100 Prozent tot. Das Phantom vom Grunewald

  • Droste
  • Erschienen: Januar 2010
  • 3
  • Düsseldorf: Droste, 2010, Seiten: 320, Originalsprache
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Jochen König
82°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2011

Realität beißt

Stephan Harbort arbeitet als Kriminalist und Autor und gilt als einer der führenden deutschen Experten "für Serienmorde und Täterprofile”. So sehen es u.a. die Süddeutsche Zeitung und Wikipedia. Vor allem aber ist er einer der populärsten deutschsprachigen Zunft. Die Liste, der von ihm verfassten Bücher ist lang, es gibt kaum einen deutsch(sprachig)en Serienmörder, dem er sich nicht gewidmet hat.

Misstrauische Zeitgenossen vermuten dann gerne einen Sprung auf populistische Züge und eine Absage an die Wissenschaft. Die Titel der Bücher betonen diesen Eindruck eher, als dass sie ihn zu vermeiden suchen. Aber machen wir uns nichts vor: ein Buch, das Der Hannibal-Faktor heißt, verkauft sich besser als eine wissenschaftliche Studie mit kryptischem Titel und unzähligen Fußnoten im Text. Und auch da müssen wir keinen Hehl draus machen: Harbort schreibt für eine breite Leserschaft und nicht explizit für ein wissenschaftliches Fachpublikum. Wobei er dieses auch nicht ausschließt…

Auch sein aktuelles Werk mit dem martialischen Titel 100 Prozent tot – Das Phantom vom Grunewald brilliert in Werbung und Aufmachung nicht gerade durch Zurückhaltung.

Glücklicherweise verfällt der Text nicht in eine ähnliche marktschreierische Pose. Harbort schreibt unspektakulär, aber zweckmäßig und verständlich, lässt graphische Details nicht aus, ohne sie über die Maßen zu beanspruchen. Verantwortlich für Vergewaltigung, Folter und mehrfachen Mord ist Günther Jacoby, das "Phantom vom Grunewald".

Harbort lernt ihn als Insassen des "Krankenhauses für den Maßregelvollzug" in Berlin kennen, 25 Jahre nachdem er zwei norwegische Schülerinnen auf äußerst brutale Weise tötete und 23 Jahre nach seiner Festnahme. Verhaftet wurde Jacoby 1984 nicht etwa, weil man ihm die Morde nachweisen konnte, sondern aufgrund einer später begangenen Vergewaltigung, in deren Verlauf er dem Opfer zu viel von sich preisgab. Während der Verhöre keimte in den anwesenden Polizisten der Verdacht auf, dass sie mit Jacoby nicht nur einen vielfachen Vergewaltiger verhaftet haben könnten, sondern den Verantwortlichen für jenen aufsehenerregenden Doppelmord im Grunewald, der nicht nur in Berlin seit zwei Jahren für Gesprächsstoff und Verunsicherung sorgte. Zur Überraschung der Ermittler dauerte es nicht lange, bis Jacoby ein Geständnis ablegte. Nicht nur das: er offenbarte einen dritten Mord. Der die Polizei in leise Verzweiflung trieb; denn eine Leiche wurde nie gefunden. Eine spätere Verurteilung basierte dann tatsächlich allein auf Günther Jacobys detaillierter Aussage.

Auch wenn hierbei der Eindruck entsteht, Jacoby wäre fast froh gewesen, erwischt zu werden, um sich die abscheulichen Verbrechen von der Seele reden zu können – er bleibt bei allen Offenbarungen doch immer auch intelligenter Taktiker. Denn er setzt alles daran in eine psychiatrische Klinik eingewiesen zu werden und nicht im Gefängnis zu landen, was er als Todesurteil verstanden hätte.

Stephan Harbort hat für sein Buch die Gerichtsprotokolle gelesen, Ermittlungsakten eingesehen und sich viele Stunden mit Günther Jacoby unterhalten.

100 Prozent tot gliedert sich - nach einem kurzen Prolog, der Jacoby kurz vor dem Mord an den beiden Norwegerinnen zeigt - in einen biographischen Abriss, der Kindheit, Jugend und erste eigenständige Schritte als Erwachsener in Berlin zeigt; die mühseligen Ermittlungen nach dem Doppelmord bis hin zu den Verhören Jacobys und einen abschließenden Interviewteil, in dem Harbort 2009 Jacoby noch einmal nach Erinnerungen, Motivation und Selbsteinschätzung befragt. Fünfzig komprimierte Seiten, gefiltert aus über 31 Interview-Stunden und zusätzlichen Telefonaten.

Natürlich ergibt das keinen Höllentrip in die Innenansicht eines Serienkillers, aber eine interessante und spannende Annäherung durchaus. Denn Harbort bemerkt die Brüche, das Herumdrucksen und die manipulativen Versuche in Jacobys Antworten und teilt sie dem Leser mit. Dadurch entsteht eine gewisse Ambivalenz, die die Offenheit Jacobys anerkennt, aber gleichzeitig betont, dass seine Biographie nicht exemplarisch ist und dass sich hinter Jacobys Schweigen und Ablenkungen noch schlimmeres verbergen könnte.

Nicht nur Fans literarischer Überhöhungen des Phänomens "Serienkiller" sei 100 Prozent tot wärmstens ans Herz gelegt. Denn hier gibt es ihn, den überdurchschnittlich intelligenten, phantasiebegabten Menschen mit niedriger moralischer Hemmschwelle, der sich seinen sexuellen Begierden und Machtphantasien hingibt, egal, welchen Preis sie einfordern. Das eigene Leben, aber vor allem für die Opfer kaum bezahlbar, deren erlittene Qualen Harbort und Jacoby mit erschreckender Deutlichkeit nachvollziehen. Dabei gelingt es Harbort, den Menschen hinter der Bestie sichtbar zu halten, ohne die skrupellose Lust an Zerstörung und der eigenen Befriedigung auszusparen. Jacoby ist eben keine dieser literarischen Kunstfiguren, die ihre Opfer kunstvoll drapieren, oder kopfüber an Kirchentüren nageln. Harbort entwirft das Bild eines Menschen, der sich seiner finsteren Obsessionen bewusst ist, der seine Opfer zu Objekten degradiert, damit sie sein Gewissen nicht über die Maßen belasten.

Nach einem Vierteljahrhundert unter Verschluss präsentiert sich Jacoby als Mensch, dessen Intellekt die Abartigkeit seiner Taten begreift (und vielleicht sogar bereut), der sich seiner Gefühlswelt aber immer noch nicht so sicher ist, dass er keine Gefahr für seine Mitmenschen mehr darstellt. Vom empfindsamen Mitleiden an den Qualen seiner (möglichen?) Opfer ganz zu schweigen. Deshalb fühlt er sich im "Krankenhaus des Maßregelvollzugs" adäquat aufgehoben.

Harbort beschreibt diesen Menschen und seine Taten genau, aber nicht pedantisch; er vermeidet emotionale Hysterie, ohne die Erschütterung auszusparen, die Jacobys Morde und Vergewaltigungen bei Angehörigen, Freunden und überlebendenden Betroffenen ausgelöst haben.

 

Ja, für die Opfer habe ich kein Gefühl. Wenn ich jetzt Gefühle hätte, hätte ich damals auch Gefühle gehabt, und dann hätte ich diese Scheiße nicht gemacht. Da besteht für mich ein klarer Zusammenhang. Auch damals, während der Vernehmungen, habe ich immer nur um mich selbst geweint. Es mag moralisch scheiße sein, aber es ist so.

 

100 Prozent tot. Das Phantom vom Grunewald

Stephan Harbort, Droste

100 Prozent tot. Das Phantom vom Grunewald

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