Nicht der beste Thriller der Autorin
Yrsa Sigurðardóttir stürmt mit ihren Thrillern regelmäßig die Bestsellerlisten. Bisher war das auch durchaus nachvollziehbar, denn sie verbindet gekonnt die isländische Landschaft und die Mentalität der Menschen mit den Abgründen, die auch in dieser einzigartigen Natur mit ihren liebenswerten Bewohnern lauern können. Doch mit „Nacht“ liefert die Autorin leider einen eher schwachen Thriller ab.
Ein grauenhafter Familienmord
Karl will eigentlich nur sehen, ob bei den Nachbarn alles in Ordnung ist, denn tagelang hat er nichts von ihnen gehört oder gesehen. Doch was er auf dem luxuriösen Anwesen in der Einsamkeit Islands entdeckt, lässt ihn die Winterkälte in die Knochen fahren. Die Mutter, ihre beiden Töchter und die Haushaltshilfe liegen brutal erschlagen in ihren Zimmern, vom Vater fehlt jede Spur. Die Polizei von Akranes, unterstützt vom Team aus Reykjavík, nimmt die Ermittlungen auf. War Vater Reynir der Täter?
Das gewohnte Muster wird wieder angewandt
Wie bei allen ihren Thrillern, wechselt die Autorin zwischen Rückblicken und der aktuellen Zeit. Dadurch wird nicht nur so manches offensichtlicher, auch die Spannung kann gehörig in Schwung gehalten werden. Doch das klappt dieses Mal nicht wirklich gut. Während Sigurðardóttir den Einstig in den Thriller packend hinbekommt, flacht die Spannung doch relativ schnell ab. Gerade die Rückblicke aus Sicht der Haushaltshilfe Sóldís, die eigentlich noch einmal eine Schippe drauflegen sollen, greifen zu oft auf die gleichen auslösenden Momente zurück. Immer wieder kommt jemand ins verriegelte Haus, es fehlen plötzlich Sachen und die Dunkelheit wird immer wieder thematisiert. Dennoch, Sigurðardóttir macht die Sache spannend, wenn auch nicht unbedingt packend.
Stück für Stück der Lösung näher
Die beiden Teams kommen langsam aber stetig der Lösung näher. Immer wieder sorgt eine kleine Wendung für eine neue Sicht auf die Dinge. Spuren werden gelegt, die daraus gezogenen Schlüsse müssen dann aber plötzlich wieder revidiert werden. Sóldís packt immer mehr das Grauen, denn die merkwürdigen Dinge geschehen immer öfter und Àsa und Reynir reagieren alles andere als normal. Die Leserschaft weiß zwar, wie die Bewohner auf dem Hof enden, doch nicht wer dahintersteckt und vor allem warum das alles geschieht. Dieses Gesamtkonstrukt hält die Leserschaft bei der Stange, auch wenn die einzelnen Komponenten etwas schwächeln. Doch was Sigurðardóttir als Lösung zum Schluss auftischt, macht fast schon den Eindruck, als hätte sie nicht so recht gewusst, wie sie das ganze halbwegs sinnvoll beenden soll. Die Plausibilität ist ihr dabei leider abhandengekommen, wie in so manch anderer Szene des ganzen Thrillers übrigens auch.
Charaktere und Setting punkten
Wie man es von Island-Krimis gewohnt ist, punktet das Setting gehörig. Ein luxuriöser aber sehr einsam gelegener Hof im eisigen isländischen Winter bringt schon so einiges an Stimmung rüber. Wenn es dann auch noch Nacht ist, der Wind um die Gebäude pfeift und der Schnee Spuren verwischt, kann man sich eines wohligen Fröstelns nicht erwehren. Die Einsamkeit und Einmaligkeit der isländischen Natur enttäuscht einfach nie und die Autorin weiß sie zu nutzen. Gekonnt zeichnet sie auch die Charaktere. Die Familie, die zwar reich ist, aber auch gehörig viele Probleme hat, wird mit ihren einzelnen Mitgliedern immer genauer seziert. Das Verhalten der Teenie-Tochter und der kleinen Gígja dürfte allen Eltern bekannt sein; das von Mutter Ása und Vater Reynir aber wird immer merkwürdiger und macht sie daher zu nicht durchschaubaren und interessanten Figuren. Die als Protagonistin aufgebaute Haushaltshilfe Sóldís bleibt ein bisschen die graue Maus, entwickelt sich aber dennoch zur mutigen Frau, die sich nicht alles bieten lässt.
Einen besonderen Clou ist Sigurðardóttir aber bei den Ermittlern gelungen. Das Team aus Reykjavík unterstützt die Kollegen aus Akranes und die sind keine anderen als das Ermittlerteam von Schriftstellerkollegin Eva Björg Ægisdóttir aus deren Akranes-Krimi-Reihe. Wie Yrsa Sigurðardóttir sagt, könnte man das „als Versuch bezeichnen, eine Art Marvel-Universum innerhalb der isländischen Kriminalliteratur zu schaffen“. Ein netter Versuch, der die Wirklichkeit abbildet und die spannende Frage aufwirft, ob das Reykjavík-Team auch einmal in Akranes auftauchen wird.
Týr weiß es besser
Auf jeden Fall lässt der Schluss des Thrillers aber auf eine Fortsetzung im gewohnten Umfeld der Rekjavíker hoffen, denn Tyŕ, der Neue im Team, wird als tragende Figur mit ganz eigenen Problemen gezeichnet, die schon in dem aktuellen Fall hinein spielen aber auf jeden Fall am Ende auf einen weiteren Band mit diesen Ermittlern hoffen lassen. Leider ist der Charakter Týrs zwar ganz sympathisch aber etwas zu überambitioniert geraten. Er hat immer den richtigen Riecher, findet den entscheidenden Hinweis und kann zudem sehr gut mit der etwas eigenwilligen Gerichtsmedizinerin und auch mit seiner schweigsamen Kollegin. Ein kleiner Dämpfer im Überfliegen hätte diesem Charakter ganz gut getan, aber er hat ja zum Glück noch seine privaten Probleme, die ihn dann doch zu einem Menschen machen.
Fazit
Ein durchaus spannender Thriller, den man gelesen haben kann, aber nicht unbedingt gelesen haben muss. Das Grauen in eiskalter isländischer Nacht hat Schwächen, kann aber dennoch packen und punktet vor allem durch das Setting und die gut gezeichneten Charaktere. Die in Aussicht gestellte Fortsetzung mit Ermittler Týr bietet Yrsa Sigurðardóttir die Möglichkeit es besser zu machen und einen dann ebenso durchgängig plausiblen, wie spannenden Thriller abzuliefern.
Yrsa Sigurðardóttir, btb
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