Tod einer roten Heldin

  • Zsolnay
  • Erschienen: Januar 2003
  • 13
  • New York: Soho, 2000, Titel: 'Death of a red heroine', Seiten: 463, Originalsprache
  • Wien: Zsolnay, 2003, Seiten: 460, Übersetzt: Holger Fliessbach
  • München: dtv, 2004, Seiten: 459
Tod einer roten Heldin
Tod einer roten Heldin
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Wolfgang Reuter
95°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2003

Ein wunderbarer, atmosphärisch dichter, oft poetischer Kriminalroman

Shanghai 1990. Ein Patrouillenboot der Shanghaier Wasserwacht findet im Baili-Kanal eine weibliche, nackte Leiche, verpackt in einen Plastiksack. Ihre Identität ist zunächst unbekannt, sie ist jung und wurde offenbar erwürgt.

Oberinspektor Chen Cao, der Leiter der Spezialabteilung innerhalb der Shanghaier Mordkommission, beschäftigt sich mit dem Fall. Chen ist ein junger, aufstrebender Parteikader unter der politischen Schirmherrschaft von Parteisekretär Li Guohua, einem der höchsten Parteifunktionäre im Präsidium. Das verleiht ihm gewisse Privilegien, wie etwa die bevorzugte Zuteilung einer Wohnung.

Darunter leidet sein älterer Mitarbeiter und Untergebener Hauptwachtmeister Yu Guangming, der vor Chen zur Polizei gekommen ist, eine Polizeiausbildung und obendrein einen Vater hatte, der ebenfalls Polizist gewesen war. Er begegnet Chen anfangs daher mit einer gewissen Feindseligkeit.

Oberinspektor Chen hatte nie vorgehabt, Polizist zu werden. Eigentlich dachte er an eine literarische Karriere, studierte am Pekinger Fremdspracheninstitut Englisch und veröffentlicht Gedichte. Er hat englische und amerikanische Literatur ins Chinesische übersetzt, so etwa Ruth Rendell oder T.S. Eliot (ein kleines autobiographisches Detail). Ihn erwartete eine vielversprechende Stelle im Außenministerium. Doch bei der Überprüfung seines familiären Hintergrundes stellten die Behörden fest, dass einer seiner Onkel Anfang der fünfziger Jahre als Konterrevolutionär hingerichtet worden war. Also nahm das Ministerium seinen Namen von der Liste, und er bekam eine Stelle im Shanghaier Polizeipräsidium zugewiesen. Dort übersetzte er zunächst ein Verhörhandbuch und politische Berichte für Parteisekretär Li.

Seine Abteilung ist eigentlich für spezielle Fälle mit politischem Hintergrund zuständig, der Fall der Wasserleiche hat jedoch nichts Erkennbares mit Politik zu tun. Chen will aber unbedingt einmal nach seinen Leistungen beurteilt werden und nicht nach der Art und Weise, wie er zu seinem Posten gekommen ist. Deshalb möchte er den Fall übernehmen - einen richtigen Mordfall - den er von Anfang an bearbeiten kann.

Zunächst gilt es, den Namen der Toten herauszufinden. Er verschickt Fotos der Leiche an Zeitungen mit einer detaillierten Beschreibung. Die Reaktion erfolgt noch in derselben Woche: Mitarbeiter des Kaufhauses Nr.1 identifizieren die Ermordete als die bekannte Modellarbeiterin Guan Hongying, Leiterin der Kosmetikabteilung, seit elf Jahren Parteimitglied.

Modellarbeiter sind Menschen, die vorbildhaft ihr ganzes Leben ausschließlich der Arbeit, der sozialistischen Gesellschaft und der Partei widmen, wie etwa auch Stachanow in der UDSSR, im wesentlichen sind das Marionetten der Parteipropaganda. Damit hat der Fall plötzlich eine gewaltige politische Dimension. Parteisekretär Li formuliert es so:

 

"...außerdem könnten die Umstände ihrer brutalen Ermordung dem Bild der Reinheit schaden, das unsere große Partei vertritt."

 

Das Polizeipräsidium beruft eine Sondersitzung ein. Den Ermittlern Chen und Yu wird der orthodoxe Parteikommissar Zhang, ein politischer Konservativer der alten Schule, zur Seite gestellt. Und der Konflikt zwischen alten und neuen Parteikadern ist somit vorprogrammiert.

Die Befragung der Kaufhausangestellten ergeben, dass das Opfer Guan vorbildlich und gewissenhaft gearbeitet hat, jede Parteiversammlung besuchte und eine kompetente Leiterin ihrer Abteilung war.
Sie hatte keine Feinde, war aber durch ihre Vorbildrolle nicht bei allen beliebt. Über ein eventuelles Privatleben weiß niemand etwas, keiner kennt sie näher.

Eine Inspektion ihrer Unterkunft im Arbeiterwohnheim fördert zu Chens Überraschung einige neue, teure Kleider und erotische Reizwäsche zu Tage - ein starker Kontrast zu ihrer öffentlichen Erscheinung. Er findet auch Fotos aus ihrem Privatleben, Guan als hübsche, lebhafte Frau, manches davon ist eindeutig erotischer Natur. Doch wer hat die Fotos gemacht? Nachbarn berichten, dass Guan am Abend ihrer Ermordung mit einem großen Koffer ihre Wohnung verlassen hat. Wohin wollte sie verreisen?

Die Überprüfung ihrer Telefonate zeigt viele Anrufe derselben Nummer, der Besitzer des Anschlusses ist Wu Bing, der ehemalige Shanghaier Propagandaminister. Sein Sohn ist Wu Xiaoming, ein Fotograf, der Guan öfters für den "Roten Stern" fotografiert hat, die Hauszeitschrift des Zentralkomitees der Partei. War er der Geliebte von Guan?

Für Chen ist Wu Xiaoming verdächtig, doch ab diesem Zeitpunkt beginnen seine Schwierigkeiten. Wu Bing ist ein alter, mittlerweile schwerkranker Parteifunktionär. Kommissar Zhang schaltet die Disziplinarkommission ein, die gegen Chen ermittelt. Was sind die Hintergründe dieser politischen Konflikte?

Deng Xiaoping hatte in dem Versuch, die Reformen zu beschleunigen, einige junge Parteifunktionäre - wie Chen - durch vorzeitige Pensionierung alter Kader befördert. Für die höchste Kaderebene bedeutete diese Politik keine Gefahr, aber für die unteren alten Kader stellte sie ein ernstes Problem dar. Daher hatten einige von ihnen sich zum Kampf gegen die Reformen verbündet. Nach dem ereignisreichen Sommer 1989 (dem Massaker am Tiananmen-Platz) musste Deng diese alten Kader dadurch besänftigen, dass er ihren früheren Einfluss einigermaßen wiederherstellte. Ein sorgfältig austariertes Gleichgewicht war gefunden worden, aber es war labil. Misstrauisch beäugte die alte Garde jeden Schritt der Reformer, und die Ermittlungen gegen Wu wurden als Angriff gegen diese alten Kader gedeutet.

 

"Schon wurde ein "Fall" gegen Chen konstruiert. Ein Fall, der den Fall Wu Xiaoming vertuschen sollte. Was mochte Chen erwarten? Jahre der "Umerziehung durch Arbeit" in einem Lager der Provinz Quinghai, in einer dunklen Zelle, oder sogar eine Kugel in den Hinterkopf ... aber dass er aus dem Polizeidienst entlassen würde, dessen war Chen sich sicher."

 

Für Oberinspektor Chen beginnt ein gefährlicher Wettlauf mit der Zeit, doch er hat auch unerwartete Helfer...

Qui Xiaolong vereinigt in diesem Roman mit erstaunlicher Leichtigkeit eine gute, spannende Kriminalstory, eine präzise Analyse der politischen Verhältnisse in China während dieser Umbruchsphase zwischen Sozialismus und kapitalistischem Wirtschaftssystem und berührende, oft poetische Bilder zwischenmenschlicher Beziehungen. Die fatalen Auswirkungen der Kulturrevolution sind noch überall zu spüren. Die Menschen ertragen ihr Schicksal mit unglaublicher Geduld, doch zeigen sich bereits viele Risse in der Fassade, die Vorboten der kommenden "Freiheit" sind überall zu erkennen: steigende Preise, Nachtlokale, offen geäußerte Parteikritik, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

Die Handlung verläuft in gemäßigtem Tempo, die Spannung wird langsam aufgebaut und erreicht im letzten Viertel ihren Höhepunkt. Glücklicherweise gestaltet sich die Gewöhnungsphase an die chinesischen Namen kurz.

Xiaolong schreibt in ruhiger, gemessener, oft bilderreicher Sprache, eingeflochten sind immer wieder Details aus der chinesischen Geschichte oder Zitate chinesischer Dichter. Seine Figuren hat der Autor psychologisch und historisch sehr genau herausgearbeitet.

Der Exil-Chinese Xiaolong legt in "Tod einer roten Heldin" Wert auf die objektive Darstellung der unterschiedlichen Charaktere und persönlichen Verhaltensweisen, man kann sich etwa sehr gut vorstellen, wie ein Mensch wie Kommissar Zhang zu dem geworden ist, was er ist. Die Dialoge und Auseinandersetzungen von Personen unterschiedlicher Herkunft und politischer Stellung wie z.B. zwischen Hauptkommissar Yu und Oberinspektor Chen sind Xiaolong plausibel und sehr gut gelungen.

Die Hauptfigur Chen ist ein vielschichtiger Charakter, oft mehr mit Literatur oder Lyrik beschäftigt, trotzdem ist er ein loyaler "Diener seines Herrn", Polizist nicht aus Leidenschaft, sondern aus Notwendigkeit. Als Teil der Wiederaufbauarbeit am neuen China.

"Tod einer roten Heldin" ist ein wunderbarer, atmosphärisch dichter, oft poetischer Kriminalroman mit spannender und interessanter Handlung, historischer Genauigkeit und der Möglichkeit, in die Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert einzutauchen und wurde völlig zurecht mit dem Anthony Award für den besten Debütroman ausgezeichnet.

Tod einer roten Heldin

Xiaolong Qiu, Zsolnay

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