Schweigende Sünde

  • dtv
  • Erschienen: Januar 2012
  • 4
  • Amsterdam: Anthos, 2006, Titel: 'De stille zonde', Seiten: 263, Originalsprache
  • München: dtv, 2012, Seiten: 304, Übersetzt: Christiane Burkhardt
Schweigende Sünde
Schweigende Sünde
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Jürgen Priester
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2011

Recht oder Gerechtigkeit?

Nach dem Überraschungs- und Achtungserfolg von Vor dem Regen kommt der Tod in der dtv-Premium-Reihe schickt der Verlag nachträglich Lieneke Dijkzeuls Krimidebüt Schweigende Sünde aus dem Jahre 2006 ins Rennen. Während bei Vor dem Regen kommt der Tod eindeutig der Thrillercharakter dominierte, wurzelt Schweigende Sünde stärker im traditionellen Kriminalroman und Thrillerelemente fügen sich erst später (zu spät) ein. Die Stärken der Autorin liegen im Thrillerbereich, was sie in eindrücklich bewiesen hat. Das Kleinklein der Polizeiarbeit, das beiden Romanen als Gerüst dient, schildert Dijkzeul ziemlich unspektakulär, wie es wohl auch der Realität nahekommt, aber für einen Krimi entsteht da zu wenig Spannung. Die Ermittler sind in beiden Romanen die selben. Hier in Schweigende Sünde werden Inspektor Paul Vegter und sein Team vorgestellt. Schon sehr früh kristallisiert sich heraus, dass neben dem "Chef" seine selbstbewusste Assistentin Renée Pettersen eine herausragende Rolle spielen wird.

Der Roman spielt in einer niederländischen Großstadt. Man kann vermuten, dass es sich dabei um Amsterdam handelt. Lieneke Dijkzeul verzichtet gänzlich auf das nervtötende "Street-Dropping", mit dem werte Kollegen ganze Bücher füllen. Die Autorin konzentriert sich auf das Wesentliche und das ist vordergründig erst einmal der Kriminalfall.

Bei einem Klassentreffen – es scheint sich wohl eher um das Treffen ganzer Jahrgangsstufen zu handeln, denn es sind über 400 ehemalige Schüler anwesend – wird der allseits unbeliebte Lehrer Per Janson tot in der Herrentoilette gefunden. Unfall, Totschlag oder Mord? - das ist die erste Frage, die die Ermittler beantworten müssen. Eine weitaus größere Herausforderung wird es sein, die über 400 Personen zu befragen, die sowohl Zeugen, als auch Täter sein können. Spuren, Hinweise, auch sich widersprechende, gibt es reichlich; es war ja auch ein recht turbulenter Abend. Aber nicht nur die Schüler stehen unter Verdacht, auch im Lehrerkollegium hat Janson einigen auf die Füße getreten. Bei den Recherchen zum familiären Hintergrund des Opfers treffen Vegter & Co auch noch auf ziemlich erzürnte Ex-Gattinnen. Anstatt dass der Kreis der Verdächtigen sich verkleinert, kommen immer weitere hinzu. Die Morduntersuchungen ziehen sich über Wochen und Monate. Eine gewisse Lethargie hat sich in der Mordkommission breitgemacht, die auch den Leser nicht unberührt lässt. Wäre da nicht...

Parallel zu den laufenden Ermittlungen stellt die Autorin einige Verdächtige vor. Der selbstsüchtige David, der sofort Reißaus nimmt, als er erfährt, dass seine Lebensgefährtin schwanger ist, und sich stante pede an eine andere heranmacht. Irene und Eva, Schulfreundinnen von einst, die sich aus den Augen verloren haben. Die eine glücklich verheiratet mit einem Stall von Blagen, die andere alleinerziehend mit vielen Problemen. Der Rektor der Schule, seine Frau, eine Lehrerin, die Ex-Ehefrauen. Aus den Blickwinkeln aller nähern wir uns dem Opfer und mögliche Motive, ihn umzubringen, kristallisieren sich heraus. Hinter der Fassade von Strenge und Pedanterie tun sich wahre Abgründe auf. In dieser Gemengelage steckt das Spannungspotenzial von Dijkzeuls Geschichte und es offenbart sich ganz anders, als man es erwartet.

Anders als üblich ist auch das Ende der Geschichte. Der Leser darf/muss sich entscheiden, ob er mit dieser Lösung leben kann oder nicht. Es geht um Recht und Gerechtigkeit. Der Inspektor scheint es akzeptieren zu können:

 

Und plötzlich war er da, dieser Inspektor Vegter und alles, was in seinen Augen zu sehen war,waren Mitleid und Verständnis. [kleine grammatikalische Änderung durch den Rezensenten]

 

Mit Inspektor Paul Vegter hat Lieneke Dijkzeul einen sympathischen Serienheld am Start. Er erfüllt zwar fast jedes Klischee des einsamen Wolfes – verwitwet mit vielen Erinnerungen an seine Frau, allein lebend mit Zimmerlinde und Katze, Liebhaber klassischer Musik und philosophischer Literatur, etwas verliebt in seine junge Assistentin, aber klug genug, diesen Gefühlen nicht nachzugeben – doch strahlt er eine Form von Altersweisheit aus, die ihn über die sattsam bekannten "hardboiled detectives" erhebt. Es ist positiv zu vermerken, dass Lieneke Dijkzeul auf eine Liebesbeziehung zwischen ihm und der flotten Renée Pettersen verzichtet. Die Konstellation, älterer Ermittler und junge Frau im Tatumfeld verlieben sich, ist mittlerweile so abgedroschen, dass man glaubt, ihr in jedem zweiten Krimi zu begegnen. Gut gemacht, Mevrouw Dijkzeul.

Weniger gut ist allerdings die doch ziemlich lange Durststrecke, die man überstehen muss, bis die Handlung Fahrt aufnimmt. Die Autorin hat ihre Figuren gut positioniert und es sind auch einige interessante Charaktere dabei, doch mangelt es schlicht an Interaktionen. Das mag der Notwendigkeit geschuldet sein, in der ersten Folge einer Reihe ausführlicher auf die Lebensumstände des Stammpersonals einzugehen, was sich in diesem Fall als echter Bremsklotz erweist, besonders wenn man das temporeiche Vor dem Regen kommt der Tod zum Vergleich heranzieht.

Schweigende Sünde ist trotzdem ein guter Serienauftakt und Lieneke Dijkzeul zeigt schon hier ansatzweise, was ihr später noch viel besser gelingt, die Kombination von Kriminalroman und Psychodrama. Gerade bei letzterem beweist sie viel Einfühlungsvermögen. Die Autorin setzt nicht auf überzogene Theatralik oder konstruierte, lebensfremde Krisen, sondern auf fast alltäglich anmutende Situationen, in die ein jeder von uns hineinschlittern könnte.

Schweigende Sünde

Lieneke Dijkzeul, dtv

Schweigende Sünde

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