Nebenan ein Mädchen

  • Seeling
  • Erschienen: Januar 2008
  • 1
  • New York: Low Fidelity Press, 2004, Titel: 'Next door lived a girl', Seiten: 110, Originalsprache
  • Frankfurt am Main: Seeling, 2008, Seiten: 111
  • München: Heyne, 2010, Seiten: 204
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Dieter Paul Rudolph
86°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2010

Alles ist Sex

Ein schmales Buch mit einer ungewöhnlichen Geschichte. Bereits 2004 war Next Door Lived A Girl des in Los Angeles lebenden Deutschen Stefan Kiesbye in den USA erschienen, bevor 2008 der kleine Frankfurter Verlag Jens Seeling das schmale Werk (111 Seiten) auch hierzulande unter dem Titel Nebenan ein Mädchen veröffentlichte. Und durchaus mit Erfolg. Positive Rezensionen allerorten, gar auf der KrimiWelt-Bestenliste platziert – nicht schlecht für einen "Roman", der eher eine Novelle ist und so gar nicht ins Krimigenre zu passen scheint.

Held der Geschichte ist Moritz, ein Junge in der Blüte seiner Pubertät. Es ist die zweite Hälfte der Siebziger Jahre, als man auch in norddeutschen Kleinstädten wahlweise Bay City Rollers oder Barclay James Harvest hört. Die Gegend ist wohl eher trostlos monoton. Es gibt eine Süßwarenfabrik, eine Gummifabrik, einen Schlachthof, Moritz ist Mitglied der "Dachse" und geht mit Gleichaltrigen auf Schatzsuche, die Konkurrenz heißt "die Füchse" – und manchmal gibt es gegenseitig eins in die Fresse.

Aber klar: Vor allem dreht sich die Welt um Sex. Moritz liebt das Nachbarmädchen Anna, aber ob die das titelgebende Mädchen von nebenan ist? Nichts ist so wie es scheint, schon gar nicht die Liebe, die in Kiesbyes Buch allgegenwärtig ist, eine schwülstig-inzestiöse Stimmung, in der Mama den Penis ihres Sohnes begutachtet, der wiederum mit seiner Schwester schläft, wenn er nicht mit seinen Kumpels an Schlafzimmerfenstern spannt.

Und dann passiert etwas. Es gibt noch ein Mädchen von nebenan, das bisher keiner der Jungs gekannt hat, obwohl es seit etwa 11 Jahren dort lebt. Lebt? Vegetiert wäre das passendere Wort. Jedenfalls nehmen sich die Dachse des Mädchens an und das Unglück nimmt seinen Lauf.

Nebenan ein Mädchen wird aus der Perspektive des kleinen Moritz erzählt, in einer eher beschreibenden als erklärenden Sprache, wobei "das Zeittypische" zwar unüberlesbar ist, mehr aber noch in der permanenten Sexualisierung steckt. Das mag einige Leserinnen und Leser abschrecken, ist in seiner Konsequenz jedoch schlüssig. Moritz taumelt zwischen der Kindheit unschuldiger Jugendstreiche und einem in beständiger Wiederholung und Verdrängung dahinsiechenden Erwachsenenleben, das sich ihm nur in sexuellen Bildern und Metaphern erschließt. Die Tragödien dahinter lassen sich nur erahnen, wenn die Jungs etwa regelmäßig dem Geschlechtsakt eines Ehepaares zuschauen, der zur Chronologie einer Katastrophe wird. Nichts wird umständlich "auserzählt", alles lässt sich nur erahnen, die ganze Hilflosigkeit, die ganze Vermurkstheit, die sich Moritz als Sexualität kaschiert, offenbart.

Am Ende verlassen wir den aus seiner Kindheit gerissenen Moritz, den es in die "wirkliche Welt" verschlagen hat, von der wir fast befürchten müssen, es könnte unsere eigene sein. Die Fiktion ist vorbei, wir lesen in unserer eigenen Biografie weiter.

Nein, das ist kein Krimi nach irgend welchen Gesetzen des Genres. Er beginnt nicht mit einem Verbrechen, nichts wird aufgeklärt, kein Ermittler schnüffelt herum, kein Schurke erhält seine gerechte Strafe. Nebenan ein Mädchen ist ein einziges Verbrechen, voller Ungeheuerlichkeiten, die sehr bieder daherkommen und irgendwann eskalieren. Lakonisch erzählt, sehr sparsam auch und gerade deshalb eindringlich. Etwas "anders" halt.

Nebenan ein Mädchen

Stefan Kiesbye, Seeling

Nebenan ein Mädchen

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