Der Fluch des Hauses Foskett

  • Atlantik
  • Erschienen: Januar 2017
  • 1
  • London: Head of Zeus, 2014, Titel: 'The curse of the house of Foskett', Seiten: 408, Originalsprache
  • Hamburg: Atlantik, 2017, Seiten: 492, Übersetzt: Johannes Sabinski & Alexander Weber
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2018

Einäugiger Neu-Sherlock-Holmes sieht trotzdem alles

Zu seinem Ärger konnte Privatermittler Sidney Grice sich trotz seines offensichtlichen Talents bisher nicht etablieren, weshalb er sich in diesem Jahr 1882 mürrisch bereiterklärt, einen Fall anzunehmen, den er als unter seiner Würde stehend betrachtet: Sieben Männer und Frauen haben einen Verein gegründet und viel Geld eingezahlt, das die- oder derjenige erhält, die oder der die übrigen Mitglieder überlebt. Auf dass es im "Club der letzten Tode" mit rechten Dingen zugeht, soll Grice ein wachsames Auge auf die potenziellen Nutznießer halten und diese davon abhalten, zu unlauteren = mörderischen Mitteln zu greifen.

Noch während Auftraggeber Horatio Green Grice die Sachlage erläutert, stirbt er an einer Blausäure-Vergiftung. Wohl oder übel muss sich der Detektiv - unterstützt von March Middleton, seinem zwar weiblichen, aber trotz der alltäglichen Chauvinismen selbstbewussten Mündel - auf die Suche nach einer Verschwörer-Bande machen, während weitere Angehörige des "Clubs" zunehmend bizarren und grausamen Morden zum Opfer fallen.

Die spärlichen Indizien weisen in unerwarteten Richtungen, darunter in Grices ohnehin mysteriöse Vergangenheit. Eines der Gründungsmitglieder des Clubs ist die Baronin Foskett, letzte Überlebende einer angeblich von einem Fluch heimgesuchten Familie, deren Angehörige in der Tat meist hässlich zu Tode kamen. Grice war einst oft zu Gast in Mordent House, dem in Kew, einem Stadtteil Londons, gelegenen Stammsitz der Fosketts. Hier kann er endlich eine konkrete Spur aufnehmen: Hinter den Attacken steckt ein böser, sorgfältig umgesetzter Plan, der nicht zwangsläufig auf den "Club" zielt: Ihre unglücklichen Mitglieder sind nur Mittel zum eigentlichen Zweck - die gesellschaftliche Vernichtung und der Tod von Sidney Grice...

Holmes & Watson: nie versiegende Quelle der Variation

Schon während der "echte" Sherlock Holmes seinen Triumphzug begann, gab es Trittbrettfahrer. Sie nutzten die offensichtlich erfolgreiche Rezeptur, um eigene Ermittler - gern im Zweier-Team - gegen das Verbrechen vorgehen zu lassen. Eine gewisse Nähe zum "Original" war dort hilfreich, wo dem Verfasser selbst nichts Originelles einfiel; man durfte es natürlich nicht übertreiben, obwohl Arthur Conan Doyle eher nachsichtig auf eine Praxis reagierte, die man ohnehin nicht verhindern konnte. Mancher Autor verfiel auf den Trick, sein Produkt eine "Hommage" zu nennen, mit der das Originalwerk geehrt werden sollte. Manchmal war dies sogar wahr. Ansonsten half die Zeit. Doyle starb 1930, während Holmes (und Watson) lebendiger denn je blieben.

Je weiter sich der Kriminalroman von seinen Ursprüngen entfernte, desto nostalgischer erinnerte sich das Publikum an eine angebliche bessere Vergangenheit, in der auch das Verbrechen zumindest moralische Regeln achtete und irgendwie weniger scheußlich wirkte, selbst wenn Mord & Todschlag im Mittelpunkt einer Geschichte standen.

Schon ein gutes Stück jenseits des Millenniums ist der "historische" - besser: historisierende - Krimi fest in der Angebotspalette der Unterhaltungsliteratur verwurzelt. Nostalgie steht angesichts einer ungesund beschleunigten und globalisierten, von persönlichen Unsicherheiten geprägten Gegenwart höher im Kurs denn je. Am besten treten die neuen Detektive in alter Tradition gleich in Serie auf, denn in diesem Genre ist Masse eindeutig wichtiger als Klasse, und verändern soll sich am besten nichts. Auch dies ist keineswegs neu; Holmes & Watson sollten nach dem Willen der Leser stets im nebelverhangenen London der viktorianischen Ära ermitteln, weshalb Doyle seine Versuche, ein wenig frischen Wind in die zunehmend erstarrende Szenerie zu bringen, schleunigst abbrach und sich über das Geld freute, das er mit der Variation des Bekannten kassieren konnte.

In tiefen Fußspuren eine Fährte hinterlassen

M. R. C. Kasasian bemüht sich nicht, die Verbindung zwischen Holmes und Sidney Grice zu leugnen; es wäre ohnehin vergeblich, weshalb Hinkebein, Glasauge und offensive Menschenfeindlichkeit Elemente der Gegenwart darstellen, die der Verfasser seinem Garn als ironisch verfremdenden Unterton einwebt. Kasasians London ist nur oberflächlich deckungsgleich mit der Metropole, in der Holmes Kriminalfälle löste. Doyle wäre nie auf den Gedanken gekommen, sein Publikum mit den kapitalen Verbrechen seiner Ära (Stichwort Jack the Ripper) oder gar den Schattenseiten der Großstadt zu konfrontieren, obwohl jeder Zeitgenosse wusste, dass die Versäumnisse einer Politik praktizierter Ungerechtigkeit für Verhältnisse sorgten, die buchstäblich zum Himmel stanken.

Wer arm war, verdiente nach Ansicht derer, die davon nicht betroffen waren, sein Schicksal. Die Ständegesellschaft war gottgegeben, ein Aufstieg kaum möglich, der Abstieg dagegen ein ständig drohendes Schicksal, Die Justiz urteilte drakonisch, denn die Oberschicht fürchtete jene, die sie unterdrückte, ignorierte oder ausbeutete, weshalb sie jegliches Aufbegehren brutal im Keim ersticken ließ. Ein soziales Netz existierte nicht, weshalb Krankheit und früher Tod alltäglich waren. In dieser harten Welt verkümmerte die Menschlichkeit. Was das bedeutete, macht uns Kasasian im Gegensatz zu Doyle klar.

Grice und Middleton bewegen sich durch eine Stadt, die abseits der "vornehmen" Straßen, Plätze und Villen einem schmutzigen Pfuhl gleicht, in dem der Kampf ums Überleben jede Tat und jedes Wort prägt. Immer wieder nimmt sich Kasasian Zeit, um uns - manchmal nur in einem Nebensatz - mit einer damals "normalen", heute schockierenden Tatsache zu konfrontieren. So hat es die Darstellung eines 1882 durchaus modernen Krankenhauses in sich, da weder Betäubungsmittel bekannt waren noch hygienische Vorgaben befolgt wurden.

Das (manchmal) nebensächliche Verbrechen

March Middleton symbolisiert nach dem Willen des Verfassers eine weitere hässliche Seite dieser Vergangenheit: Frauen waren Menschen (höchstens) zweiter Klasse, dem bzw. ihrem Mann jederzeit untertan und finanziell von ihm abhängig, auch wenn dieser sie misshandelte. Von der politischen Mitbestimmung waren Frauen ausgeschlossen, viele nach männlicher Ansicht "anrüchige" oder womöglich den Widerstandsgeist anspornende kulturelle Veranstaltungen und Vergnügen durften sie nicht besuchen, von höherer Bildung wurden sie nach Möglichkeit ausgeschlossen.

So entstanden viele Bereiche, in denen March Middleton Flagge zeigen kann. Die weiter oben erwähnte Nostalgie geht nicht so weit, dass ein weibliches Publikum eine zeitgemäß angepasste Heldin akzeptieren würde. Middleton MUSS sich gegen die allgegenwärtige Unterdrückung wehren, obwohl dies realiter wie beschrieben sicher nicht möglich gewesen wäre. Deshalb schafft Kasasian Middleton eine künstliche Nische relativer Sicherheit. Zwar gibt sich Grice gern wie der größte Chauvinist überhaupt, doch lässt der Autor deutlich durchblicken, dass sich hinter dieser rauen Schale ein (verwundetes) Herz aus Gold verbirgt. Letztlich gibt Grice selbst zu, dass er Middleton zu seiner Nachfolgerin ausbilden will und seine Härte ihr helfen soll, Abwehrmechanismen gegen eine Welt zu entwickeln, die solchen Plänen ablehnend bis feindselig gegenübersteht.

Dass solche Widerspenstigkeit nicht zum offensichtlichen Dienst am (weiblichen) Publikum gerinnt, liegt am Geschick eines Autors, der entsprechende Zusammenstöße ohne schwülstig-melodramatische Untertöne schildert. Wie beim Aufgreifen sozialen Elends und politischer Ungerechtigkeit setzt Kasasian auf nüchterne Drastik und überlässt die Entrüstung seinen Lesern, statt sich wortreich und seitenlang darin zu wälzen; eine Unart, der viel zu viele Autoren von Historienromanen - nicht nur Krimis - verfallen.

Der große - oder wirre - Plan

Sehr viktorianisch wirkt der Plot. Schon der Titel ist nicht nur ein Köder für das auf Polstersessel-Krimis anspringende Publikum, sondern wiederum ein ironischer Hinweis auf ein Geschehen, das kurioserweise in einem historisch recht glaubwürdigen London spielt, aber eine Schauergeschichte erzählt. Der "Fall" ist vor allem bizarr - ein Element, das Kasasian so großzügig definiert, dass manches Ereignis den Tatbestand des Splatters erfüllt. Kreuzigung und Kochen im Riesenkessel sind nur zwei der liebevoll detailliert beschriebenen Mordmethoden. Auch bereits anrüchige Leichen spielen eine Rolle, und zu ganz großer Form läuft der Autor auf, wenn er dem Primärschergen des eigentlichen Schurken die Maske vom scheußlichen Gesicht reißt.

Ansonsten verbirgt sich hinter den vielen Morden kein "logisches" Verbrechen, sondern ein verwickelter Racheplan. Er ist genretypisch so wirr, dass sein Nutzen in keinem logischen Verhältnis zum enormen Aufwand steht. Dafür ist er rätselhaft und unterhaltsam, womit er seinen Hauptzweck erfüllt. Dass Kasasian seinen Stoff im letzten Drittel ein wenig zu deutlich zieht, um ihn auf 500 Seiten zu dehnen, verzeiht man ihm ebenso wie die in den Text eingestreuten, nun doch rührseligen, aber kurzen Rückblenden auf eine unglückliche Middleton-Liebe.

"Der Fluch des Hauses Foskett" ist reines Lesefutter und als solches erfreulich zucker- bzw. seifenschaumfrei. Erfolgreich war der Histo-Krimi-Mix ebenfalls, sodass dem "Fluch" weitere Fälle des Duos Grice & Middleton folgten, bevor sich Kasasian 2018 (vorläufig?) einer neuen Serie widmete.

Der Fluch des Hauses Foskett

M. R. C. Kasasian, Atlantik

Der Fluch des Hauses Foskett

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