Blauer Montag

  • Der Hörverlag
  • Erschienen: Januar 2012
  • 10
  • London; New York: Michael Joseph, 2011, Titel: 'Blue monday', Seiten: 400, Originalsprache
  • München: Der Hörverlag, 2012, Seiten: 6, Übersetzt: Andrea Sawatzki, Bemerkung: gekürzt
Blauer Montag
Blauer Montag
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Silke Wronkowski
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2011

Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust.

 

"Das Problem ist, dass wir einerseits nicht über genügend Hinweise verfügen. Niemand hat gesehen, wie Matthew entführt wurde. Vielleicht ist er ja gar nicht enführt worden ..."

 

Montagmittag und Mum verspätet sich. Matthew weiß, dass er nicht allein nach Hause gehen darf, und seine Lehrerin weiß das auch. Aber es braucht nur einen klitzekleinen Moment Unaufmerksamkeit, und Matthew hat das Schulgelände verlassen – denn so weit ist es doch gar nicht und er ist schließlich kein Baby mehr. Aber zuhause kommt er nie an. Scheinbar hat sich ein schwarzes Loch aufgetan und den 5-jährigen verschluckt.

 

"Andererseits haben wir mehr Hilfe, als wir bewältigen können. Allein heute Vormittag haben schon fünf Leute gestanden, ihn entführt zu haben, obwohl es kein Einziger von ihnen wirklich gewesen sein kann. Seit letzte Woche die Fernsehsendung über ihn lief, mussten wir uns mit gut dreißigtausend Anrufen herumschlagen. Er ist in verschieden Teilen Großbritanniens gesehen worden, aber auch in Spanien und Griechenland. Frauen haben ihre Ehemänner, Freunde und Nachbarn verdächtigt ..."

 

Die ersten Stunden nach dem Verschwinden eines Kindes sind entscheidend. Das wissen auch DCI Malcom Karlsson und sein Team der Londoner Polizei. Stunden, Tage, Wochen, und eigentlich ist die Wahrscheinlichkeit ihn lebend zu finden gleich null.

Matthew redet sich ein, sobald er etwas isst, kommt er nie wieder nach Hause. Mittlerweile ist der Fußboden des kargen Zimmers übersät mit verschimmelndem Essen, das er ausspuckt, sobald es jemand versucht in seinen Mund zu schieben, und mit Exkrementen. Auch die Matratze ist fleckig und stinkt nach Urin. Ein Fleck sieht aus wie ein Drachen, ein anderer wie die böse Hexe aus dem Märchen. Wenn er sich ganz lang macht, und auf die Zehenspitzen stellt, kann er seinen Kopf unter der Jalousie hindurch schieben und ein Stückchen der Straße sehen. Aber sie sieht gar nicht aus wie die, in der er wohnt. Alles ist kaputt und leer. Hier wird ihn die Zahnfee ganz bestimmt nicht finden, also darf der wackelige Zahn einfach nicht raus fallen.

 

"... Sein armer Vater ist gestern Abend brutal zusammengeschlagen worden, weil der Boulevardpresse seine Nase nicht gefällt ..."

 

In den meisten Entführungsfällen ist das Motiv sexueller Natur und der Täter ein naher Verwandter. Wen wundert's also, dass Alec Faraday der perfekte Schuldige sein könnte und von ein paar vermummten Jugendlichen solange geschlagen und getreten wird, bis er einem Embryo gleich regungslos am Boden liegen bleibt. Beim nächsten Fernsehauftritt der Eltern, denen man Kummer und zu viele Tränen mittlerweile ansieht, wirken all seine Bewegungen behäbig und schmerzerfüllt – von Rippenprellungen hat man länger was.

 

"Ohne dass ich darum gebeten hatte, sind mehrere Experten mit Täterprofilen an mich herangetreten. Demnach haben wir es entweder mit einem Einzelgänger zu tun, der Probleme im Umgang mit anderen hat, oder mit einem Paar oder aber mit einer Bande, die im Internet einen Handel mit Kindern betreibt … Sie werden verzeihen, wenn ich nicht automatisch dankbar dafür bin, dass Sie mir jemanden nennen, der unter Umständen auf eine recht unspezifische Weise mit dem Verbrechen zu tun haben könnte."

 

Das weiß Dr. Frieda Klein selber. Und eigentlich ist es auch gar nicht ihre Art. Sie ist schließlich Psychotherapeutin geworden, weil sie Menschen helfen will. Sie will ihnen einen Raum geben, in dem sie alles sagen können. Und doch ängstigen die lebendigen Träume ihres Patienten, der von einem Sohn träumt, den er nicht hat, den er aber so sehr begehrt, dass der Schmerz greifbar wird. Und dann sieht er dem entführten Matthew aus der Zeitung wie aus dem Gesicht geschnitten. Und vor 22 Jahren hatte er eine ähnliche Phase – nur dass er damals von einer Tochter träumte. Von einer, die der damals verschwundenen Joanna Vine ähnelte. Ein weiterer, nie aufgeklärter Fall, an dem eine ganze Familie zerbrach, allen voran die damals 9-jährige Rosie, die doch auf ihre kleine Schwester aufpassen sollte.

 

"Es ist, als wäre ich nie ohne sie. Sie ist stets an meiner Seite, wie ein kleiner Geist. Immer im selben Alter. Wir alle werden älter, aber sie bleibt ein kleines Mädchen."

 

Träumt Alan Dekker wirklich, sind das alles Wahnvorstellungen? Ist er da tatsächlich in einem ihm fremden Teil der Stadt von einer vollbusigen Frau auf offener Straße leidenschaftlich geküsst worden, die sich mit den Worten verabschiedete, er solle sie doch bei Gelegenheit mal wieder anrufen, oder ist dies nur ein klassischer Fall von Übertragung, wie Friedas Praktikant Jack vermutet? Spielt es eine Rolle, dass er nie jemandem außer seiner Frau erzählt hat, dass er adoptiert wurde?

Menschliche Abgründe, davon verstehen die Autoren Nicci Gerrard und Sean French etwas. Die müssen gar nicht tief sein, aber jeder von uns hat sie. Geheimnisse, die wir niemandem anvertrauen wollen, blinde Flecken, von denen wir gar nicht mehr bewusst wissen, dass sie existieren oder gar passiert sind, Schwingungen, die wir wahrnehmen und die dafür verantwortlich sind, ob wir jemanden für die Liebe unseres Lebens oder einen Serienmörder halten.

Leise nehmen sie uns mit in die Geschichte, schaffen es, dass wir die Personen lebendig vor uns sehen, zeichnen filigran all die kleinen Linien in deren Beziehungsgeflecht und schaffen es, dass man Seite für Seite misstrauischer wird und bald jedem ihrer Charaktere zutrauen würde, der Täter zu sein. Außer Dr. Frieda Klein, obwohl sie auch ihrer neu erschaffenen Serienheldin ein Päckchen aus Familienvergangenheit, Liebe und Schlaflosigkeit mit auf den Weg geben. Und auch wenn es die Seele ist, die Schmerz erträgt und Schmerz erschafft, und sich die ermittelnden Beamten von dieser immateriellen Seite ihrem Fall nähern und dem Bauchgefühl der Therapeutin vertrauen müssen, so ist es am Ende doch ganz reale Grausamkeit, die einem den Atem stocken lässt. Aber nur, wenn man sich darauf einlässt, so wie es typisch ist für einen Roman aus der Feder des Autoren-Duos. Es sind in all ihren Werken die wechselseitigen Beziehungen ihrer Figuren, deren Liebesbeziehungen und Familien, deren "dunkle Seiten", die den Reiz der Geschichte ausmachen. So auch hier. Keine rasante Achterbahnfahrt, nur eine Bootstour auf der Themse durch zarte Schattierungen von Grau, denn ein hartes Schwarz-Weiß wäre in Nicci Frenchs feinsinnigem Psychothriller so unpassend wie ein Märchen ohne ein "Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage".

Blauer Montag

Nicci French, Der Hörverlag

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