Hinter blinden Fenstern

  • Jumbo
  • Erschienen: Januar 2007
  • 3
  • Hamburg: Jumbo, 2007, Seiten: 5, Übersetzt: Jürgen Uter
  • München: dtv, 2009, Seiten: 316, Originalsprache
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Bernd Neumann
78°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2007

Eingeholt von langen Schatten der düsteren Vergangenheit

Friedrich Ani ist der depressive Grübler unter den deutschen Kriminalschriftstellern. Kaum ein anderer hat die Fähigkeit, in knapp bemessenen Kapiteln Not und Elend so punktuell zu beschreiben, dass der Leser sich betroffen fühlt, ja seelisch mit leidet. Als Ani seine Vorankündigung tatsächlich wahr machte und die überaus erfolgreiche Krimireihe mit Tabor Süden als Ermittler auf der Suche nach vermissten Personen nach der zehnten Folge (davon vier mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet!) beendete, hallte ein Aufschrei des Entsetzens durch seine zahlreiche Fangemeinde. Wer sollte die Lücke schließen, wer zukünftig so nachempfindbar über Vereinsamung und verkümmernde Sozialkompetenz der Erniedrigten und Beleidigten aus Münchens Randgebieten schreiben?

Friedrich Ani selbst war es, der bereits ein Jahr später das Krimizepter wieder entschlossen in die Hand nahm und uns seinen neuen Hauptkommissar Polonius Fischer schenkte. Der erste Krimi dieser neuen Reihe (Idylle der Hyänen, vielleicht einer der bedeutendsten deutschsprachigen des Jahres 2006) wurde auch prompt mit dem renommierten Tukan-Preis für die beste belletristische Neuerscheinung eines Münchener Autors/Autorin ausgezeichnet.

Anis Folgekrimi präsentiert sich mit dem aufschlussreichen Titel Hinter blinden Fenstern: Das Hauptszenarium spielt sich wiederum auf den Hinterhöfen von Münchens Hochgeschossern ab, die dort dicht aneinandergedrängt als Sozialwohnungssilos genutzt werden; Sozialwohnungen mit stumpfen, blinden Fenstern und ebensolchen Bewohnern, von denen keiner den anderen kennt und wahrnimmt.
Zwischen diesen einsamen Seelen spielt Ani auf zu einem düsteren Requiem aus Tristesse und Hoffnungslosigkeit.

Soziale Marktwirtschaft und deren Risiken für mutige Kleinunternehmer

Im zweiten Fall vom Polizeihauptkommissar Polonius Fischer stehen zwei Tote und ein spurlos verschwundenes junges Mädchen im Mittelpunkt des Dezernats 111. Cornelius Mora hat durch steigenden Discounterwettbewerb und den Boom der digitalen Bilder erst die Kundschaft und dann seinen kleine Fotoladen verloren. Der gesellschaftliche und finanzielle Abstieg zerstörte Tag für Tag seine Existenz aber zugleich und nicht ebenso folgenschwer die sexuelle Begierde auf seine immer missmutiger werdende enttäuschte Ehefrau.

In einem kleinen plüschigen Vorstadtetablisiment wird der psychisch kranke Mora zum Stammgast, lässt sich von Geschäftsführerin Clarissa Weberknecht regelmäßig ans Andreaskreuz fesseln und auspeitschen. Kasteiung für sein Versagen als Ernährer der ehemals intakten Minifamilie bei gleichzeitigem Lustgewinn durch Geißelung von einer drallen Animierdame. Dann passiert es: bei einem dieser SM-Spielchenabende dreht er plötzlich durch und verblutet wie ein abgestochenes Schwein. War es Mord oder ein selbst verschuldeter Unfall?

Gespräche mit Personen, die ihr Leben nicht allzu persönlich nehmen sollten

Polonius Fischer, am Tatort als erstes prinzipiell "reglos im Türrahmen stehend, bevor er mit seinem Rundblick begann, die Hände in den Hosentaschen, um Fingerabdrücke zu vermeiden, scheinbar unberührt vom .... Anblick eines Toten, konzentrierte sich auf Geräusche und Gerüche und auf nichts sonst."
Fischer, der Hauptkommissar mit der sensiblen Wahrnehmung.

"PeEff", wie Polonius Fischer von seinen Mitarbeitern kurz und bündig genannt wird, ist ein gläubiger Gefühlsmensch, ein sensibler Humanist, der seine Verhöre lieber als Gespräche verstanden haben will. Zur Entspannung der Atmosphäre zitiert er zu Beginn dann auch schon mal aus der Heiligen Schrift.

In den Gesprächen erahnt er dann am besten das Gespinst aus Lügen und Halbwahrheiten, jedoch im aktuellen Fall ergeben die Ermittlungen einfach keine brauchbaren Resultate. Für ihn, den behutsam Fragenden und aufmerksamen Beobachter, gehört diese Tat dann auch bald nicht mehr vorrangig in das Arbeitsgebiet seiner "Zwölf Apostel", wie das von Ani durchweg sympathisch gezeichnete Team um Aussteiger-Mönch Polonius Fischer im Revier scherzhafter weise tituliert wird. Seine Mordkommission hat im pulsierenden München ohnehin keine Zeit für Fälle wie diesen, wo Unfall wahrscheinlicher ist als Mord und bei fehlendem Indizien- und Beweismaterial in Zweifelsfällen zugunsten des Angeklagten entschieden wird.

Kommt Zeit, kommt Rat; Gottes Mühlen mahlen langsam - wer wüsste das besser als der ehemalige Benediktinermönch höchstpersönlich.

Wenn alte Fälle plötzlich wieder aktuellen Zündstoff liefern

Knapp ein Jahr später überschlagen sich dann die Ereignisse im Münchener Dezernat 111 und mögliche Zusammenhänge treiben Fischer und seine Apostel zu neuen Ermittlungen: Im Alkoholgeschwängerten Tohuwabohu des Oktoberfestes wird der Lebensgefährte von Minibordellbetreiberin Clarissa Weberknecht mitten auf der Wiesn im allgemeinen Pissoirgedränge erstochen aufgefunden. Nur wenig später wird im Hinterhof ihrer Sozialwohnanlage ein nackter Obdachloser entdeckt, brutal zu Tode geprügelt und im Müllcontainer entsorgt. Zu allem kriminellen Übel wird in dieser Gegend seit mehr als acht Monaten ein sechzehnjähriges Mädchen vermisst, und der Polizei fehlt bisher jede Spur.

Was läuft hier ab, und welche Rolle spielt Clarissa Weberknecht im Ensemble der undurchsichtigen Hinterhöfler mit ihren blinden Fenstern? Kriminalistische (und auch seelsorgerische!) Filigranarbeit für Polonius Fischer, dem es wie immer gerade um das Warum der Verbrechen geht.

Friedrich Ani als Meister der sozialen Gefühlskälte und Hilflosigkeit

Friedrich Ani versteht es auch in seinem zweiten Fischer-Krimi, den Hauptakteuren des Romans unverwechselbare Charaktere einzuhauchen. In diesem Hochhaus-Hinterhof-Milieu herrschen ein erschreckend eisiges Klima und eine gleichgültige Distanz zum Nachbarn gleich nebenan.

Das ist nicht der nette, wohnliche Kietz früherer Jahre, das ist eine Brutstätte böser Attacken, eine aus Langeweile gewachsene vergiftete Atmosphäre aus Lug und Trug, eine erschreckende Teilnahmslosigkeit, die bedrückend wirkt und ganz allmählich in sinnloser Gewalt zu explodiert. Diese desolaten, von Ani eindrucksvoll beschriebenen zwischenmenschlichen Beziehungen und innermenschlichen Unwohlseinattacken sind idealer Nährboden für ebensolche Verbrechen.

Das Prinzip frostiger Unnahbarkeit und verzweifelnder Anonymität ist in Anis neuer Krimistaffel mit Hauptkommissar Polonius Fischer (der einen Kruzifix im "Gesprächszimmer" zu hängen und auf dem heimischen Balkon einen Strandkorb zu stehen hat) offensichtlich gewolltes Programm, denn wie schrieb Ani schon in Idylle der Hyänen so erschütternd über das gut nachbarschaftliche Hochhausklima unserer Zeit:

 

"Ich schau ja auch nicht dauernd. Hier hat jeder seinen Bereich, wir leben nebeneinander, da guckt niemand über den Gartenzaun... Wir kennen hier kaum Leute. Jeder lebt für sich, man trifft sich nicht und tauscht sich aus, wozu auch? Die Leute reden sowieso zuviel. Reden viel."

 

In Hinter blinden Fenstern geht es Ani wiederum nicht um Action und Thrill, sondern um die Auseinandersetzung von Tätern und Opfern, deren unterschiedliche Triebfedern bisweilen lange zurück liegen, aber mit Wurzeln bis in den aktuellen, unbewältigten Alltags fest verankert sind. Die Dialoge zwischen Fischer und seinen befragten Personen gehen sind sprachliche Glanzstücke und gehen dem aufmerksamen Leser gehörig an die Nieren.

Bei dieser Kunst der Schaffung einer düsteren Atmosphäre, ohne den - wenn auch winzig kleinen - Hoffnungsschimmer gänzlich aus den Augen zu verlieren, ist Ani im deutschsprachigen Raum unschlagbar. Mit seiner Tiefe und seinem nimmermüden Versuch, die Abgründe menschlichen Lebens und gesellschaftlicher Realität zu beschreiben, fokussiert Ani scheinbar ganz nebenbei aber auch immer wieder auf aktuelle Ereignisse unserer Zeit.

Der wunderbare Blick hinter die TV-Kulissen des Münchener Oktoberfestes als Ballermann der Bayern dürfte eine Nominierung für den diesjährigen Tukan-Preis ebenso schwierig gestalten wie die Beschreibung eines (nur scheinbar) perfekten Kameraüberwachungssystems innerhalb der bayrischen Landeshauptstadt.

Hinter blinden Fenstern

Friedrich Ani, Jumbo

Hinter blinden Fenstern

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