Kettenacker

  • Pendragon
  • Erschienen: Januar 2011
  • 2
  • Bielefeld: Pendragon, 2011, Seiten: 352, Originalsprache
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Jochen König
87°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2011

Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?

Er hat es wieder getan. Knapp 13 Jahre nach den Ereignissen in und um Grafeneck stößt Herrmann Mauser beim Höhlenforschen wieder auf eine Leiche. Diesmal auf die skelettierten Überreste eines jungen Mädchens. Vergewaltigt und ermordet 1933 wie sich bald herausstellt. Kommissar Greving, den Mauser schon aus dem früheren Fall kennt, beginnt zu ermitteln. Ebenso der pensionierte Lehrer Mauser, dem schnell klar wird, dass seine Schwester Mutz, die im Rahmen des T4-Projektes 1944 (in Rainer Gross´ literarischem Zeitfenster) umgebracht wurde, eng mit dem Tod des Mädchens verbunden ist. Mauser wird erneut in seinen Grundfesten erschüttert, was umso schwerer wiegt, da ihm die Umzugspläne seiner Freundin Veronika schwer zu schaffen machen. Immerhin findet sich der von Selbst- und Gotteszweifeln geplagte Polizist Greving als Freund in so dunklen wie redseligen Stunden ein. Zwei ungleiche und doch so ähnliche Männer, die einen gemeinsamen Feind haben: das Böse. Wobei sie eigentlich mehrere gemeinsame Feinde besitzen. Dummheit, Ignoranz, Lüge und bigotte Selbstherrlichkeit gesellen sich in vertrauter Runde noch dazu.

Kettenacker ist ein Roman über die Provinz. Aber kein spannungsheischendes Werk, in der Polizisten und üble Täter durch heimelige Auen und Täler torkeln, um beim Bäcker vor Ort Gerechtigkeit in penibel gebackener und ausgewogener Brötchenform zu finden. Mauser und Greving steigen in die Abgründe der menschlichen Provinz, in der das Empfinden, das Denken und Handeln nur den gerade herrschenden Zeitläuften und eigenen bequemen Befindlichkeiten gehorcht. In denen man fußballspielender Gemütsmensch sein kann, der ruhigen Gewissens damit leben kann, Menschenleben mutwillig missachtet und bewusst zerstört zu haben. Nur ein Scherz. Hier darf die Geistlichkeit dunklen Gelüsten frönen und sühnend in die abgeschlossene Welt eines Klosters fliehen. Verständnis wird zwar gesucht, bleibt aber minimal, zu viele Leben sind durch die Verfehlungen eines kleinen Mannes, der große Töne spuckt, auf der Strecke geblieben.

"Gott ist ein Arschloch"

So lautet die ernüchternde Bilanz eines betrunkenen Kommissars. Eigentlich ein gläubiger Christ, dem sowohl Gottes- wie Menschenpläne immer undurchschaubarer werden.

 

Gott hat sich einfach vergriffen, als er uns zu seinem geliebten Geschöpf erwählt hat. Er hätte sich etwas Intelligenteres aussuchen sollen, Delfine vielleicht, die sollen ja so schlau sein, ja, Jesus hätte als Delfin auf die Welt kommen sollen&!

 

Gemeinsam mit Herrmann Mauser versucht er nicht nur Tätern auf die Spur zu kommen (die vor keinem irdischen Gericht mehr landen werden), sondern auch dem alten und nie gelösten Rätsel, warum ein liebender Gott so viel Unrecht geschehen lässt. Gerade an seinen hilflosesten Schäfchen. Mauser und Greving werden tief in die Eingeweide dieses Themas getrieben, doch ob eine (Er)lösung in Aussicht steht, ist fraglich. Stattdessen Wut und Entsetzen über das, was Menschen anderen Menschen antun. Herrmann Mauser, der sich ewig eifersüchtig emotional im Schatten der behinderten Mutz sah, erfährt, dass die Geschichte der älteren Schwester einer ganz anderen Deutung bedarf. Der Schrecken wird dadurch nicht geringer, im Gegenteil. Aber Erkenntnis ist die größte Chance ähnliches Grauen zukünftig zu vermeiden. So gibt die veränderte Position und Ausrichtung der Wissenschaft Mauser erst die Chance, überhaupt an Untersuchungsergebnisse aus der Vergangenheit zu gelangen. Kleine Erfolge, vage Hoffnungsschimmer.

Die Alb schimmert auch. Gross versucht nicht nur dem Bösen ein Gesicht zu geben, sondern auch der Landschaft, den Menschen und ihren Lebensräumen. Seine Sprache ist klar, bedächtig gewählte Worte, die einen eigenen Sog erzeugen, in dem man sich nur allzu gern hineinziehen lässt. Nichts aufgesetztes, kein biederes und schlecht ausgearbeitetes "dem Volk aufs Maul geschaut"-Gewese. Gross geht auf seine Charaktere ein, gibt jedem eine eigene Stimme. Das macht er großartig. Eine bildreiche Sprache, die nie den intellektuellen Horizont ihrer Sprecher sprengt und nicht in saumseligen Heimatbühnen-Jargon verfällt.

Am Ende wird es nicht darum gehen, ob Schuld und Strafe zustande kommen, sondern wie man im Angesicht der vielfältigen Erscheinungsformen des Bösen weiterleben und kämpfen kann. Inmitten einer Provinz, in der Schönheit und Schrecken dicht beieinander liegen wie überall sonst auch. Bleibt nur zu hoffen, dass sture, wutvolle Dickköpfe weiterhin dafür sorgen, dass wenigstens Vergessen und Verschweigen schwerer gemacht werden.

 

Die "Welt" ist nicht nur ein physikalischer Raum, der von Düsenflugzeugen durchmessen wird und der voller Menschen ist, die in alle Richtungen rennen. Sie ist ein Komplex von Verantwortlichkeiten und Optionen, der sich aus der Liebe, dem Hass, den Ängsten, Freuden, Hoffnungen, der Gier, Grausamkeit, Freundlichkeit, dem Glauben, Vertrauen und Misstrauen aller zusammensetzt.
(Thomas Merton, "Sich für die Welt entscheiden")

 

Kettenacker liegt mitten in dieser Welt.

Kettenacker

Rainer Gross, Pendragon

Kettenacker

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