Grantchester
Staffel 3 + 4

Serien-Kritik von Jochen König (07.2020) / Titel-Motiv: © Edel Motion

Gefühlsaufruhr, Verbrechen und Glaubenskämpfe

In Staffel 3 deutet sich an, was in der vierten Staffel Fakt wird: Sidney Chambers nimmt Abschied von Grantchester. Er muss viel hadern, mit seiner schwierigen Beziehung zur geschiedenen Amanda, mit seinem Beruf und seinem Konsum von Jazz, Alkohol und Zigaretten. Dazu gesellen sich noch die obligatorischen Kriminalfälle, die stellenweise zu beiläufig abgehandelt werden. Es menschelt mehr als zuvor  in Grantchester. Denn nicht nur Sidney hat Probleme.

Freund Geordie, der toughe Polizist, betrügt seine Ehefrau mit seiner Vorzimmerdame Margaret (die zuvor ein Auge auf Sidney geworfen hatte), Vikar Leonard kämpft mit seiner Homosexualität, beziehungsweise mit den gesellschaftlichen Anfeindungen, die ein Coming Out unweigerlich zur Folge hätte. Nach einem Gespräch mit dem neuen Erzdiakon erwägt er gar eine Alibi-Verlobung. Mrs. Maguire wiederum sieht ihre Vermählung mit Jack Chapman in Gefahr, als aus heiterem Himmel ihr totgeglaubter Gatte wieder auftaucht. Der mehr als ein Geheimnis hütet und äußerst schändlich mit der rührigen Haushälterin umspringt.

Erst kommt der Mensch, dann die Ermittlung

Dass die Kriminalfälle bei diesen emotionalen Achterbahnfahrten etwas ins Abseits geraten ist schade, denn sie haben es in sich. Die Serie widmet sich den Schattenseiten einer Zeit, in der Ausgrenzung, Bigotterie, (religiöser) Fanatismus zum rückständigen Ton gehörte, der in den fünfziger Jahren herrschte. Es geht um Gewalt gegen Schutzbefohlene, die sich einmal gnadenlos rächt und einmal nahezu ungeahndet bleibt. So ist das, wenn „Stützen der Gesellschaft“ in Verbrechen involviert sind. Es findet sich eine so rührende wie traurige „Bonnie und Clyde“-Variation, bei der man viel Verständnis für die Missetäter aufbringt.  Ebenso gibt es rassistisch bedingte Straftaten wie desolate familiäre Situationen, in denen besonders Kinder Opfer von Gewalt werden. Klingt leider allzu gegenwärtig.

Zweimal ermittelt Sidney Chambers im vierten Teil der Serie noch an Geordies Seite, kämpft mit seinen inneren Dämonen und trifft dann eine endgültige Entscheidung (wie endgültig wird sich zeigen. Ein Hintertürchen bleibt für James Norton offen). Woraufhin Vikar Leonard in seiner staksigen, unbeholfenen Art in Sidneys Fußstapfen treten möchte und in Folge drei den bärbeißigen Polizisten, nun ja, tatkräftig unterstützt. Doch mit der Pfarrstelle in Grantchester wird es nichts.

Ein neuer Pfarrer in der Stadt

Auftritt:  Will Davenport. Ein ähnlich charismatischer und freigeistiger Charakter wie Sidney Chambers. Geschlagen mit Eltern, die vor lauter Standesdünkel den eigenen (finanziellen) Niedergang ignorieren, was in die Katastrophe führt. Will ist passionierter Boxer, liebt – sehr zu Geordies Missfallen, der sich gerade an Sidneys Faible für Jazz gewöhnt hatte – Rock’n Roll und muss sich erst mit Leonard zusammenraufen. Im wahrsten Wortsinn. Der ist nämlich am Boden zerstört, nachdem Mrs. M., mittlerweile Mrs. C(hapman), ihn mit wortloser Missachtung straft. Und den Haushalt der beiden Geistlichen verlässt. Wegen der zu innigen Beziehung Leonards zu Daniel Marlowe, die der konservativen Gläubigen schwer zu schaffen macht. Es dürfte allerdings kein großes Geheimnis sein, was am Ende siegt, ihre verbiesterten Vorurteile oder ihr gutes Herz und wacher Verstand.

Herausragend ist die fünfte Folge der dritten Staffel „Sidneys Martyrium“, in der es den jungen Pfarrer während seiner Sinnsuche in eine Roma-Gemeinschaft verschlägt. Dort sucht er nach Mrs. Maguires gestohlenem Geld, das ihr Ex-Gatte entwendet hat, der in dem Roma-Dorf mit seiner Zweitfamilie lebt. Sidney gerät in eine Romeo-und-Julia-Story, die nicht für alle Beteiligten gut ausgeht. Die Gemeinschaft wird dabei respektvoll und mit Sympathie gezeichnet. Sidney kommt wenigstens für einen Moment zur Ruhe, bevor der Abschied naht.

Scheiden, aber richtig – „Grantchester“ kann‘s

Der geht dann nahezu reibungslos vonstatten. Die Zwischen-Episode mit Leonard als Geordies Adlatus ist amüsant und Will  Davenport, charmant gespielt von Tom Brittney, tritt passgenau Sidneys Nachfolge an. Die biographischen Verlagerungen tun der Figur gut, der Wechsel von Jazz zu Rock’n Roll ist ein netter Gag und verweist mit dem Erhalt der musikalischen Komponente auf die Buchvorlage, in der es das Personalkarussell nicht gegeben hat.   

Davenports familiärer Background nimmt bei seinen ersten Auftritten breiten Raum ein, wird er doch auf dem elterlichen, vom Verfall gezeichneten Herrschaftshaus in einen Mordermittlung verwickelt. In der Rolle von Wills Vater gibt es ein Wiedersehen mit Nathaniel „Lynley“ Parker, der gerade an anderer Stelle selbst neu als Inspector Gamache ermittelt. Hier spielt er gekonnt einen hartherzigen Despoten, dem man nur wenig Sympathie entgegenbringt.

Wenn die Gegenwart vorbeischaut

Geordie hat sich wieder mit seiner Frau Cathy zusammengerauft, die (überflüssige und wenig glaubwürdige) außerehelichen Affäre hat sich erledigt. Cathy selbst wird zum Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Hier verweist „Grantchester“ sehr offensichtlich auf die aktuelle „me too“-Debatte. Das passt schon, aber die Macher*innen müssen ein bisschen aufpassen, dass derartige Verweise nicht zu aufdringlich und platt geraten. Eine Neigung, der die Macher der Serie nicht immer geschickt aus dem Weg gehen. Die Auflösung der misslichen Situation, bei der die frisch vermählte Mrs. Chapman eine tragende Rolle spielt, ist indes wieder prächtig geraten.

Schwierigkeiten mit den Frauen

In einem weiteren Punkt schwächelt „Grantchester“ seltsamerweise deutlich. Und das schon seit Beginn. Daisy Coulam fällt für ihre weiblichen Hauptfiguren keine stimmige Auflösung ein. So verabschiedete sich  bereits zu Beginn die deutsche Witwe Hildegard Staunton (die Sidney in der Romanvorlage ehelicht) sang- und klanglos nach Deutschland. Jetzt erwischt es die aparte Margaret, nachdem sie als Geordies Affäre ausgedient hat und schlimmer – oder besser für diejenigen Zuschauer, denen das unerquickliche Liebesscharmützel zu viel Raum einnimmt -, Sidneys große und letztlich unerfüllte Liebe Amanda entfleucht ins Nirwana. Zumindest zieht es sie hinaus aus Grantchester. Ein Schelm, wer denkt, dass Darstellerin Morven Christie von „The Bay“ gerufen wurde, jener Serie, in der sie die Hauptrolle bekleidet (die ersten Kritiken dazu klingen leider wenig verheißungsvoll). 

Im Gegenzug wird die Violet als neue große Liebe installiert. Da Violet eine Schwarze ist, die ihren Vater auf einer Vortragsreise durch England begleitet, gelingt es „Grantchester“ einige Schlaglichter auf das Thema des alltäglichen Rassismus zu werfen.

Violet gelingt, woran Amanda über drei Staffeln scheiterte: Sidney verfällt ihr in Windeseile, lässt seine Pfarrstelle sausen und folgt ihr nach Amerika. Das ist, obwohl von allen Beteiligten gut gespielt, ziemlich unglaubwürdig und wirkt wie übers Knie gebrochen. Es scheint, man wollte James Norton einen Abschied gönnen, der nicht endgültig bleiben muss.

Abschied gelungen, Staffelwechsel geglückt – sonniger Zukunftsblick

Davon abgesehen bietet „Grantchester“ wieder beste Unterhaltung, zwischen  Nostalgie und kritischem Blick auf Zeitgeistiges. Der sarkastische Witz der ersten Staffel ist ein wenig in den Hintergrund getreten, aber wohl noch vorhanden, die Fälle entfalten zwar nicht das mögliche Potenzial, bieten aber ansatzweise tiefgründige Unterhaltung, die sich aus einem genauen Blick auf Psychologie und Gesellschaftspolitik nährt. Der Wechsel der Hauptfigur macht sich weniger schmerzhaft bemerkbar als befürchtet. Es bleibt spannend wie es mit Will Davenport, Geordie, Leonard, Mrs. C. und den anderen liebgewonnen Protagonisten weitergeht.

Wer Ex-Hauptdarsteller James Norton mal völlig gegen den Strich besetzt erleben will, sei auf Greta Gerwigs vorzügliche Romanverfilmung „Little Women“ verwiesen, in der er einen reichlich faden Hauslehrer spielt. Der allerdings Hermione Granger heiraten darf. So findet er erneut sein Glück in Amerika.   

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Cover und Fotos: © Edel Motion

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