Splitter im Auge

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 2011
  • 8
  • München: Goldmann, 2011, Seiten: 320, Originalsprache
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Dieter Paul Rudolph
91°1001

Krimi-Couch Rezension vonMär 2011

Das Ich ist ein anderer

Die Kriminalromane Norbert Horsts sind Markenprodukte. Unverwechselbar die Sprache, originell die Erzählperspektive, stabile Konstruktionen, die dennoch ihre Labilität nicht leugnen wollen, niemals so enden, dass mit dem letzten Wort des Autors auch der letzte Gedanke des Lesers stürbe. Zugegeben: Das ist nicht jedermanns Sache, wie man auch den Leserkommentaren zu den ersten vier Romanen Horsts entnehmen kann, aber auch das gehört zur "Marke", die sich erfolgreich gegen die Forderungen eines reinen Krimikonsums wehrt und Sprache nicht unter das Diktat von Duden und Deutschaufsatz stellt.

Mit seinem neuen Krimi Splitter im Auge allerdings scheint sich der Autor daran zu machen, diese Marke beinahe genüsslich zu zerstören. Anders als in den Konstantin-Kirchenberg-Fällen wird uns die Geschichte nicht aus dem auch grammatisch sehr eigenen Blickwinkel des Protagonisten erzählt. Horst hat die beliebte Form "3. Person Singular, Vergangenheit" gewählt, auch die Story vereint in ihren Grundzügen vieles von dem, was man als Standard, um nicht zu sagen als Versatzstücke in zahlreichen Allerweltskrimis besichtigen kann. Der Held Thomas Adam, genannt "Steiger", ist ein karrieremäßig gescheiterter Polizist, bei dem auch privat nicht alles zum Besten steht, ein Einzelgänger, der Disziplinarverfahren wie Briefmarken sammelt. Er verbeißt sich in einen Fall, der mit der Verurteilung des Täters nach klarer Beweislage als abgeschlossen gelten kann. Ein afrikanischer Asylbewerber hat ein Mädchen vergewaltigt und ermordet, die Leiche über und über mit eindeutigen genetischen Spuren bedeckt, erinnern kann er sich angeblich an nichts. Durch einen Zufall findet Adam heraus, dass der Tathergang so, wie er hätte sein müssen, nicht gewesen sein kann. Gegen die Widerstände von Vorgesetzten und Kollegen folgt er dieser Spur, stößt auf weitere Ungereimtheiten und ältere Mordfälle, die dem untersuchten verblüffend ähneln.

Das alles klingt nicht wirklich originell. Natürlich wird uns der Autor, als Polizeibeamter früher selbst in Mordkommissionen aktiv, authentische Einblicke in die Arbeit der Ermittler gewähren, das hat er immer getan. Ich gebe aber zu, dass ich das Buch wohl nicht gelesen hätte, wäre es von jemand anderem als Norbert Horst geschrieben worden, einem der raren Autoren, für die Sprache wichtig ist, ja mehr noch: Für die sich in der Sprache das Erzählte erst offenbart. Wer darauf als Leserin / Leser keinen besonderen Wert legt eine durchaus legitime Einstellung -, wird bei Splitter im Auge kaum auf seine Kosten kommen. Und das Wichtigste verpassen.

Man muss jetzt ein paar Worte über die Erzählperspektive verlieren. Die 3. Person gilt allgemein und zurecht als eine Möglichkeit, die Story aus einer höheren Warte zu entwickeln. Der Autor erzählt schließlich, er kann die Personen umfassender charakterisieren, sie analysieren, beurteilen, ist nicht wie in der Ich-Form auf deren eigenes begrenztes Vokabular und ihren intellektuellen Horizont angewiesen. Doch genau von diesen Möglichkeiten macht Horst keinen Gebrauch. Es ist so, als erzählte Adam seine Geschichte in eigenen Worten und Gedanken, seltsam distanziert dennoch, auf einen Fremden, der "Er" sagt, verlagert. Rein technisch betrachtet, ist dies eine seltene Symbiose von Autor und Protagonist und gar nicht so verschieden von Horsts radikaler Ich-Form in der vorhergehenden Romanen. Man braucht nicht bis zur Seite 223, um dies zu erkennen:

 

 "(...) aber es waren einfach zu viele Einzigartigkeiten jetzt benutzte er dieses verdammte Wort schon selbst beim Denken -, um sie zu ignorieren."

 

Adams Gedanken werden zur Sprache des Autors, der aber noch einen entscheidenden Schritt weitergeht. Die Er-Form nämlich erlaubt es ihm, den Erzählfokus von Adam wegzudrehen und auf andere Personen der Handlung zu fixieren, auf den Täter vor allem, aber auch spotartig auf Kollegen, auf Nebenpersonal. Das öffnet eine neue Dimension, die vor allem in der geheimen Verbindung von Ermittler und Täter wichtig wird. Denn beide haben seit ihrer Kindheit traumatische Probleme mit Vater und Bruder resp. der bei einem Unfall verstorbenen Schwester. Zum offensichtlichen Handlungsfaden der Tataufklärung gesellt sich somit ein zweiter, nicht weniger spannender. Gerade die stilistische Distanz des "Er" erlaubt es, die inneren biografischen Abläufe von Ermittler und Täter zueinander in Verbindung zu setzen.

Beide, Täter wie Ermittler, sind psychisch vergleichbar disponiert, doch während sich bei Adam das alltägliche normal-neurotische Leben aus diesem "Defekt" entwickelt, wuchert es beim Täter ins Monströse, das soviel sei verraten schließlich noch monströser wird und die Story in eine weitere psychotische Gedankenwelt vorstoßen lässt. Mit den üblichen psychologischen Binsenweisheiten, wie sie uns der Krimi als schaurige Dutzendware vermittelt, hat das nichts zu tun. Während Horst im Rahmen der bodenständigen Logik eines soliden Polizeiromans den Fall entwickelt, rollt er gleichzeitig das mit keiner wohlfeilen Logik fassbare Szenario psychischer Prozesse aus. Manchmal sind sich Adam und der Täter ganz nahe in ihren Obsessionen, dann wieder weit voneinander entfernt. Für den Ermittler wird der Fall zu einer Reise der Versöhnung mit der Vergangenheit und dem Vater, für den Täter zu einem Ende mit Schrecken. Wer hier "ich" ist und wer "er" letztlich lässt sich das nicht entscheiden.

Hier wäre der allwissende, alles erklärende Autor völlig fehl am Platz und hier schließt sich der Kreis. Horsts Wahl des "Er", das eigentlich ein "Ich" ist, ermöglicht diese komplexe, aber einzig folgerichtige Konstruktion. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Sprache entscheidend ist für die Glaubwürdigkeit des Inhalts hier ist er.

Diese Spielart des Krimis braucht den Leser, die Leserin als Co-Autor. Nichts also wird mit schnellem Über-die-Seiten-huschen, nichts mit der üblichen vollständigen Erklärung dessen, was da geschrieben steht. Dieser Text ist, scheuen wir das Wort nicht, großartige Literatur für denkende Menschen. Er endet damit, dass die LeserInnen mehr wissen als die Polizei, womit Norbert Horst das aus den Kirchenberg-Krimis bekannte Muster beibehält, ein paar kleine Fragezeichen übrig zu lassen. Sie stehen am Ende eines vielschichtigen Romans, der mit stilistischen Mitteln im besten Sinne die Ereignisse beschreibt, der Versuchung standhält, Interpretationen vorzugeben und letztlich ein Musterbeispiel intelligenter Kriminalliteratur ist, die nicht mit Botschaften protzt, sondern ihre Leserschaft ernstnimmt. Bisher der Höhepunkt des Jahres in Sachen Krimi.

Splitter im Auge

Norbert Horst, Goldmann

Splitter im Auge

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