Der Hintermann

  • Knaur
  • Erschienen: Januar 2007
  • 3
  • London: Bantam, 2004, Titel: 'The Field of Blood', Originalsprache
  • München: Knaur, 2007, Seiten: 528, Übersetzt: Doris Styron
  • New York: Little, Brown, 2005, Originalsprache
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Jochen König
33°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2006

Das Schielen auf große Vorbilder

Denise Minas Roman Der Hintermann beginnt mit einer düsteren, harten Interpretation des Mordes an dem zweijährigen James Bulger, der 1993 von zwei Zehnjährigen entführt, über Stunden misshandelt und schließlich umgebracht wurde. Der Fall löste weltweites Entsetzen aus und führte zu langanhaltenden Diskussionen über die Strafmündigkeit von Kindern und Jugendlichen.

Mina orientiert sich fast bis ins Detail an der realen Vorlage, datiert die Tat allerdings ins Jahr 1981 und gibt den beiden kindlichen Tätern, die den dreijährigen Brian Wilcox brutal ermorden und post mortem missbrauchen, einen "Hintermann" anbei, der für den deutschen Titel des Buches sorgen darf.

Doch was so bedrückend und durchaus eindringlich startet, wird nach wenigen Seiten zu einer wenig überzeugenden Mixtur aus dezentem Entwicklungsroman mit eingebauter Journalistenschelte und schottischer Familiengeschichte, die weder durch Spannung noch Witz überzeugen kann. Paddy Meehan, 18-jähriger Spross einer katholischen Großfamilie, möchte gerne Journalistin werden, arbeitet aber noch als "Mädchen für alles" in der Redaktion der Scottish Daily News. Die dralle Maid auf Eierdiät behauptet sich durchaus wacker gegen zynische und versoffene Reporterkollegen, hadert mit ihrer Stellung innerhalb ihrer emotional äußerst besitzergreifenden Familie und bekommt die Chance zur zweifachen Emanzipation, als sie intensiv im Wilcox Fall recherchiert und ihre Hintermann-Theorie entwickelt, die erst belächelt und später blutige Wirklichkeit wird. Gleichzeitig wird sie zur Persona Non Grata für ihre Verwandtschaft, als sie herausfindet, dass einer der Kindermörder ein Cousin ihres Verlobten Sean ist.

Dummerweise erzählt sie dies einer Kollegin, die die Story begeistert ausschlachtet; was innerfamiliär Paddy angelastet wird. Doch anstatt klein beizugeben, wächst Paddy Meehan über sich hinaus und geht, wenn auch angeschlagen, als selbstbewusste Frau aus der Mörderhatz, dem Familienausschluss und dem Balgen um die Titelstory hervor. Als wäre das nicht genug Stoff für einen umfangreichen Roman, flechtet Mina in wenigen Kapiteln die Geschichte des "echten" Patrick "Paddy" Meehan ein. Seines Zeichens Kleingangster, dessen Namensgleichheit mit der Protagonistin für den ein oder anderen schalen Scherz gut ist. Meehan, ein Einbrecher und Möchtegernspion, wurde Opfer eines forcierten Justizirrtums, der ihn für einen eindeutig nicht von ihm begangenen Mord für sieben Jahre hinter Gitter brachte, bevor er auf massiven öffentlichen Druck und einer nicht mehr zu ignorierenden Gegenbeweislast begnadigt wurde.

Laut Verlagsinfo lobt Ian Rankin Denise Mina als "eine der aufregendsten Autorinnen im Spannungsgenre seit Jahren". Ich weiß nicht, ob und welche Drogen Rankin genommen hat, als er diesen Ausspruch tätigte, den vorliegenden Roman kann er allerdings kaum meinen. Denn Der Hintermann ist alles andere als ein Meisterwerk der Spannungsliteratur. Eigentlich ist er in nichts ein Meisterwerk, auch wenn das Schielen nach großen Vorbildern offensichtlich ist. Denise Mina torpediert sich ständig selbst, entweder traut sie ihrer Story nicht oder hat Angst vor der eigenen Courage. Der Mord an Brian Wilcox ist nur der Aufhänger für eine langweilige Selbstdarstellung der Protagonistin. Die Täter haben lediglich einen Kurzauftritt, der ausführende Mörder wird sogar ausschließlich auf den ersten Seiten erwähnt. Die Motivation der beiden kindlichen Killer wird bestenfalls kurz angerissen, am Ende ist keineswegs klar, wie es der "Hintermann" geschafft hat, die beiden Jungen zur Ausführung seiner Fantasien zu bringen. Ebenso wenig erschließt sich, warum acht Jahre nach einer ähnlichen Tat, die allerdings eher ein Unfall war, ein zweiter und kühl geplanter Mord verübt wird, der weitere letale Folgen nach sich zieht.

Stattdessen wird schon mal über eine halbe Seite geschildert wie in ein Brötchen gebissen wird, oder wie sich ein Finger ohne Verlobungsring anfühlt. Doch Mina ist weder James Joyce noch Marcel Proust und auch kein David Peace, der die Methode der Fragmentierung weit besser beherrscht als Frau Mina. Sie vernachlässigt die eigentliche Story zugunsten eines plumpen und wenig ergiebigen Bildungsromans. Zwar ist Paddy Meehans Abnabelung von ihrer Familie noch der spannendste Part auf einer öde langen Strecke von über 500 Seiten. Doch selbst da wird gebremst, wenn wirkliche Entwicklungen anstehen. Sei es durch die komplett überflüssigen Patrick-Meehan-Kapitel, die konsequenter ausgearbeitet einen eigenständigen Gangsterkrimi hätten ergeben können; wenn sie nicht so beiläufig, gelangweilt und fruchtlos eingeschoben worden wären. Sei es durch geistlose Erörterungen des Offensichtlichen, die das Bewältigen etlicher Seiten zur Qual werden lassen. Der eigentliche Kriminalfall hätte ebenso genug Stoff und Hintergrund für eine gelungene Umsetzung geboten, doch wird er durch Halbheiten, Desinteresse und das teilweise kreuzdämliche Verhalten Paddy Meehans zur Hanni-und-Nanni-Episode ohne Zwilling degradiert.

Gute Ansätze, verpasste Chancen, ein unausgegorenes Buch, das viel will und am Ende nichts erreicht.

Der Hintermann

Denise Mina, Knaur

Der Hintermann

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