Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

  • Piper
  • Erschienen: Januar 2013
  • 19
  • Paris: Editions de Fallois, 2012, Titel: 'La Vérité sur l’affaire Harry Quebert', Originalsprache
  • München: Piper, 2013, Seiten: 736, Übersetzt: Carina von Enzenberg
Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
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Jürgen Priester
86°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2013

Adieu, allerliebste Nola

Der frankophone schweizerische Autor Joël Dicker schrieb 2012 einen Roman über einen jungen amerikanischen Schriftsteller, der nach dem Riesenerfolg seines Debütromans von einer nicht enden wollenden Schreibblockade befallen wird, sich deshalb hilfesuchend an seinen alten Freund und Mentor Harry Quebert wendet, der seinerseits in den 1970er Jahren mit einem Schlüsselroman über eine unmögliche Liebe als Schriftsteller reüssierte.

"La Vérité sur l'affaire Harry Quebert" entzückte im letzten Jahr die französische Leserschaft und konnte in Frankreich einige renommierte Literaturpreise abräumen. Der Roman wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und in noch mehr Länder verkauft. Die deutsche Fassung erschien Anfang August (2013) im Piper-Verlag mit einer beachtlichen Startauflage von 100.000 Exemplaren (Badische Zeitung). In erster Linie ist Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert nicht Kriminalroman, obwohl der Story mehrere Verbrechen zugrunde liegen und Ermittlungen einen breiten Raum einnehmen, sondern ein Roman über Schriftstellerei, Liebe, Wahrheit und Lebenslügen, aber eben auch um Mord.

Am Abend des 30. August 1975 verschwand die erst fünfzehnjährige Nola Kellergan. Zuletzt gesehen wurde sie im Haus einer betagten Witwe, die am Stadtrand des (fiktiven) Städtchens Aurora an der Atlantikküste des Bundesstaates New Hampshire wohnte. Augenscheinlich von einem unbekannten Mann gehetzt, rettete Nola sich ramponiert und blutend in das Haus der alten Dame. Was sich dort abspielte, konnte im Nachhinein nur noch unzureichend rekonstruiert werden. Die alte Frau wurde erschossen aufgefunden, von Nola fehlte jede Spur. Allein ein verdächtiges Fahrzeug wurde ergebnislos verfolgt, danach verliefen die Ermittlungen trotz eines Großaufgebots der Polizei im Sande.

Dreiunddreißig Jahre später tauchen Nolas sterbliche Überreste bei Pflanzarbeiten im Garten des ortsansässigen Schriftstellers und Dozenten Harry Quebert auf. Quasi als Grabbeigabe wird in Nolas provisorischem Grab ein Manuskript des Romans gefunden, der den Hausbesitzer damals zu einer nationalen Berühmtheit gemachte hatte. Die handschriftliche Widmung auf dem Deckblatt mit den Abschiedsworten: "Adieu, allerliebste Nola" erregt die Aufmerksamkeit der Polizei. Quebert, der im Sommer ´75 unter Verdacht stand, ein Verhältnis mit der Minderjährigen gehabt zu haben, rückt erneut ins Zentrum der Ermittlungen, wird sogar vorläufig festgenommen.

Wohl dem, der in der Not wenigstens einen guten Freund hat. Marcus Goldman, Queberts ehemaliger Student und langjähriger Freund, ist zu Besuch in New Hampshire. Nach dem Sensationserfolg seines Debütromans hat der junge Mann kein Wort mehr zu Papier gebracht. Schreibblockade nennt man das in Schriftstellerkreisen. Goldman ist ziemlich verzweifelt, sitzt ihm doch sein Verleger im Nacken. Seine letzte Hoffnung ist sein alter Mentor, der ihn einst in die Geheimnisse der Schriftstellerei einführte. Doch Quebert hat jetzt natürlich andere Sorgen. Der eh schon introvertierte Autor beteuert lediglich seine Unschuld, verhält sich ansonsten aber passiv. Es ist Goldman, der aus seiner Trance erwacht, die Initiative ergreift und parallel zu den polizeilichen Untersuchungen eigene Recherchen anstellt. Während er immer tiefer eintaucht in die Vergangenheit seines Lehrmeisters kommt ihm die Idee, drüber einen Roman zu schreiben. So entsteht "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert", der Roman im Roman.

Was geschah nun wirklich im verhängnisvollen Sommer 1975? Wie eng war das Verhältnis zwischen Quebert und der Kleinstadt-Lolita? Was führte zu ihrer Ermordung? Wer hat es getan? Keine leichte Aufgabe für Marcus Goldman. Die Erinnerungen der befragten Zeitzeugen sind verblasst und selbst nach so langer Zeit noch mit Ressentiments belastet. Da ist vieles Hörensagen, Vermutung und Spekulation. Oft trügt nur der Schein. Immer wenn Goldman glaubt, eine endgültige Wahrheit aufgedeckt zu haben, war es ganz anders. Das ist der große Reiz des Romans.

Während Marcus Goldman das Leben seines alten Freundes recherchiert und in Romanform dokumentiert, offenbart er auch seinen eigenen Werdegang. Man entdeckt viele Parallelen und Übereinstimmungen im Leben beider Schriftsteller – die relative Isolation, die Unfähigkeit, Beziehungen einzugehen, das ewige Pendeln zwischen Selbstüberschätzung, Selbstzweifel und Selbstmitleid. Beide sind mit jeweils einem Roman wohlhabend und berühmt geworden, doch ihre schriftstellerischen Fähigkeiten scheinen eher bescheiden zu sein, wie die Zeit vor und nach ihrer Erfolge zeigt. Der Ältere ist der Lehrmeister des Jüngeren, doch seine Weisheiten strotzen nur so vor Banalitäten, wie es der Leser zu Beginn eines jeden Kapitels miterleben darf.

Hätte Joël Dicker sich auf diese Protagonisten beschränkt, wäre sein Roman eine langweilige Angelegenheit geworden. Würze und Spannung bringen die Personen in beider Umfeld ins Spiel. Exemplarisch genannt seien an erster Stelle natürlich die geheimnisvolle Nola, dann aber auch der malende Chauffeur oder der fordernde Gaholowood, Ermittler der Staatspolizei.

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert ist ein großartiger Roman mit gut eingefangener Kleinstadt-Atmosphäre, tollen Typen und vielen überraschenden Wendungen. Ist der etwas zähe Beginn einmal überwunden, kommt der Krimileser voll auf seine Kosten. Ab der Mitte des Buches brennt der Autor ein Feuerwerk der Irrungen und Wirrungen ab. Da könnte manch arrivierter Krimischreiber noch etwas lernen.

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Joël Dicker, Piper

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

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