Das Geheimnis der weißen Weihnacht

  • Klett-Cotta
  • Erschienen: September 2025
  • 1
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2025

(Un-) Heimliches Getümmel in Eis und Schnee.

In diesem Jahr verbringt Beatrice Adela Bradley, Psychologin und Amateurdetektivin, das Weihnachtsfest bei ihrem Neffen Jonathan und dessen Gattin Deborah. Das Paar lebt unweit eines Dorfes in den südenglischen Cotswolds, aber etwas abgelegen auf dem Gelände eines ehemaligen Adelssitzes. In ihrem Haus spukt es zwar nicht, doch in einem Waldstück in der Nähe soll es umgehen. „Groaning Spinney“ („Stöhnendes Dickicht“) wird es genannt, seit hier einst ein Pfarrer auf mysteriöse Weise umkam.

Diese Geschichte ist den Dorfbewohnern wohl bekannt und lebt daher auf, als noch während der Feiertage die steif gefrorene Leiche von Bill Fullalove über dem Drahtzaun hängt, der „Groaning Spinney“ umgibt. Während die Polizei an einen Unfall glaubt, geht Mrs. Bradley von Mord aus. Tatsächlich gäbe es einige Verdächtige, doch deren wacklige Alibis können nicht widerlegt werden.

Bewegung kommt in den Fall, als diverse Anwohner anonyme Briefe erhalten, die durch dreiste Anschuldigungen und eingestreute Wahrheitskörnchen für Aufregung sorgen. Mrs. Bradley nimmt vor allem den undurchsichtigen Chorleiter Robert Emming ins Visier. Doch auch Tiny, Bills Bruder und ein übler Wüstling, könnte in die Sache verwickelt sein. Weitere Verdächtige sind der Wildhüter Will North und der Fuhrmann Ed Brown, die sich ebenfalls auf dem weitläufigen Besitz herumtreiben.

Dann taucht eine bisher im Ort nie gesehene Mrs. Bill Fullalove auf, und schließlich kommt im schmelzenden Schnee eine weitere Leiche zum Vorschein. Mrs. Bradley sorgt für einige gut gewürzte Köder, die wie erhofft für Unruhe dort sorgen, wo man um das Gelingen eines sorgfältig geplanten Komplotts bangt ...

Der Blick ins Hirn des Verdächtigen

Gladys Maud Winifred Mitchell (1901-1983) gehört zu denjenigen Pionieren des (englischen) Kriminalromans, die außerhalb ihrer Heimatinsel kaum bekannt sind bzw. vergessen wurden. Dabei schrieb sie einst in einer Liga mit Agatha Christie oder Dorothy L. Sayers, und wie diese gehörte sie dem 1930 gegründeten „Detection Club“ an. Allerdings schätzte sie die von Ronald Knox, ebenfalls Club-Mitglied, zum Leitmotiv des „ehrlichen“ Kriminalromans erhobene Pflicht zum „fair play“, das dem Leser die Chance ließ, gemeinsam mit dem Detektiv zu ermitteln, überhaupt nicht. Mitchell tendierte zu einer Handlung, die unterhalten und final überraschen sollte; den Weg dorthin bestimmte allein sie als Autorin.

Hinzu kam ein ausgeprägtes Interesse am Übernatürlichen (das sie mit dem Club-Genossen John Dickson Carr - einem US-Amerikaner - teilte). Dies wird auch im hier vorgestellten Roman deutlich: Genussvoll erzählt Mitchell vom heimgesuchten „Groaning Spinney“ und verstärkt damit eine grusel-gemütliche Atmosphäre, die durch Eis und Schnee, Einsamkeit und mangelhafte Sicht geprägt ist.

Natürlich spukt es nicht wirklich, was kein Spoiler ist, denn die Autorin lässt von Anfang an durchblicken, dass ein quicklebendiger Unhold für die Leichen verantwortlich ist, die sich im Laufe der Ereignisse ansammeln. Für klaren Durchblick sorgt bereits die Hauptfigur. Mrs. Bradley ist eine durch und durch bodenständige Frau, dreifache Witwe (später geadelt), schon deutlich jenseits der Jugend und durch ihre Arbeit zusätzlich geerdet: Sie ist Psychologin mit Doktortitel und leitet eine eigene Klinik. Es dürfte für sie nicht einfach gewesen sein, diese Position zu erlangen, weshalb man sie aufgrund ihrer Erfahrungen nicht mehr einschüchtern kann.

Mehr als das Zünglein an der Waage

Tatsächlich ist Mrs. Bradley recht skrupellos: Als sich herauskristallisiert, dass der Täter aufgrund einer mangelhaften Beweislage nicht verhaftet werden kann, stellt sie eine Falle und hofft auf einen Akt der Selbstjustiz. Das bereitet ihr nicht den geringsten Seelenkummer und sorgt außerdem für jene ‚göttliche‘ Gerechtigkeit, die im klassischen Kriminalroman Todesurteil und Henker außen vor lässt. Das „Spiel“ soll ‚sauber‘ ablaufen, Mord sich auf das jeweilige Opfer beschränken.

Ihr Fachwissen setzt Mrs. Bradley erstaunlich hippokratesfern ein. Sie spielt mit den Charakteren, lenkt und manipuliert sie. Auch sonst ist sie hart im Nehmen, nimmt an der Exhumierung einer Leiche teil und hilft beim Ausgraben einiger tatrelevanter Tierkadaver. Männer, die sie vor solchen Schrecken ‚schützen‘ wollen, werden sarkastisch in ihre Schranken gewiesen. Mrs. Bradley fürchtet sich nicht vor hässlichen Wahrheiten.

Sie wirkt kaum so sympathisch wie Christies Miss Marple (die freilich ebenfalls einen eisenharten Kern aufweist). Mrs. Bradley horcht die Schar ihrer Verdächtigen nicht aus, sondern bedrängt sie und setzt Gerüchte in die Welt, um auf diese Weise stille Wasser aufzuwirbeln. Ihr Lachen ist „meckernd“, und sie neigt nicht zu schönen Worten. Mrs. Bradley geht den Dingen auf den Grund, und so kommuniziert sie auch. Dass sie ihren Neffen (und dessen schwangere Gattin) wahrhaftig liebt, will man nicht recht glauben.

Idyll mit scharfen Schatten

Obwohl Mitchell ihrer Geschichte ein ungemein genretypisches Ambiente erschafft, gibt es Unterschiede zur generellen „Cozy“-Gemütlichkeit. „Das Geheimnis der weißen Weihnacht“ spielt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Folgen keineswegs ausgeblendet werden. Männer kehrten gar nicht mehr oder versehrt heim, und immer noch sind die Grundnahrungsmittel rationiert. Knorrige Adelige glänzen durch Abwesenheit.

Auch die üblicherweise ulkigen, weil treuherzig-bescheidenen, hirnarmen Dorfleute sind realitätsnäher typisiert. Die Harmlosigkeit wirkt wie eine Maske, und immer wieder stellt sich heraus, dass es unter der Oberfläche in der Tat rumort. In dem idyllischen Dörflein gibt es systematisch lügende und mordende Zeitgenossen. Sie herauszufiltern, ist eine komplexe Aufgabe, die viel Zeit erfordert - die Handlung erstreckt sich über mehrere Monate und verlässt bald den Festtagsbereich, der sich im deutschen Titel widerspiegelt.

Es liegt nicht daran, dass die Geschichte zwischenzeitlich schwächelt. Mitchell beherrscht das Vokabular des Whodunit-Krimis perfekt, doch sie setzt gern auf Tempo und weiß durchaus, wie man ein Ereignis in die Länge ziehen kann. Das Feilen an der Story dürfte schon deshalb nicht möglich gewesen sein, weil Mitchell wie am Fließband schrieb: Allein Mrs. Bradley trat in 66 (!) zwischen 1929 und 1984 (und damit postum) erschienenen Romanen auf! Hinzu kamen weitere Romane unter Pseudonymen. Hierzulande wurde nur eines dieser Werke (1953) übersetzt. 2022 kehrte Mrs. Bradley zurück („Geheimnis am Weihnachtsabend“, 1936). „Das Geheimnis der weißen Weihnacht“ - Band 23 der Serie und erstmals 1950 veröffentlicht - ist der zweite Band im Rahmen eines Neustarts.

Mrs. Bradley im Fernsehen

In Großbritannien war Gladys Mitchell auch nach ihrem Tod bekannt genug, dass der TV-Sender BBC One eine kurze Serie nach ihren Romanen entstehen ließ. „The Mrs. Bradley Mysterys“ umfasste eine 90-minütige Pilotfolge und vier einstündige Episoden, die zwischen 1998 und 2000 ausgestrahlt wurden. In die Titelrolle schlüpfte die einstige „Emma Peel“ („The Avengers“, dt. „Mit Schirm, Charme und Melone“) Diana Rigg (1938-2020). An ihrer Seite stand als Chauffeur und Assistent George Moodey, der als „George Cuddleup“ auch in den Romanen auftritt; Neil Dudgeon mimte ihn. Die Serie spielt in den 1920er Jahren und unterhält auch durch Ausstattung und Nostalgie-Stimmung.

Fazit

Zwar beinhaltet die Geschichte sämtliche Elemente des englischen Rätsel-Krimis, unterscheidet sich jedoch von anderen, ‚typischen‘ Whodunits. Die Erzählung weist eine gewisse Flüchtigkeit auf. Dennoch ist dies eine nicht nur erfreuliche, sondern auch unterhaltsame Krimi-Wiederentdeckung.

Das Geheimnis der weißen Weihnacht

Gladys Mitchell, Klett-Cotta

Das Geheimnis der weißen Weihnacht

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