Der Schlaf des Engels

  • Lübbe
  • Erschienen: Januar 2010
  • 1
  • London: Orion, 2002, Titel: 'Angels passing', Seiten: 344, Originalsprache
  • Bergisch Gladbach: Lübbe, 2010, Seiten: 589, Übersetzt: Marion Sohns
Wertung wird geladen
Jochen König
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonJul 2009

Leben und Sterben in Portsmouth

Eine gute Woche im (Arbeits)leben einer Gruppe Polizisten. Zwei Fälle, wenig spektakulär und dennoch raumgreifend, halten DI Joe Faraday und DC Paul Winter auf Trab. Beides scheinbar Selbstmorde, doch ist Fremdeinwirkung nicht auszuschließen.

Während Faraday den Tod der 14jährigen Helen Bassam untersucht, die sich augenscheinlich vom Dach eines Hochhauses stürzte, muss Winter sich mit dem Fall des vor seinem Tode mehrfach sexuell und mit brutaler Gewalt malträtierten Bradley Finch auseinandersetzen.

Während es bei Finch ziemlich offensichtlich ist, dass er sich nicht alleine erhängt hat, wird die Ermittlung um Helen Bassams Ableben zur frustrierenden Spurensuche. Denn vieles passt nicht zusammen, angefangen damit, dass die rebellische Tochter eines getrennt lebenden Paars aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammt (Mutter Lehrerin, Vater Anwalt), und tot in Somerstown gefunden wurde. Ein Viertel Portsmouths, von dem Faraday denkt:

 

es vereinigte auf frappierende Weise all jene sozialen Merkmale in sich, die zunehmend seinen Berufsalltag bestimmten – Armut, häusliche Gewalt, zerrüttete Familien. Schon das Aussehen dieses Orts schien die brutale Wirklichkeit des Straßenlebens hier zu spiegeln.

 

Bradley Finch würde eher dorthin passen, dieser wandelnde Punching-Ball; ein ewiger Loser, der fast unweigerlich einem gewaltsamen Ende entgegen taumelte. Dass die Polizei mit erhöhtem Einsatz ermittelt, verdankt er nicht dem Interesse an seiner Person, sondern der Tatsache, dass seine Ermordung als offene Kriegserklärung an Recht und Gesetz verstanden wird. Etwas, dass sich der leitende Beamte Willard nicht gefallen lässt und deshalb mit erhöhtem Personalaufwand die Ermittlungen voran treibt.

Verdächtige sind relativ schnell gefunden, doch ihnen die Tat nachzuweisen wird zur Sisyphosarbeit. Denn auch wenn es keinen Ehrenkodex unter Gangstern mehr gibt, sondern egozentrische und egoistische Typen die Szene beherrschen, wissen sie, selbst bei beschränkter Intelligenz, eins: mit dem passenden Lügengespinst, kann ihnen die Polizei nichts anhaben.

Joe Faraday muss inzwischen an mehreren Fronten kämpfen. Während er verzweifelt seinem einzigen Zeugen und Verdächtigen nachjagt, einem 10-jährigen namens Doodie, der bereits ein kleiner Meister im Untertauchen ist, möchte sein bürokratischer Vorgesetzter Hartigan Helens Tod als Exempel für eine viel zu liberale Drogenpolitik publik machen. Dafür nimmt er kaltschnäuzig in Kauf, Helens Mutter Jane zu opfern.

Als wäre das noch nicht genug, muss Faraday sich einer existenziellen Beziehungskrise stellen und sich um seinen tauben Sohn J.J. kümmern, dessen Ausflug in die Zweisamkeit unsanft endete.

 

Glauben Sie, was Sie wollen Mr. Detective, aber lassen Sie sich etwas gesagt sein: das Leben ist komplizierter, als Sie glauben.

 

Das sagt ein Verdächtiger zu Joe Faraday, es könnte aber auch als Motto über Graham Hurleys Roman stehen. Der Schlaf des Engels hat keine stringente Story zu bieten, keine einfache Ermittlung, an deren Beginn ein (oder mehrere) Opfer stehen und am Ende ein Täter, der überführt wird. Hurleys Polizisten leben im Kriegszustand, und Portsmouth ist ein exemplarisches Schlachtfeld. Sie kämpfen in einem Krieg, dessen Regeln höchst unklar sind, der keinen eindeutigen Frontverlauf kennt, ja nicht einmal genau weiß, wer der wahre Gegner ist. Es fängt bei der Bürokratie und der Überlastung an, denn nicht nur das Spektakuläre muss bearbeitet werden, sondern auch all die minimalen Delikte für die sich kaum jemand interessiert. Hurley deutet in kleinen Randepisoden an, wie zermürbend, kräfte- und personalzerfleischend dieser tägliche Kleinkram ist, während im Großen auch nicht gerade Bäume ausgerissen werden.

So unterschiedlich Faraday und Winter auch sind, in einem sind sie gleich: sie sind abgebrühte Polizisten, die dennoch offenen Auges durch die Welt rennen, sich einen Rest Mitgefühl bewahrt haben und hartnäckig an ihren Fällen dran bleiben. Was für Winter heißt manchmal auch nur Beobachter von Entwicklungen zu sein, die sich verselbständigen, immer hoffend, dass aus falschen Gründen das richtige Ergebnis erzielt wird. Das wäre Faraday zu wenig, der die Welt und vor allem seine Mitmenschen verstehen möchte. Und dabei fast erstaunt nur Zeuge seines eigenen Scheiterns wird.

Hurley berichtet darüber ohne Larmoyanz, mit sarkastischem Witz und einem tiefen Verständnis für die Unwägbarkeiten des Lebens, vor allem im Miteinander. Die Episoden, die dem Privatleben seiner Protagonisten gewidmet sind, lenken nicht ab von ihrer Arbeit, vom Kampf in einem System, dass seinen Opfern keinen Rückhalt bietet, das auf vorgebliche Effizienz ausgelegt ist, aber letztlich nur mit ungenügenden Mitteln versucht, vom eigenen Versagen abzulenken. Hurley hat einen Namen für dieses Versagen: Margaret Thatcher und ihre Politik des sozialen Kahlschlags. Nicht, dass sie alleine dafür verantwortlich ist, dass die Gesellschaft den Bach runter geht, aber sie ist das perfekte Symbol einer Denkungsart, die dem um jeden Preis Erfolgreichen das Glück dieser Welt zu Füßen legt. Eine Weltanschauung, die sich Gangster mit Lust und Leidenschaft zu eigen gemacht haben. Selbst schlichte Kleingauner lassen sich nicht mehr unter Druck setzen von einer Staatsmacht, die ihnen beigebracht hat, dass sie alles erreichen können, wenn sie nur konsequent und mitleidlos ihren Weg gehen. Die einzige Chance, die Winter und seine Kollegen haben, ist, dass doch jemand umkippt und mehr preisgibt, als er möchte, oder das aus zufälligen Verstrickungen Stolperfallen werden, die alle grobe Planung zunichte machen. Doch bis es so weit kommt, sind Kinder wie Helen Bassam oder Doodie meist unter die Räder geraten.

In Graham Hurleys verwinkeltem Roman werden am Ende nicht alle Fäden entwirrt, nicht alle Probleme geklärt, die seine Protagonisten und Nebenfiguren umtreiben. Von einer "reinen" Spannungsdramaturgie ist Der Schlaf des Engels weit entfernt. Erlösung ist nicht vorgesehen und manches verpufft einfach, ohne Sinn, Verstand und Konsequenzen. Und es ist Hurleys Verdienst, dass man ihm gerne folgt, wenn er diese Verpuffung teilweise akribisch beschreibt.

 

"Diese Kinder sind praktisch verwildert, wie verwahrloste Tiere. Die sind knallhart, und was noch schlimmer ist: Es gibt nichts, was die noch erschüttern könnte. [...] Wir überschütten sie mit dem ganzen Scheiß von wegen freier Gesellschaft, Bürgerrechten und Selbstverantwortung, aber die sind einfach nicht daran interessiert. Die haben uns längst abgeschrieben. Für die ist diese Gesellschaft eine einzige Lachnummer. Die sind da draußen auf sich allein gestellt und wollen, das es so bleibt. Und wer will es ihnen verübeln?" [...]
"Du meinst, wir haben den Überblick verloren?"
"Ich weiß, dass es so ist".

 

Der Schlaf des Engels ist nicht das spannendste Buch auf weiter Flur, aber ein kluges und analytisches, das in den acht Jahren, seit es im Original veröffentlicht wurde, nichts an Aktualität verloren hat.

Der Schlaf des Engels

Graham Hurley, Lübbe

Der Schlaf des Engels

Deine Meinung zu »Der Schlaf des Engels«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Dr. Drewnioks
mörderische Schattenseiten

Krimi-Couch Redakteur Dr. Michael Drewniok öffnet sein privates Bücherarchiv, das mittlerweile 11.000 Bände umfasst. Kommen Sie mit auf eine spannende und amüsante kleine Zeitreise, die mit viel nostalgischem Charme, skurrilen und amüsanten Anekdoten aufwartet. Willkommen bei „Dr. Drewnioks mörderische Schattenseiten“.

mehr erfahren