Das vergessene Kind

  • Droemer Knaur
  • Erschienen: Januar 2011
  • 7
  • London: Doubleday, 2010, Titel: 'Started early, took my dog ', Seiten: 350, Originalsprache
  • München: Droemer Knaur, 2011, Seiten: 464, Übersetzt: Anette Grube
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Jochen König
89°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2011

Vom Suchen ... und Finden?

Wer bei Das vergessene Kind einen rasanten Hochspannungsthriller erwartet, dessen Themenkomplexe irgendwo zwischen der Jagd nach dem Yorkshire Ripper und Kindesentführung, bzw., –missbrauch angesiedelt sind, der sollte jetzt bereits innehalten. Er wäre verloren bei Kate Atkinsons viertem Teil der Jackson-Brodie-Reihe.

Denn was sich da langsam öffnet, ist kein plakatives Drama in dessen Mittelpunkt zufälligerweise (oder berechnend) Kinderschicksale stehen, sondern ein vielschichtiges und weitverzweigtes Portrait einer Gruppe von Menschen, die inmitten einer scheinbar intakten Gesellschaft verloren gehen. Auf die ein oder andere Weise…

Als da wären: Die Polizistin Tracy Waterhouse, die 1975 als junge Polizistin in die Ermittlung des Yorkshire Killers, Peter Sutcliffe, involviert ist und eher zufällig mitsamt ihrer Vorgesetzten und Kollegen in den Mord an der Prostituierten Carol Braithwaite verwickelt wird. Besonders tragisch: Der vierjährige Sohn Michael verbrachte mehrere Tagen in der Wohnung neben seiner toten Mutter und behauptet steif und fest, sein Vater sei der Mörder. Bloß weiß leider niemand, wer sein Erzeuger ist. Später gerät er ins schnell rotierende Amtsgefüge und verschwindet fast spurlos. Tracy berührt dieser Fall tief und Kinder liegen ihr seitdem besonders am Herzen. Was in der Gegenwart dazu führt, dass sie einer Prostituierten völlig überraschend die Tochter (möglicherweise) abkauft und danach auf der Flucht ist.

Auf der Flucht ist auch die Schauspielerin Tillly, die in einer Krimi-Soap eine Nebenrolle spielt und der es immer schwerer fällt sich Texte, Namen und Gesichter zu merken. Sie flüchtet vor den Anzeichen der Demenz und trifft, als Ladendiebin verdächtigt, auf Jackson Brodie. Brodie, wie Tracy Ex-Polizist, flüchtet vor seiner tragischen Vergangenheit und den zahlreichen Frauen seines Lebens.

Da er Detektiv aus Leidenschaft ist, versucht er im Auftrag seiner Klientin Hope McAllister herauszubekommen, wer ihre leiblichen Eltern sind. Niemand wird sich wundern, wenn alle Spuren bei Carol Braithwaite zusammen laufen, und sämtliche Beteiligte sich mindestens einmal zufällig und danach sehr schicksalsträchtig treffen. Im Raum treibende Planeten, die, angetrieben von ihren individuellen Schicksalen, an entscheidenden Punkten kollidieren, um dann einzeln wieder ihren eigenen Lebensentwürfen nachzujagen. Die sich schlagartig ändern können. Dazwischen werden noch aus Kollegen oder sogar Freunden Feinde, und aus ehemaligen Gegnern loyale Verbündete. Und die lange verdrängte Vergangenheit schaufelt sich unaufhaltsam ihren Weg frei. Aus Verdrängung wird Wahnsinn, aus Stillhalten Tod. Die Taten und die damit verbundene Schuld bleiben und werden mit der Zeit zur drückenden Last. Täter und Opfer verlieren.

Das vergessene Kind ist ein ungewöhnliches Buch. Scheinbar abschweifend, ausschweifend und die Macht des zufälligen Aufeinandertreffens strapazierend. Mehr noch: Kate Atkinson erhebt all dies zu großer Form. Sie gibt jedem ihrer Protagonisten Raum, sich zu bewegen, zu verändern, Chancen zu ergreifen, wo andere nichts sehen, und unterzugehen, wenn man einem Status Quo folgt, der auf Lügen und Verbrechen basiert. Betroffen, hin- und hergeschoben, achtlos beiseite gestellt dabei immer wieder Kinder. Das rächt sich, wenn sie überleben, erwachsen werden und ihrer Herkunft und Geschichte bewusst werden wollen. Fußabtreter einer gleichgültigen Gesellschaft, die nur Chancen haben zu wachsen, wenn sie Menschen begegnen, die sich kümmern und sie an die Hand nehmen auf den ersten Schritten. Wie Tracy Waterhouse und Jackson Brodie. Wobei vor allem Tracy erst im Diffusen versagen muss, bevor sie eine zweite Chance erhält. Und Jackson sich mit der Frage aller Eltern quält: Wie konnte aus dem liebreizenden Nesthäkchen nur eine äußerst renitente Pubertantin werden?

Kate Atkinsons Roman ist angefüllt mit Passagen, die man auswendig lernen möchte, kluge und witzige Betrachtungen über Männer, Frauen und Kinder. Ihr gelingt es, einfache Gesten zu etwas Großem werden zu lassen, gerade weil sie nie auf Größe aus ist, sondern die Flamme eher klein hält. Doch ihr gelingt es, sie umso heißer lodern zu lassen.

 

"Okay?" fragte sie, nachdem die Banane vertilgt war, und Courtney streckte feierlich und wortlos den Daumen nach oben. Sie ging sparsam mit der Sprache um, und warum auch nicht? Wenn man klein war, glaubte man vielleicht, dass man am Ende keine Wörter mehr hatte, wenn man am Anfang alle verbrauchte.

 

Selbst die mäßige deutsche Übersetzung kann nicht ausmerzen, dass Atkinson eine ganz eigene Sprache spricht, die so klar wie poetisch ist. Alleine Jacksons imaginäre Unterhaltungen mit Julia, Ex-Freundin und Mutter seines Kindes, die zudem als reale Person am Rand in die Handlung involviert ist, beweisen eine Komik und Tiefe, die ihresgleichen sucht.

Das vergessene Kind, zwar nicht ganz falsch, aber ziemlich banal, hat übrigens einen wunderbaren Originaltitel: Started Early, Took My Dog. So beginnt der Blues, den Kate Atkinson singt. Und wie sie ihn singt…

PS.: Anscheinend beschäftigt viele Rezipienten, ob Das vergessene Kind ein Kriminalroman ist oder nicht. Es kommen Polizisten vor, Privatdetektive, Entführung, Mord, Ladendiebstahl – alles was des Krimi-Aficionados Herz begehrt. Die Morde werden nicht unbedingt aufgeklärt, die Polizisten sind nicht immer das, was sie scheinen, und einer der Detektive hat eigentlich gekündigt. Mist.

Wir haben es mit großartiger Literatur zu tun, die natürlich als Kriminalroman funktioniert. Kann man also so lesen. Muss man aber nicht.

PPS.: Dies ist eine jener Rezensionen, bei denen man immer das Gefühl hat, irgendetwas vergessen haben. Stimmt auch und liegt daran, dass man Seiten lang zitieren könnte, Nebenstränge aufgreifen, Figuren portraitieren, die nur kurz und doch prägnant erwähnt und beschrieben werden. Um beim Kind zu bleiben: Ein riesiger Sandkasten, in dem sich Förmchen um Förmchen verbirgt, mit denen man die feinsten Sandkuchen backen kann. Sie schmecken auch noch.

Das vergessene Kind

Kate Atkinson, Droemer Knaur

Das vergessene Kind

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