer Geschichte die weibliche Hauptrolle übernimmt. Sie langweilt sich in ihrem Heimatdorf und stürzt sich deshalb mit Wonne auf die Rolle der Privatdetektivin, in der sie jedoch kläglich dilettiert und im Grunde nur dafür zuständig ist, durch voreilige Entscheidungen für gefährliche aber spannende Zwischenfälle zu sorgen. Insofern ist es gerechtfertigt, dass Felicia im Finale eben nicht wie erwartet dem rasenden Reporter James Horace in die Arme sinkt, sondern allein zurückbleibt.

Der junge James ist selbstverständlich ein Zeitungsmensch, der aus den üblichen Klischees besteht. Er lebt nur für die nächste "Story", der er mit Feuereifer und ohne Rücksicht auf Vorschriften hinterher jagt. Die eindimensionale Dramaturgie dieses Romans erfordert es, dass prompt immer neue Leichen auftauchen, sobald James den "Rettungsanker" übernimmt. Seine Dynamik wirkt indes aufgesetzt, denn er stümpert kriminalistisch genauso herum wie die lästige Felicia.

So ist es womöglich klug von Chefinspektor Gidleigh, immer wieder auf seinen Status als Polizist und Profi in Sachen Verbrechen zu pochen. Da er sich mit Erklärungen sehr zurückhält und auch uns Lesern nie mitteilen mag, was in seinem Kopf vorgeht, darf er sich nicht wundern, dass niemand auf ihn hört. Die Zeit für Gidleighs Appelle an Moral und Zurückhaltung ist sogar in der Märchenwelt von Seldon Truss längst vorbei.

"Very british" bis ins Detail!

Erst im Großen Finale lässt sich Gidleigh über seine Ermittlung aus. Wie es sich gehört, hat er zuvor alle Verdächtigen zusammenkommen lassen. Mit für die Leser (und die Täter) quälender Langsamkeit erklärt er, wie die Ereignisse zu deuten sind, mit denen uns Verfasser Truss zuvor konfrontiert hat. Obwohl wir wie schon beklagt ahnen oder sogar wissen, wer die Dunkelmänner sind, gelingen dem Autoren auf diesen letzten Zeilen doch ein, zwei Überraschungen, die zwar für die Story nicht unbedingt notwendig sind, sie aber schön 'rund' machen.

Whodunit-typisch bevölkern allerlei drollige Zeitgenossen Lavender Hill. Ein gutes Beispiel für den unaufdringlichen, gut getimten und manchmal sogar schwarzen Humor, den Truss immer wieder einfließen lässt, ist die Doppelidentität der Ardmore-Schwestern, die von lieben, viktorianisch vertrockneten Großmütterchen zum ausgekochten Gaunerduo mutieren. Auch die Folgen des Entschlusses, den toten Onkel Fred mit einem schweren Lastwagen mehrfach zu überrollen, werden ebenso liebe- wie geschmackvoll ausgemalt: britischer Humor ist unvergleichlich.

Unterm Strich stellt Ein Toter meldet sich eine dieser seltenen Entdeckungen dar, die dem eifrigen Leser von Kriminalromanen nicht sehr häufig gelingen und die ihn (oder sie) nach weiteren Werken desselben Verfassers Ausschau halten lassen. Eine Sensation bedeutet diese "Ausgrabung" nicht, aber sie bringt einen Schriftsteller zurück ins Tageslicht, der es nicht verdient hat, im literaturgeschichtlichen Nirgendwo verloren zu gehen!

Ein Toter meldet sich

Seldon Truss, Scherz

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